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6.

Unzählige Stiefel trampelten an diesem dreißigsten Januar, einem Montag, vor seinem Büro vorbei, so erzählte Großvater mir, endlos, und nur unterbrochen von den rohen Stimmen, die ihre Lieder sangen. „Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt“ und „die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen“ waren darunter. Und immer wieder die marschierenden Stiefel und rohes Geschrei, wenn sie nicht sangen. Eschenburg blieb ruhig an seinem Platz im Rathaus sitzen. Er wusste, draußen war es kalt und sonnig an diesem Tag. Die Thermometer waren seit Tagen nicht über Null gestiegen, Dauerfrost beherrschte die Stadt. Der Schnee, der vor zwei Wochen gefallen war, war draußen vor der Villa noch immer buchstäblich schneeweiß und rein und bot einen schönen Anblick. Hier, in der Stadt, vor dem Rathaus, auf dem Marktplatz, war er grau und unansehnlich geworden von den vielen Stiefeln, die über ihn hinweggestapft waren und immer noch stapften. Jetzt hörte abrupt das Lied auf, das sie gesungen hatten, die Schritte wurden langsamer, verloren den Marschtakt und schließlich stoppten sie ganz. Aufgeregtes Gejohle erhob sich, steigerte sich zum wüsten Geschrei und Eschenburgs Neugier siegte. Er ging an eines der hohen Fenster in seinem Büro und sah hinunter.

Ein großer fast runder Platz war das, an dessen nördlichen Bogen das Rathaus stand. Ein Ort, auf dem mittwochs und sonnabends der Wochenmarkt abgehalten wurde, ein bunter Markt voller Leben. Händler aus ganz Norddeutschland boten da ihre Waren feil und vor allem die Bauern aus der Umgebung. Weit kamen sie aus den Dörfern rund um die Hauptstadt mit ihren Pferdefuhrwerken gefahren, um Früchte und Gemüse an die Städter zu verkaufen. Für Eschenburg war es eine Freude, an diesen Tagen aus dem Fenster zu sehen, sich an dem bunten Treiben zu erfreuen und im Sommer bei geöffneten Fenstern den Lärm des Marktes zu hören. Das Stampfen der angebundenen Pferde, ab und zu ein Wiehern, vermischte sich mit dem anpreisenden Geschrei der Verkäufer: „Schöne eins a Kartoffeln, frische frische Eier!“, schrien sie. Direkt unter seinem Fenster hörte er eine schrille Frauenstimme, jeden Mittwoch und Sonnabend schreien „Lumpen, bringen Sie mir Ihre Lumpen!“. Einmal in der ganzen Zeit hatte er erlebt, dass die Lumpensammlerin nicht schrie, er hatte sich schon Sorgen gemacht bis zum nächsten Mittwoch, da war sie wieder da.

Was wurde alles feilgeboten auf dem Markt! Von den Erzeugnissen der Bauernhöfe, Zwiebeln, Lauch und Kohlrabi im Frühling und Sommer, Erbsen und Bohnen, einige, ganz wenige Verkäufer boten sogar Spargel an, den sich nur die Wenigsten leisten konnten, im Herbst gab es die frischen Äpfel, Kartoffeln säckeweise, Bohnen und frisches Fleisch, Schwein, Kuh, Kalb und Schaf, alles bunt durcheinandergewürfelt. An einigen Ständen konnte man essen, Erbsensuppe für einen Groschen den Teller, direkt daneben gab es Grog und Glühwein zu trinken im Winter, im Sommer Bier und Wein für die besseren Leute.

Alle Einwohner Königsfelds, arm, reich oder Mittelstand, Nazis und Kommunisten, alle kamen sie hierher und kauften ein.

Heute war kein Markt, heute gehörte der Platz den Horden, die Eschenburg jetzt, als er ans Fenster trat, sehen konnte, Mengen uniformierter junger Männer, die das ganze Rund ausfüllten. Von hier oben konnte er nur wenige einzelne leere, dumme Gesichter erkennen, kurzgeschorene und ungehobelte Kerle, mit schweren Stiefeln und braunen Uniformen, mit weit geöffneten Mündern, sie schrien lauthals.

Eschenburg hielt die Luft an, um zu verstehen, was sie schrien, erst konnte er einzelne Laute nicht unterscheiden, dann skandierten sie einheitlich „Judensau, Judensau!“ dann „Juden raus, schmeißt die Juden raus!“ Dann ganz deutlich Fensterklirren, das Splittern von zerschlagenem Holz, das von der anderen Seite des Marktes kam und er wusste, jetzt waren sie bei Aaron Liebermanns Gemischtwarenladen angekommen, dem Laden, in dem man mittwochs und sonnabends noch das einkaufen konnte, was es auf dem Markt nicht gab: Zigarren und Zigaretten, Wein und Konservendosen. Aaron Liebermann war seit einiger Zeit Zielscheibe der Horden geworden, die der Reichskanzler sich als SS hielt und die er zu Gewalttaten ermunterte.

Eduard Eschenburg wollte nicht weiter zusehen, wie die jungen Männer sich austobten. Es drängte ihn, an seinen Schreibtisch zurück zu gehen, sich zu setzen, die Hände zusammengefaltet auf dem Tisch und zu warten, bis der Spuk vorbei war. Er konnte nicht. Er hatte schon zu viel gesehen und gehört, er blieb daher am Fenster stehen und sah, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Gasse vor Liebermanns Laden bildete und nun Aaron Liebermann durch diese Gasse getrieben wurde, die Kleidung zerrissen, ohne Schuhe, barfuß in dieser Kälte, sie prügelten ihn zwischen sich hindurch, ließen ihn Spießruten laufen und am Ende der Gasse, wo sie sich gegen das Rathaus öffnete, stolperte er, fiel hin, das Gejohle schwoll an, hasserfüllte Gesänge gegen Juden schwängerten die Luft und Liebermann blieb liegen, auf dem Platz, blutüberströmt, in der Kälte, indessen die Horden sich wieder sammelten und Schritt aufnahmen, singend, grölend, und weiterzogen.

Ganz langsam, als sie in die angrenzende Vollmerstraße abgezogen waren, kamen die ersten Menschen auf den Platz, vorsichtig sich umschauend, ob nicht einer von ihnen als Wache dageblieben war, näherten sie sich Liebermann, der da lag, richteten ihn auf. Ein älteres Ehepaar führte ihn langsam und vorsichtig zu seinem Haus.

Erst da konnte Eschenburg sich abwenden, zu seinem Schreibtisch zurückkehren und sich setzen.

Er wusste, die Nazis hatten die Wahl gewonnen und heute jährte sich der Tag, an dem ihr Vorsitzender, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannt worden war. Eduard Eschenburg fürchtete sich vor ihnen.

Die Wahrheit ist immer anders

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