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4.

Die Ermahnungen meines Vaters hatten mindestens einen Erfolg gehabt: Ich überlegte zum ersten Mal, wie ich dem Ermittlungsverfahren gegen mich begegnen sollte. Eines war klar: Mit den Erinnerungen an meinen Großvater konnte ich mich beruhigen, helfen würden mir diese Erinnerungen nicht. Ich beschloss daher, am nächsten Morgen wie üblich zur Arbeit zu gehen. Gleichzeitig nahm ich mir vor, eine Liste von Freunden und Bekannten zusammen zu stellen, von denen ich annahm, dass sie mir in der einen oder anderen Weise helfen würden. Im Übrigen musste ich mit dem Anwalt dringend telefonieren, um eine Strategie zu entwickeln. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Am nächsten Morgen kam ich wie gewohnt um halb zehn in mein Büro, Frau Seibold empfing mich mit der gleichen mitleidigen Miene wie gestern, die sich aber sofort änderte, als sie mein Gesicht sah. Ich hatte mir vorgenommen, wie immer mit einem freundlichen Gruß und gleichgültigem Gesicht herein zu kommen und das beruhigte meine Sekretärin offenbar.

„Guten Morgen“, erwiderte sie meinen Gruß, „Kaffee?“ Ich nickte und sie kam zehn Minuten später mit der dampfenden Tasse herein, in der anderen Hand die Liste der Anrufe und Termine, die ich heute erledigen musste.

„Herr Randemann vom Finanzministerium drängt nun sehr, er sagt, er müsse dringend mit Ihnen sprechen, und dann hat auch Herr Ratenberg von der Energiecon angerufen, auch er hat es dringend gemacht. Die anderen habe ich Ihnen vom Leibe gehalten, aber die beiden sollten Sie schnell anrufen.“

Ich nickte. In all der Zeit hatte Frau Seibold ein sicheres Gespür dafür entwickelt, welche Anrufe eilig waren und welche nicht. Wenn sie meinte, ich müsse die beiden als erstes anrufen, dann war das wohl richtig.

Dennoch beschäftigte ich mich erst einmal mit der Liste der Freunde, die ich um Rat und Hilfe bitten konnte. Da waren zuerst die einflussreichen Politiker. Der Justizminister im Bund war ein Parteifreund von mir, ich kannte zwar nicht ihn, allerdings noch aus Studientagen seinen Staatssekretär, Dietrich Heuberg, der kam als erster auf meine Liste. Ich wusste nicht genau, wie viel Einfluss er nehmen konnte. Nicht sein Minister war weisungsberechtigt gegenüber dem Staatsanwalt, sondern die Justizministerin des Landes, aber die kannte ich gar nicht, auch niemanden aus ihrer Umgebung.

„Herr Heuberg ist in einer Sitzung“, teilte mir die Sekretärin mit, „kann ich ihm etwas ausrichten?“

„Ja, Franz Eschenburg ist hier, er möchte mich bitte dringend zurückrufen.“

„Das richte ich ihm gerne aus.“

Drei Minuten später klingelte das Telefon. „Herr Heuberg möchte Sie sprechen“, sagte Frau Seibold und stellte durch.

„Franz, Dietrich ist hier, was kann ich für dich tun?“

Es war angenehm, seine sonore Stimme am Telefon zu hören.

„Dietrich, schön, dass du so schnell anrufst. Hör zu, ich habe ein kleines Problem, möglicherweise auch ein großes.“

„Schieß los, wenn ich etwas tun kann, du weißt, tue ich es.“ Ich erzählte ihm von den Ermittlungen, die gegen mich liefen und von der Anklageschrift.

„Ach Herrjeh, das ist böse“, dehnte er langsam und leise, „ach du liebe Zeit, was ist da zu tun?“ Ich wartete, ich wollte ihn nicht beim Nachdenken stören. „Ja, was kann man da tun“, wiederholte er und schloss die Frage an: „Hast du eine Vorstellung?“

„Ich dachte, vielleicht könntest du deinen Minister dazu bringen, diesen Staatsanwalt zu bremsen.“

„Nein“, Dietrich wirkte ehrlich erschrocken, „das geht auf keinen Fall, wir können nicht in laufende Ermittlungen eingreifen, nein, stell dir mal vor, das würde bekannt. Aber ich kann dich in die Runde der Staatssekretäre einladen. An sich wären wir turnusmäßig mal wieder dran, und dann kannst du sehen, wen von uns du ansprichst. Mag sein, dass der ein oder andere Einfluss nehmen kann.“

Ich bedankte mich herzlich bei ihm, ja, das sei eine gute Idee, und wir verabschiedeten uns.

Nachdenklich saß ich an meinem Schreibtisch. Das hätte ich mir selbst denken können. Niemand würde offen für mich eintreten, jeder glaubte, die Justiz würde schon einen gerechten Spruch finden. Aber was würden meine Gesellschafter sagen, wenn sie von der Anklage erfuhren, was meine politischen Kontakte? Hatten vielleicht deshalb schon Randemann und Ratenburg angerufen? Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des Staatssekretärs.

