Читать книгу Die Wahrheit ist immer anders - Friedrich von Bonin - Страница 18
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„Dein Vater will dich sprechen, er hat nach dem Strafverfahren gefragt“, empfing Hanna mich abends, als ich vom Büro nach Hause kam. Ich sah ihr in die Augen, ich fand Mitleid darin, die Kälte von gestern Abend war verschwunden. Sie konnte sich vorstellen, was mein Vater mir zu sagen haben würde. Der hochgemute Vorsatz vom Nachmittag, mein Leben ungestört von der Justiz wiederaufzunehmen, verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Mein Vater rief mich selten, noch weniger sprach er mit Hanna mehr als das Notwendige. Er hatte seine eigene Haushälterin, die für ihn sorgte, für ihn putzte und kochte und seine Einkäufe erledigte. Heute Mittag, so sagte Hanna, habe er nach mir verlangt, ich solle ihm über das Strafverfahren gegen mich berichten.
Müde nickte ich und ging in seine Wohnung.
Richard Eschenburg, mein Vater, war mehr als achtzig Jahre alt. Bis zum Tode meiner Mutter hatte er die ganze Villa bewohnt, allerdings die Räume, die vorher mein Großvater innegehabt hatte, leer stehen lassen. Als meine Mutter starb und er mich rundheraus fragte, ob ich nicht in die Villa ziehen wolle, er würde sich mit der kleinen Wohnung im Erdgeschoss begnügen, hatte ich zuerst gezögert. Ich hatte nie ein gutes Verhältnis zu meinem Vater gehabt, ernst und streng und groß war er mir stets begegnet. Nur einmal schlich sich etwas Herzlichkeit in unsere Beziehungen, als ich mit dem Jurastudium begann und sah, wie er sich freute.
Am Anfang fragte ich ihn ein paar Mal nach einigen juristischen Problemen, die ich nicht verstanden hatte und er setzte zu weitläufigen Erklärungen an, die ich aber ebenfalls nicht verstand. Unser Verhältnis kühlte wieder ab, als ich Hanna nach Hause brachte, die er zwar erst für meine Begriffe zu aufdringlich bewunderte, deren Ablehnung er aber sehr bald spürte. Hanna hatte nachgerade Angst vor ihm. Ein kalter böser Mensch sei mein Vater, er wirke auf sie, als hätte er keine Gefühle mehr, hatte sie mir einmal gesagt, als sie mitbekam, wie er meine Mutter herablassend und verachtungsvoll behandelte. Ich hatte versucht, ihn zu verteidigen, der Beruf des Oberstaatsanwaltes habe seine Gefühle verkümmern lassen, aber ich merkte selbst, wie ich immer mehr Abstand zu ihm hielt.
Vor allem Hanna war es, die zögerte, zu ihm in die Villa zu ziehen.
„Warum sollen wir uns das antun?“ fragte sie, „wir können uns eine schöne Wohnung mieten und später, wenn wir mehr Geld haben, ein eigenes Haus kaufen. Wir wollen Kinder haben, stell dir mal vor, sie würden von deinem Vater erzogen.“
Schließlich hatten wir dann doch eingewilligt, zu sehr widerstrebte es mir, meinen Vater allein in dem riesengroßen Haus zu lassen, und Hanna sah meinen Standpunkt ein. Wir zogen daher ein, mein Vater ließ die ehemalige Wohnung meines Großvaters renovieren, entfernte alle Möbel, in denen er mit meiner Mutter gewohnt hatte und die wir nicht übernehmen wollten, aus dem Haus und richtete sich äußerst spartanisch ein.
Ich klopfte an seine Wohnzimmertür und trat ein. Mein Vater saß in seinem alten Lehnstuhl am Fenster, das er geöffnet hatte und sah hinaus. Die Heizungen waren voll aufgedreht.
„Guten Tag, Vater“, begann ich, „kannst du nicht das Fenster schließen, wenn du heizt? So heizt du die Winterluft, das ist umweltschädlich und kostet Geld.“
Langsam drehte er den Kopf und sah mich an.
„Guten Tag, mein Sohn, kannst du deinen alten Vater denn nicht einmal begrüßen, ohne ihm Vorwürfe zu machen?“
Ich sah ihn schweigend an. Er ließ sich das schlohweiße Haar immer länger wachsen, es fiel schon über die Ohren, auffällig, weil er, solange er berufstätig war, die Haare immer sehr kurz geschoren getragen hatte. Unter der hohen, tief durchfurchten Stirn mit den buschigen ebenfalls weißen Augenbrauen darunter sahen mich die kalten blauen Augen durchdringend an.
