Читать книгу Annabelle - Frederike Gillmann - Страница 13
Kapitel 9
ОглавлениеSo fuhren wir um zwanzig nach zwölf Richtung Flensburg. Für mich war das fast schon zu spät – was wäre, wenn wir in einen Stau gerieten? - ,aber meine Mutter hatte die Ruhe weg und natürlich kamen wir überpünktlich an. Ich stellte mir Herrn Stattmann untersetzt und etwa Mitte fünfzig vor und war deswegen umso überraschter, als er sich als groß, schlank und gutaussehend und Mitte dreißig herausstellte. Er begrüßte uns in seiner Kanzlei und ich konnte nicht umhin, meine Augen von ihm zu lassen. Auch meine Mutter schien das zu bemerken und ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie mir zuzwinkerte.
„Meine Damen, ich spreche Ihnen mein herzliches Beileid für den Verlust von Annabelle Meyer aus. Sie war lange Zeit meine Mandantin und es ist mir eine Ehre, ihren letzten Willen vertreten zu können“, sagte Herr Stattmann mit einer beruhigenden Stimme.
„Danke, das ist sehr freundlich von ihnen“, sagte meine Mutter. Herr Stattmann fuhr fort: „Wie mir meine Klientin anvertraut hat, müssen Sie sich bezüglich ihrer Bestattung um nichts mehr kümmern. Sie müssten nur mit dem zuständigen Bestatter persönlich reden, wann die Zeremonie abgehalten werden soll. Meine Mandantin wünschte eine Seebestattung, für die sie bereits alles organisiert hat.“ Ich hörte ein leichtes Aufatmen meiner Mutter. Das war ja ihre größte Sorge gewesen, sich um alles kümmern zu müssen. Trotzdem sah ich immer noch eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn.
„Das ist ja alles sehr schön“, sagte sie. „Aber woher wusste meine Schwester das denn alles? Sie war doch jünger als ich.“ Herr Stattmann schaute etwas überrascht.
„Hat sie Ihnen das denn nicht gesagt? Ihre Schwester Annabelle Meyer hatte Krebs.“ Nun musste meine Mutter einen Aufschrei unterdrücken. Diese Information überraschte auch mich und ich senkte den Blick. Auch Herr Stattmann schaute nun betreten drein. Offenbar hatte meine Tante ihn nicht über unsere zerrütteten Familienverhältnisse informiert. „Außerdem hat Frau Meyer auch ein Testament hinterlassen, in dem sowohl Sie beide als auch ein Herr Thomas Meyer – ich nehme an, ein weiterer Verwandter – bedacht sind.“
„Ja, das ist mein Bruder“, sagte meine Mutter. „Ich werde umgehend den Bestatter anrufen und fragen, wann es möglich ist, die Beisetzung abzuhalten. Wann können wir die Testamentseröffnung abhalten?“
„Ich würde vorschlagen, sobald ihre Schwester bestattet ist“, sagte Herr Stattmann. Meine Mutter nickte.
„Gut.“
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte er sanft.
„Ich denke nicht, wir melden uns“, sagte meine Mutter und war im Begriff, aufzustehen.
„In Ordnung. Ich möchte Ihnen noch einmal mein herzliches Beileid für Ihren Verlust übermitteln“, sagte Herr Stattmann, „Sie sollten wissen, dass Ihre Schwester es nicht verdient hat, so jung zu sterben, wenn es überhaupt jemand verdient hat.“
„Danke“, sagte ich nun. „Wir wissen das sehr zu schätzen. Nicht wahr, Mama?“ Jetzt war es an meiner Mutter, die nur nicken konnte.
„Auf Wiedersehen“, sagte der Notar, als er uns zur Tür begleitet hatte, und schüttelte unsere Hände. Dabei konnte ich nicht widerstehen und musste noch einmal in seine tiefblauen Augen schauen. Und ich hatte das Gefühl er schaute zurück und lächelte dabei. Dann verließen wir die Kanzlei.
Draußen auf der Straße sagten wir erst einmal eine Weile lang nichts. Nach einem gefühlt endlosen Schweigen sagte meine Mutter dann: „Der sah ja echt gut aus.“ Und ich sah ihr leichtes Grinsen im Gesicht.
