Читать книгу Wo Marx Recht hat - Fritz Reheis - Страница 15
Menschen und Umstände
ОглавлениеWer sich auf diesen Erkenntnisweg einlässt und den Versuch der Analyse einer konkreten Gesellschaft unternimmt, wird allerdings schnell feststellen, dass keineswegs die Verhältnisse, in die eine Generation hineingeboren ist, das ganze Leben dieser Generation bis in alle Einzelheiten bestimmt. Die Rekonstruktion der Produktion des Lebens, also des Seins und des dieses Sein begleitenden Bewusstseins, zeigt die Bedeutung von Wechselwirkungen. Jede neu geborene Generation findet bestimmte Bedingungen der Natur und ein Erbe ihrer Vorgängergeneration vor, die sie zunächst einfach hinnehmen muss. Aber im Laufe des Lebens lernt sie, diese Gegebenheiten in gewissen Grenzen immer auch zu modifizieren. Es zeigt sich, „dass also die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“14. Zentral für das Marx’sche Erkenntnisprogramm ist also, dass ihm zufolge der Erkenntnisprozess dem Lebensprozess angepasst werden muss und nicht umgekehrt, wie dies bei den idealistischen Philosophen geschieht. Der Lebensprozess gründet in räumlicher Hinsicht letztlich auf eine materielle Basis, in zeitlicher Hinsicht auf ein unvorstellbar langes Evolutionsgeschehen. Diese Grundlagen gilt es zu rekonstruieren, wenn wir unser Leben und unsere Gesellschaft verstehen wollen.
Nehmen wir als konkretes Beispiel eine auf uns fremd, vielleicht sogar bedrohlich wirkende Gesellschaft, zum Beispiel die des Kongo oder des Iran. Eine solche Analyse darf nicht von einer im eigenen Umfeld als unbestritten geltenden ideellen Kategorie, wie zum Beispiel „Rechtsstaat“, ausgehen, um dann alle Daten daran zu messen, ob sie mit dieser Idee in Einklang stehen. Vielmehr muss eine materialistisch-historische Analyse mit der Frage beginnen, wie sich die Menschen dort Tag für Tag am Leben erhalten: Mit welchen natürlichen Bedingungen sind die Menschen konfrontiert? Wer verfügt dort über Grund und Boden, wer über die Werkzeuge zu seiner Bearbeitung? Wie gelingt es den Menschen, die Mittel für ihr Leben zu produzieren? Welche Gegenleistung an die Eigentümer wird ihnen gegebenenfalls abverlangt? Wie und warum haben sich die materiellen und historischen Bedingungen im Laufe der Zeit verändert? Erst wenn auf diese Weise die ökonomischen Grundlagen des Lebens rekonstruiert sind, wenn außer den geografischen Bedingungen |22|auch die Beziehung des Landes zu anderen Ländern, die Einordnung in oder die Ausgrenzung aus der globalen Weltwirtschaft, die ökonomischen Zwänge des Neokolonialismus und deren Wurzeln im Kolonialismus freigelegt sind, kann sinnvoll nach Ideen, nach Philosophien und Theorien gefragt werden, zum Beispiel auch nach dem dort herrschenden Staatsverständnis und der Bedeutung, die das „Recht“ darin hat.