„Guten Tag, Frau Rieber, kann ich bitte Herrn Randemann sprechen? Er hat mich um Rückruf gebeten.“

Kurz darauf hatte ich die Stimme des Staatssekretärs am Ohr.

„Herr Eschenburg, gut, dass Sie anrufen, ich versuche seit drei Tagen, Sie zu erreichen. Sagen Sie mir bitte, was ist das für ein Gerücht, die Staatsanwaltschaft Königsfeld habe Sie angeklagt wegen Bestechung?“

„Das ist leider wahr, Herr Staatssekretär, ich glaube zwar nicht, dass da irgendetwas dran ist, aber sie haben die Anklage erhoben.“

„Sind wir denn da ebenfalls erwähnt?“

„Nein, das Finanzministerium wird nicht genannt, ich glaube nicht, dass Sie da hineingezogen werden können.“

„Sie müssen das auf jeden Fall verhindern, hören Sie? Wir haben hier schon genug Schwierigkeiten mit der Finanzkrise. Der Minister schläft seit einigen Wochen jede Nacht hier im Ministerium. Sehen Sie zu, dass Sie eine Einstellung des Verfahrens erreichen, auf keinen Fall darf der Minister damit zu tun haben.“

Wir verabschiedeten uns. Von da war Hilfe nicht zu erwarten, eher im Gegenteil. Ich wusste jetzt, wenn ich verurteilt werden würde, wäre meine Karriere zu Ende, ich könnte als Sachbearbeiter in einer Haftpflichtversicherung arbeiten, wenn die mich überhaupt noch nähmen. Wieder begann ich zu grübeln. Und wenn ich doch mit meiner Familie nach Spanien ginge? Ginge das finanziell überhaupt?

Ich hatte einige Ersparnisse, ich hatte einige Immobilien, eine Zeit lang würde ich mich über Wasser halten können. Aber wie lange würde das halten?

Ich merkte, wie der Druck auf meinen Magen wieder zunahm. Heute Morgen war ich einigermaßen zuversichtlich hierhergekommen, aber zwei Gespräche hatten mir wieder klargemacht, wie sehr meine Existenz bedroht war.

Meine Freunde und meine Geschäftspartner würden mich nicht lange stützen können, zu gefährlich waren die Vorwürfe gegen mich, zu sehr konnten sie sich kompromittieren, wenn sie mir halfen, zu unsicher fühlten sie sich selbst angesichts der Krisen, die Deutschland erschütterten.

Die Finanzkrise von 2008 war glücklich überstanden, die Regierung hatte den Bundeshaushalt bis an die Grenze belastet, die Wirtschaft hatte sich seitdem zwar etwas erholt, meine Aktien waren wieder auf dem Stand von 2008, aber wie lange würde die Stabilität vorhalten? Schon meldeten sich jetzt nicht mehr nur Banken, sondern ganze Staaten und teilten mit, ihre Zahlungsfähigkeit sei bedroht, mit Griechenland fing es an. „Die Märkte jagen die Politiker vor sich her“, wie ein Analyst einer Privatbank öffentlich notiert hatte. Nein, ich konnte mich nicht zur Ruhe setzen, ich konnte nicht kapitulieren, selbst wenn ich gewollt hätte. Also musste ich mich zur Wehr setzen.

Auf meiner Telefonliste stand als nächster Herr Ratenburg, der Vorstandssprecher der Energiecon AG. Die Energiecon war einer meiner vier Hauptgesellschafter, einer der großen Stromproduzenten des Landes.

Ratenburg war anwesend gewesen, als die Staatsanwaltschaft meine Büroräume durchsucht hatte, er hatte den Staatsanwalt abblitzen lassen, als dieser ihn mit in die Liste von Verdächtigen einbeziehen wollte. Er hatte sich immer wieder nach dem Verfahren erkundigt und ich hatte ihn immer wieder beruhigen können. Ich war nicht sicher, ob er von der Anklageschrift schon wusste.

Sie war ihm bekannt, wie sich sehr schnell herausstellte.

„Na, Herr Eschenburg, jetzt ist es also doch soweit und Sie sind angeklagt?“ hörte ich die Stimme jovial durch den Hörer klingen, „wie wird sich das denn auf unsere Interessen auswirken?“

„Ich weiß das im Augenblick noch nicht so genau, Herr Ratenburg, ich hoffe, das wird keinen Einfluss auf unsere Arbeit haben.“

„Hoffen alleine reicht nicht, lieber Herr Eschenburg“, die Jovialität Ratenburgs erreichte jetzt einen für mich fast unerträglichen Höhepunkt, „unsere gemeinsame Sache darf keinesfalls darunter leiden. Wir werden die Angelegenheit auf der nächsten Gesellschafterversammlung besprechen, ich gehe davon aus, dass Sie dann Bericht erstatten werden.“

„Selbstverständlich, Herr Ratenburg, auf Wiedersehen.“

Auch von da war also keine Unterstützung zu erwarten, nicht nur keine Unterstützung, nein, von allen Seiten nur die entsetzte Aufforderung, man möge sie doch bloß heraushalten.

Die Wahrheit ist immer anders

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