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Kapitel 2

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Um Punkt fünfzehn Uhr dreißig parkte ich meinen kleinen Fiat 500 auf dem Grundstück meiner Eltern, das sich etwas außerhalb der Stadt befand. Hier war es ziemlich ruhig, aber auch manchmal etwas einsam, wie ich fand. Trotzdem kam ich gerne hierher, denn es erinnerte mich an meine Kindheit. Das Grundstück war groß und bot viel Platz zum Spielen. Früher war es mal ein altes Bauernhaus, aber Tiere gab es schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Die Scheunen boten tolle Gelegenheiten zum Verstecken spielen. Lilly, die blonde Labradorhündin, begrüßte mich schwanzwedelnd und ich streichelte ihr über den Rücken, während sie zwischen meinen Beinen hin- und hersprang. „Na? Wer hat dich denn rausgelassen?“, sprach ich mit dem Hund. Ich ging zur Tür und klingelte. Meine Mutter machte sie auf und sagte sogleich zum Hund: „Lilly, wo warst du denn schon wieder? Hast du wieder gebuddelt, oder was?“ und zu mir: „Schön, dass du da bist Frieda. Komm, der Thomas ist auch da.“

Thomas war mein Onkel und dementsprechend der Bruder meiner Mutter. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo der kleine Kaffeetisch schon gedeckt war.

„Thomas!“, rief meine Mutter. „Frieda ist da!“ Ich hörte leicht schlurfende Schritte und schon sah ich die große und leicht vornübergebeugte Statur meines Onkels in der Tür stehen. „Dass man dich auch noch mal zu sehen bekommt“, meinte ich mit einem Lächeln und umarmte ihn. „Wie geht es dir?“

„Den Umständen entsprechend gut“, meinte er, aber auch er konnte die Trauer in seiner Stimme nicht verbergen.

„Setzt euch doch“, mischte sich nun meine Mutter wieder ein. „Wollt ihr Kuchen? Ich habe extra welchen gebacken.“

„Gleich, Mama. Jetzt lass mich doch erst einmal ankommen. Setz du dich doch auch erst einmal hin.“ Meine Mutter konnte fast noch schlechter stillsitzen als ich. Zumindest schien das in der Familie zu liegen. Ich setzte mich hin und bediente mich mit der Kaffeekanne.

„Möchtest du auch welchen?“, fragte ich an Thomas gewandt.

„Gerne.“

„Mama?“

„Ich nehme mir gleich welchen!“, rief sie aus der Küche, wo sie wieder hin verschwunden war. „Und wie geht’s der Familie?“, fragte ich nun an meinen Onkel gewandt. „Was machen Sabine und die Kinder?“

„Sabine geht’s gut. Anna ist bald fertig mit ihrem Medizinstudium und Lukas arbeitet mittlerweile als Bauingenieur.“ Mein Onkel wohnte mit seiner Familie etwa noch einmal eineinhalb Stunden von meiner Mutter entfernt und so sahen wir uns recht selten. Eben nur zu solchen Anlässen wie Weihnachten oder traurigen, die die Familie betrafen. Mit meiner Cousine Anna hatte ich öfter mal Kontakt, aber immer weniger, denn sie musste viel für ihre bald anstehende Prüfung lernen und mit Lukas hatte ich noch weniger Kontakt. Irgendwie war das schade, denn schließlich waren wir doch eine Familie. Nun hatte sich auch wieder meine Mutter zu uns gesellt und griff nach der Kaffeekanne. Es herrschte eine halbe Minute ein bedächtiges Schweigen, bevor ich mich dazu entschied, das Wort zu ergreifen, weil ich diese Art von Stille absolut nicht mochte: „Wie soll es jetzt weitergehen?“

„Mmh“, machte meine Mutter. „Ich werde morgen den Bestatter anrufen und versuchen, alles Mögliche zu regeln. Ich habe keine Ahnung, ob Annabelle ein Testament hinterlassen hat. Hätten wir doch nur mal ein bisschen mehr geredet, aber wer hätte denn ahnen können, dass das Leben so schnell vorbei ist?“ Und schon wieder wurde meine Mutter melancholisch, was leider bei solchen Themen häufiger vorkam.

