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1.

Andrea und Eduard waren jetzt unzertrennlich. Sie saßen zusammen in den Vorlesungen, sie gingen zusammen nach Hause, meistens in die Wohnung Andreas, weil die in der Nähe der Universität lag. In den Semesterferien arbeitete Eduard weiter als Maurer und verdiente gutes Geld. Mehr und mehr jedoch bemühte er sich, seinen Lohn am Ende des Tages sofort in bar ausgezahlt zu bekommen und lief, so schnell er konnte, zu Andrea, holte sie ab und beide rannten zu dem nächsten Lebensmittelhändler. Bekam Eduard morgens für einen Tag Arbeit den Gegenwert von hundert Weißbroten, so bekamen sie nachmittags, nachdem der Lohn ausgezahlt war, im Laden dafür höchstens noch den Gegenwert von zwanzig Broten. Die Inflation hatte das Deutsche Reich fest im Griff, jeden Tag, jede Stunde sank der Wert des Geldes. Bekam Eduard zu Anfang noch am Ende des Tages fünf Reichsmark ausgezahlt, so betrug sein Lohn ein halbes Jahr später eine Million Mark, ein weiteres halbes Jahr später eine Milliarde. Geld war wertlos, Andrea und Eduard halfen sich, wie es ging, sie unterstützten sich beim Einkaufen und organisierten Nahrung. Wenn sie sie nicht bezahlen konnten, stahlen sie. Immer häufiger trafen sie sich mit Eduards Schwester Kathrin und dann gingen sie zu Dritt in die Läden.

„Heute gibt es Eier bei Racke“, begrüßte ihn Andrea, als er in ihre Wohnung kam und schon rannten sie los, um welche zu ergattern. Eduard hatte sein Geld in der Tasche.

„Pro Person eines Haushaltes kann ich vier Eier abgeben, sie kosten pro Stück zwei Millionen Mark“, gab Herr Racke bekannt, als sie an der Reihe waren.

„Wir sind vier im Haushalt“, log Eduard frech, „wir beide, meine Schwester Kathrin und Anni, meine Cousine.“

„Hier sind sechzehn Eier, macht 32 Millionen Mark“, damit reichte der Inhaber die Tüte mit den wertvollen Eiern über den Tresen. Eduard gab ihm drei Zehnmillionenscheine und einen Schein zu fünf Millionen.

„Für die restlichen drei Millionen packen Sie mir bitte Brot ein“, bat er. Herr Racke sah stirnrunzelnd nach hinten in den Laden.

„Ja, für drei Millionen bekommen Sie drei Weißbrote, die habe ich auch noch“, antwortete er, ging nach hinten und holte die drei Brote, in Tüten eingepackt.

Glücklich verließen sie den Laden und sahen sich an.

„Wollen wir nicht mit der Straßenbahn zu Kathrin fahren und zu dritt ein Festmahl abhalten?“ schlug Andrea vor.

„Aber wir haben kein Geld mehr für die Straßenbahn“, wandte Eduard ein.

„Macht doch nichts, wir steigen hinten ein und hoffen, dass keiner kontrolliert“, Andrea war unbedenklicher, wenn es um Schwarzfahren ging und allmählich hatte sich auch Eduard daran gewöhnt. Was half es auch, sie hatten kein Geld, als er es verdient hatte, war es noch so viel wert, dass sie auch eine Fahrkarte hätten zahlen können, jetzt war es so weit entwertet, dass sie alles für Lebensmittel hatten ausgeben müssen.

Kathrin war hell begeistert, als sie mit den Eiern ankamen.

„Seht mal, ich habe Kartoffeln auf dem Feld gefunden, auf dem wir früher mal zusammen waren, jetzt können wir uns Kartoffeln braten und die Eier dazu essen, das gibt ein Festmahl“, sagte sie.

Beim Essen sprachen sie über Politik. Weder Andrea noch Kathrin trauten sich abends allein auf die Straße. Banden von ehemaligen Soldaten zogen plündernd und prügelnd durch die Stadt, niemand war vor ihnen sicher, aber die waren noch die harmloseren. Gefährlicher waren die Politischen von rechts und links. „Vaterlandsverräter“ nannten die nationalistischen Banden die Politiker, die den Friedensvertrag von Versailles unterschrieben hatten, und Vaterlandsverräter waren ihnen vor allem die Kommunisten, die eine Diktatur des Proletariats errichten wollten nach dem Vorbild der russischen Revolution. Wehe, wer in eine Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Parteien geriet, gleich, ob Mann oder Frau, alt oder jung, er wurde unweigerlich in die Prügelei einbezogen und nicht selten gab es Tote.

„Hier, in der Vorstadt, ist es Gottseidank noch ruhig“, sagte Kathrin, „aber bei dir in der Innenstadt muss es furchtbar zugehen.“ Sie sah Andrea an.

„Man gewöhnt sich daran“, antwortete sie, „man darf eben nicht in diese Schlägereien geraten, ich gehe ihnen bisher immer mit Erfolg aus dem Weg.“

„Aber in die Versammlungen der Kommunisten gehen wir schon“, warf Eduard ein, „es gibt einen Unterschied zwischen ihnen und den Nationalisten. Das sind Leute, die den Krieg genau analysiert haben und jetzt der Meinung sind, dass die Kriege für die reichen Leute geführt werden. Wir sollten uns daran nicht beteiligen. Aber wenn sie sich mit den Nationalisten prügeln, sehen wir zu, dass wir nicht dabei sind.“

Die Wahrheit ist immer anders

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