„Ja, schon, aber ist der nicht ein wenig jung für dich?“
„Nicht für mich – für dich“, sagte sie als wäre ich schwer von Begriff.
„Für mich?“, aber ich habe doch Alex.
„Ich habe doch gesehen, wie du ihn angesehen hast. Liebes, ich werde zwar langsam alt, aber meine Sinne funktionieren noch ganz gut.“
„Ja, er sieht nicht schlecht aus und ich war ehrlich gesagt ein klein wenig überrascht, wie jung er noch ist. Vielleicht war er ja der Liebhaber von Tante Annabelle?!“ Ich kicherte bei der Vorstellung. „Nein, ich traue meiner Schwester ja viel zu, aber das nicht.“
„Was heißt, du traust ihr viel zu?“, fragte ich neugierig. „Ach, das sagt man doch so“, antwortete sie, aber ich glaubte ihr nicht ganz. „Hast du Lust auf einen Kaffee?“
„Ja, gerne.“ Wir schlenderten ein wenig durch die Straßen Flensburgs, schauten ein wenig in die Schaufenster, die schon voll mit Weihnachtsschmuck dekoriert waren und suchten und ein kleines gemütliches Kaffee. Als wir uns gesetzt und unsere Bestellung aufgegeben hatten, sagte meine Mutter wieder: „Ich kann verstehen, warum Annabelle an die See gezogen ist. Sie war immer schon ein Wassermensch gewesen. Sie hasste das Wandern in den Bergen.“
„Kannst du dir vorstellen, warum sie weggegangen ist?“, fragte ich noch einmal.
„Ich hatte dir doch schon gesagt, dass wir uns fürchterlich gestritten haben. Nicht nur sie und ich, auch mit unseren Eltern. Den Grund weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube, sie wollte einfach frei sein und ihr eigenes Ding machen.“
„Aber hattest du nicht mal gesagt, sie wäre kaum 17 Jahre alt gewesen?“, fragte ich skeptisch.
„Ja, und das war genau der Auslöser. Sie wollte etwas anderes als meine Eltern. Sie war ein spätes Kind, 13 Jahre jünger als ich und acht Jahre jünger als Thomas – ich muss ihn übrigens noch anrufen. Ich glaube, die Vorstellungen unserer Eltern waren zu altmodisch, vielleicht so ein spätpubertäres Verhalten und dann hat sie eines Tages ihre Koffer gepackt und ist abgehauen. Sie hat ab und zu mal geschrieben, aber seit diesem Vorfall vor dreißig Jahren hatten wir kaum Kontakt.“ Das alles hörte sich zumindest plausibel an. „Wir alle dachten, sie würde irgendwann zurückkommen, wenn sie Geld brauchte oder so, aber anscheinend schien sie sich ganz gut durchzuschlagen. Sie hatte halt schon immer einen starken Charakter.“ Ich nippte stumm an meinem Latte Macchiato. „Ich habe mich auch manchmal gefragt, ob sie nicht doch alles richtig gemacht hat. Sie hat sich nicht den damaligen Zwängen unterworfen. Im Gegensatz zu mir, die das gemacht hat, was ihre Eltern wollten. Ich wäre auch ganz gerne studieren gegangen, aber Oma und Opa meinten, ich sollte doch lieber eine solide Ausbildung machen. Ach, wie habe ich das manchmal bereut.“ Meine Mutter schaute tatsächlich etwas traurig aus. „Ich habe dich deswegen auch so erzogen, weil ich denke, dass es nichts bringt, seinen Kindern alles zu verbieten, denn wenn sie es wirklich wollen, dann schaffen sie das auch. Wie gerne hätte ich doch öfter mit Annabelle gesprochen. Aber das weiß man ja alles immer erst hinterher, wenn es schon zu spät ist.“
„Wir alle machen Fehler und liegt es nicht in der Natur der Dinge, dass man alles immer bereut, wenn es schon zu spät ist?“
„Weise Worte, mein Kind“, sagte meine Mutter und lächelte. „Also, was ist mit diesem Herrn Stattmann. Wäre er nicht ungefähr dein Alter?“
„Mama!“, sagte ich empört.