„Franz, ich habe dich nicht gebeten, mich zu besuchen, um mit dir über meine Heizgewohnheiten zu sprechen. Man hat mir berichtet, dass meine ehemaligen Kollegen umfangreich gegen dich ermitteln. Was ist denn da los? Und ich hätte es gewünscht, dass du mir von dir aus berichtest, wenn du so schwer beschuldigt wirst.“
„Ja, die Staatsanwaltschaft in Königsfeld ermittelt gegen mich, sie haben jetzt Anklage erhoben“, antwortete ich zurückhaltend.
„Schon Anklage erhoben? Aber was werfen sie dir denn vor?“
„Sie behaupten, oder vielmehr dein Nachfolger, Oberstaatsanwalt Pagelsdorf, wirft mir umfangreiche Bestechungen von Politikern und Staatssekretären vor.“
„Pagelsdorf, soso“, brummte er und sah mich immer noch kalt an, „wie lange weißt du denn schon, dass er hinter dir her ist?“
„Vor ungefähr eineinhalb Jahren hat er mein Büro durchsucht, ich habe damals Rechtsanwalt Hummerdorf, meinen ehemaligen Kommilitonen, beauftragt, der hat die Akte eingesehen und die Vorwürfe für wenig haltbar gehalten.“
„Hummerdorf? Aber das ist ein rein wirtschaftsrechtlich ausgerichteter Anwalt, der hat doch von Strafrecht nicht die geringste Ahnung.“
„Ja, das hat er mir auch gesagt, aber in die Akte der Staatsanwaltschaft sehen könne er schon, hat er gesagt.“
„Aber deinen alten Vater zu informieren, damit er vielleicht mal mit Pagelsdorf spricht, auf die Idee bist du nicht gekommen, nein?“
Die Stimme meines Vaters war immer ein tiefer Bariton gewesen, eine sehr gute Rednerstimme, wie alle, die ihn beruflich kannten, mir erklärten. Im Alter war sie einige Töne nach oben gerutscht, jetzt hatte sie einen schrillen Anflug.
„Aber Vater, warum sollte ich dich damit belästigen, die
Sache erschien mir wirklich nicht bedeutend genug.“
„Aha, unbedeutend also, und vor welchem Gericht bist du nun angeklagt? Wenn die Sache so unbedeutend ist, bestimmt vor dem Einzelrichter des Amtsgerichtes?“
„Nein, Pagelsdorf hat sie vor der großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichtes angeklagt“, antwortete ich und wich seinem Blick aus, der immer noch, kalt und blau, auf mir ruhte. Ich wusste, was kam.
„Vor der Wirtschaftskammer? Und dann wagst du es, deinem alten Vater mit Sprüchen wie unbedeutend zu kommen? Pagelsdorf klagt nie vor der Kammer an, wenn er seiner Sache nicht sicher ist. Und worum geht es?“
Ich beschrieb ihm die Vorwürfe, die ich heute Morgen gelesen hatte.
„Stimmt das denn alles?“
„Mein Gott, Vater, du weißt, was ich tue. Ich vertrete die Interessen der Wirtschaft gegenüber der Politik. Das ist Lobbyarbeit. Wenn alle Lobbyisten in Deutschland angeklagt würden, hätten die Staatsanwaltschaften die nächsten zwanzig Jahre für nichts anderes mehr Zeit.“
Mein Vater setzte zu einer Suada über die Lobbyistenarbeit im Allgemeinen und über meinen Anteil daran im Besonderen an, für den er mich verurteilte und verachtete, eine Rede, die ich schon hundert Mal von ihm gehört hatte. Mein Blick irrte ab. Wie oft hatte ich hier in diesem Zimmer bei meinem Großvater gesessen und mir seine Erinnerungen angehört, immer in dieser angenehmen und sonoren Stimme, gleichmäßig und beherrscht und freundlich. Und hier saß ich im gleichen Zimmer und musste mir die Grundkritik meines Vaters an meinem Leben anhören. Mitten in seiner Rede stand ich auf und verließ seine Wohnung, ohne auf sein strenges „wohin willst du, hör mir gefälligst zu!“ zu achten. Die Erinnerung an meinen Großvater hatte beruhigende Wirkung auf mich gehabt, ich wollte ihr weiter nachhängen und ging in mein Arbeitszimmer.