„Na ja“, meinte ich. „Jetzt kann man es leider nicht mehr ändern.“ Gleichzeitig hätte ich mich für diese unsensible Aussage ohrfeigen können. Das machte es bestimmt nicht besser. „Wenn du willst, kann ich mich auch um alles kümmern“, schlug ich vor. Ich hatte zwar nicht wirklich Zeit dafür, denn in meinem Kopf ging ich schon wieder die ganzen Termine für die nächste Woche durch, aber ich wollte meiner Mutter das Gefühl geben, dass sie das nicht allein machen musste. „Das ist lieb, mein Schatz, aber du hast doch bestimmt viel zu tun. Ich schaffe das schon.“ Meine Mutter versuchte ein Lächeln aufzusetzen.

„Ich hoffe auch, dass wir bald erfahren werden, woran sie gestorben ist. Der Polizist am Samstag selbst war nur in Vertretung für seine Kollegen aus Glücksburg da. Vielleicht muss ich auch selbst in die Gerichtsmedizin fahren, um eine Antwort zu bekommen.“

„Kommst du denn zurecht?“, fragte Thomas nun. „Natürlich, Stefan kümmert sich um mich.“ Stefan war der Lebensgefährte meiner Mutter. Sie hatten sich kurz nach der Scheidung meiner Eltern kennengelernt und sofort ineinander verliebt und so hatte es auch nicht lange gedauert und die Hochzeitsglocken hatten erneut geläutet. Das alles war erst passiert, als ich schon aus dem Haus war. Meine Eltern hatten festgestellt, dass ihr eigentlicher Lebensinhalt bis dato darin bestanden hatte, sich um mich zu kümmern und als ich dann mit der Schule fertig gewesen und ausgezogen war und die beiden von nun an mehr Zeit für sich hatten, haben sie gemerkt, dass die Liebe und Zuneigung, die sie mehr als zwanzig Jahre füreinander empfunden hatten, nicht mehr da war. Somit hatten sie sich friedlich getrennt und redeten ab und zu sogar noch miteinander. Ich hatte mich sehr für meine Mutter gefreut, als sie Stefan so schnell kennengelernt hatte, denn ich hatte sofort gemerkt, dass er ihr guttat und mit ein wenig Überzeugungskraft meinerseits hatten sich die beiden entschlossen, zu heiraten. Also ich musste eher meine Mutter überzeugen, denn für sie war Hochzeit ein „Ding für junge Leute“ und sie war etwas skeptisch, ob sich das denn in ihrem Alter noch lohnen würde, aber ich hatte sie damit überzeugt, dass es für eine Hochzeit nie zu spät wäre und damit war die Sache klar gewesen und ich mochte Stefan wirklich gerne. Mein Vater hatte bisher niemanden kennengelernt, obwohl ich natürlich versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, dass ihm eine Frau guttun würde, aber er war der Meinung, er bräuchte keine und er hätte auch keine Zeit für eine Beziehung, denn er müsste ja so viel arbeiten. Mein Vater arbeitete tatsächlich viel, aber oft glaubte ich, er versuchte sich einfach nur davon abzulenken, dass er sonst womöglich ziemlich viel allein wäre. Ich sagte ihm auch oft, dass er doch aufgrund seines Alters ein wenig kürzertreten sollte, aber er wollte das nicht hören. „Wer soll denn sonst die Firma leiten?“, war dann immer seine Frage. „Du wolltest ja nie!“ Dann fühlte ich mich immer ein bisschen schuldig, aber ich hatte noch nie ein großes Interesse daran gehabt, seine Logistikfirma zu übernehmen. Manchmal glaubte ich auch, er nahm es meiner Mutter ein wenig übel, dass sie ihm keinen Sohn geschenkt hatte. So versuchte er, noch bis zuletzt die Zügel in der Hand zu halten und manchmal meinte ich zu ihm: „Du würdest sogar vom Totenbett aus noch letzte Anrufe machen, oder?“

Dann schaute er mich manchmal etwas vorwurfsvoll an, aber insgeheim wusste ich, dass er versuchte, ein Lächeln zu verbergen. „Immer der seriöse Geschäftsmann bleiben.“ Das war seine Devise.