„Was denn?“ „Ich bin vergeben. An Alex.“
„Aber du bist nicht glücklich.“ Das war eine Feststellung.
„Ich bin sehr wohl glücklich mit ihm. Wir versuchen jetzt sogar ein Kind zu bekommen.“ Meine Mutter schaute überrascht.
„Was denn?“, fragte ich, als ich ihren Blick bemerkte. „Du hast mir doch so sehr damit in den Ohren gelegen.“
„Ja, weil ich mich über Enkel freue, aber ich sehe doch, dass das Feuer in deinen Augen erloschen ist, wenn du von ihm erzählst. Vor ein paar Jahren war das noch anders.“
„Da waren wir ja auch noch frisch verliebt“, erwiderte ich.
„Das hat damit nichts zu tun. Stefan und ich sind nun auch schon eine ganze Weile zusammen, wir lieben uns aber immer noch wie am ersten Tag.“ Ich konnte das kaum glauben.
„Aber ihr habt euch doch auch sicher mal gestritten“, meinte ich etwas skeptisch.
„Das kommt in den besten Beziehungen mal vor, aber wir haben uns wieder aufgerafft.“
„Bei mir und Alex ist es bestimmt das Gleiche“, meinte ich sicher.
„Schatz, ich will dir deine Hoffnungen nicht nehmen, aber ich habe da ein anderes Gefühl.“
„Willst du mir jetzt Alex ausreden, oder was?“, fragte ich leicht aggressiv. „Vor ein paar Tagen hast du mir noch mit Kindern in den Ohren gelegen und jetzt versucht du, uns auseinander zu bringen? Ich verstehe das nicht ganz, Mama. Tut mir leid.“
Ich wollte nicht laut werden, merkte aber ein wenig zu spät, dass ich es doch geworden war.
„Das tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich würde es dir gerne erklären…“
„Ich bin ganz Ohr“, meinte ich immer noch etwas aufgebracht. „Nimm es mir nicht übel, aber du und Alex, ihr seid euch zu ähnlich, als dass ihr zusammenpassen würdet. Glaub mir. Er ist Koch und hat kaum Zeit und du arbeitest dich auch fast zu Tode.“ Ich schnaubte empört, als sie das sagte. „Außerdem merke ich doch, wie er dir nicht guttut.“
„Was soll das denn heißen? Er war für mich an jenem Abend da, als du mich angerufen hast, um mir zu sagen, dass Annabelle tot ist.“
„Schatz, das war ein Abend, an dem er mal frei hatte“, warf sie ein.
„Und er wollte sich frei nehmen, um mehr Zeit mit mir zu verbringen“, argumentierte ich.
„Das ist ja alles schön und gut, aber das wird nicht gutgehen. Durch ihn zwingst du dich immer weiter zu Höchstleistungen, obwohl dir das nicht guttut. Nur um ihm zu gefallen.“
„Das stimmt doch gar nicht“, erwiderte ich, hatte aber gleichzeitig wieder meine Zweifel, denn ich merkte so langsam, dass es doch einen wahren Kern in dem gab, was meine Mutter sagte. Sie schien es auch an meinem Gesichtsausdruck zu merken, denn immer, wenn ich nachdachte, entwickelte sich eine Denkfalte zwischen meinen Augenbrauen. Ich sah, wie sie triumphierend lächelte.
„Trotzdem“, startete ich einen letzten Versuch. „Selbst, wenn: Herr Stattmann ist bestimmt schon vergeben.“
„Das ließe sich ja herausfinden“, grinste meine Mutter.
„Was hast du vor?“, fragte ich skeptisch.
„Och, fragen kostet ja nichts.“
„Ja, aber man muss ja nicht gleich in die Vollen gehen“, meinte ich. Ich nahm den letzten Schluck meines Getränks.
„Wollen wir los?“, fragte ich mit aufbrecherischer Laune.
„Ach, warum bist du denn immer so in Eile? Du brauchst wirklich mal ne längere Auszeit.“
„Ich kann auch allein vorfahren und dich später abholen“, meinte ich.
„Nein, nein, ich komme schon.“ Wir verließen das Café und gingen zum Auto.