„Wann soll die Beerdigung sein?“, fragte Thomas nun. „Ich kann es noch gar nicht sagen. Wie gesagt, das muss ich alles mit dem Bestatter klären. Ich hoffe aber darauf, dass man es vielleicht schon Ende nächster Woche, aber spätestens Anfang nächster Woche machen kann.“

„Aber vor allem: Wo soll man sie beerdigen? Oben in Glücksburg?“

„Ich hoffe ja insgeheim, dass sie ein Testament gemacht hat oder sonst irgendwer etwas weiß“, sagte meine Mutter. „Ich fühle mich gerade etwas überfordert mit der Situation. Nicht nur, dass meine eigene Schwester tot ist, sondern dass wir uns auch noch im Streit getrennt haben und ich das nie wieder gutmachen kann.“

„Sie war nicht nur deine Schwester, sie war auch meine“, meinte nun Thomas.

„Ja, aber ihr seid doch immer gut miteinander ausgekommen“, erwiderte meine Mutter. „Na ja, du weißt, dass wir uns auch öfters mal gestritten haben. Sie hat uns oft vorgeworfen, wir wären faul und würden nie etwas so richtig mit unserem Leben anfangen. Familie wäre doch immer nur der Plan B. Zuerst sollte man Karriere machen.“

„Ach, wirklich?“ Oh, das wollte ich eigentlich nicht laut sagen, aber über diese neue Information war ich wirklich überrascht. „Ja“, sagte meine Mutter. „Deine Tante war immer etwas eigen. Sie war ein herzensguter Mensch, aber wollte nie etwas von Familie oder so etwas wissen. Sie wollte immer beruflichen Erfolg. Deswegen hat sie sich auch öfters mit unseren Eltern gestritten. Und das war auch einer der Gründe, warum sie so weit weggezogen ist. Sie hatte gehofft, durch den räumlichen Abstand auch den mentalen Abstand zur Familie zu bekommen. Das schien ihr gelungen zu sein, denn natürlich hatten wir sie immer wieder eingeladen, vor allem an Weihnachten, aber sie wollte sich einfach nicht mit uns abgeben, wie sie immer sagte.“ Auf einmal war mir diese fremde Frau unsympathisch. Wie konnte man nur seine eigene Familie für die Karriere opfern? War es das wirklich wert?

„Wie geht es eigentlich Alex?“, fragte nun meine Mutter. Wahrscheinlich, um das Thema zu wechseln.

„Dem geht’s gut“, meinte ich leichthin. „Er hat viel zu tun. Ist viel im Restaurant.“

„Er arbeitet auch so viel wie du?“, fragte meine Mutter leicht besorgt. „Ist das denn gut? Ich meine, habt ihr überhaupt noch Zeit für euch zu zweit?“

„Das passt schon irgendwie. Ich habe ja auch viel zu tun und so sind wir beide beschäftigt. Und einen Abend in der Woche verbringen wir schon gemeinsam.“ Ich versuchte meine Mutter mit einem Lächeln zu überzeugen, aber ihrem Blick nach zu urteilen, gelang mir das nicht so richtig. „Du weißt doch, das Leben in München ist teuer. Da muss man viel arbeiten.“

„Dann zieht doch aus der Stadt und nehmt euch ein Häuschen auf dem Land nicht allzu weit von der Stadt entfernt. Dort könnt ihr dann auch gleich mit der Kinderplanung beginnen.“

„Mama!“, rief ich erschrocken. „Was denn?“, erwiderte meine Mutter unschuldig. „Ihr seid alt genug und solltet schon einmal darüber nachdenken. Bevor es zu spät ist…“ Jetzt war ich ehrlich ein bisschen schockiert.

„Willst du mich jetzt unter Druck setzen, oder was? Wir haben beide Fulltime-Jobs und keine Zeit für Kinder.“

„Ach, ihr macht das heutzutage alles viel zu kompliziert. Kinder sind das Schönste auf der Welt. Arbeiten kann man immer noch, aber ich kann nur sagen, dass ihr mal wirklich darüber nachdenken solltet. Ich wünsche mir doch auch so sehr einen Enkel.“ Ich wusste echt nicht, was ich darauf erwidern sollte und versuchte mich darauf zu konzentrieren, meine Mutter nicht entgeistert anzustarren. Und damit war das Thema dann auch schon wieder beendet.

Annabelle

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