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|25|Strukturen

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Wie gezeigt wurde, machen die Menschen nach Marx zwar ihre eigene Geschichte, aber nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten Umständen. Es sind immer unmittelbar vorgefundene Bedingungen, die dem Handeln vorausgehen. Je länger der Mensch in seiner Geschichte durch Arbeit seine natürliche Um- und soziale Mitwelt verändert, desto ausgeprägter wird der „Überhang an Objektivität“,17 dem er sich gegenübersieht. Diese Gegebenheiten stecken den Rahmen des menschlichen Denkens und Handelns ab, sie bestimmen zu einem erheblichen Teil, was in konkreten Situationen zuerst und was danach zu geschehen hat, sie definieren Prioritäten. An diesem Umstand haben im 20. Jahrhundert einige kritische Wissenschaftler angeknüpft und das materialistisch-historische Erkenntnisprogramm des Karl Marx weiterentwickelt. Das menschliche Handeln, so der Ausgangspunkt, ist nur verständlich, wenn man dieses hohe Gewicht der objektiven Gegebenheiten in Rechnung stellt, ohne freilich den subjektiven Faktor, die handelnde Person, zu übersehen. Dies geht einher mit der Erkenntnis, dass Phänomene nicht als Einzelerscheinungen, sondern immer nur vor dem Hintergrund eines größeren Zusammenhangs verstanden werden können.

Um dem Verhalten des Menschen und den Verhältnissen der Gesellschaft vor dem Hintergrund dieses größeren Zusammenhangs, der als hoch komplex erlebt wird, gleichermaßen gerecht zu werden, wurden zwei Begriffe in die Sozialwissenschaften aufgenommen, die in den Naturwissenschaften längst gebräuchlich waren: System und Struktur. System bedeutet „Zusammenstellung“ und meint, dass bestimmte Teile eines größeren Ganzen zusammengehören, sich also von der Umwelt abgrenzen. Struktur bedeutet „Gefüge“ und bezieht sich auf die innere Gliederung eines Systems. Verwendet wurde der Strukturbegriff ursprünglich in der Sprachwissenschaft, um zum Ausdruck zu bringen, dass in einem Sprachsystem für das Verständnis des Sinns eines Satzes nicht nur das Wissen um die Bedeutung der unübersehbaren Zahl der je nach Satz wechselnden Wörter erforderlich ist, sondern auch mindestens genauso die Kenntnis der vergleichsweise wenigen festen Regeln der Grammatik. Ähnlich haben bekanntlich auch feste Routinen im Alltagshandeln eine strukturierende Wirkung, sie ersparen uns, ständig Entscheidungen zu treffen. Mithilfe der System-Struktur-Betrachtung, so die Grundidee, kann angesichts der steigenden Komplexität der Welt besser untersucht werden, wie Stabilität und Wandel gleichermaßen möglich sind und zusammenhängen. Systeme sind dabei gewissermaßen für den Wandel, Strukturen für die Stabilität zuständig.18

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Erkenntnisproblem neu formulieren. Sollen Verhalten und Verhältnisse täuschungsfrei beschrieben und erklärt |26|werden, darf der um Erkenntnis bemühte Mensch nicht auf der Ebene der Personen und des Handelns stehenbleiben, sondern muss die Zusammenhänge erfassen, die den handelnden Personen vorgegeben sind: einerseits die Systeme in ihren dynamischen Wechselbeziehungen zu ihren Umwelten, andererseits die Strukturen, quasi die Stützbalken, die geschaffen werden, um die nötige Stabilität zu sichern. Sichernde Strukturen sind prinzipiell sowohl in Kultur und Gesellschaft als Ganzes wie auch im Denken und Fühlen der Menschen zu finden. In Bezug auf die Täuschungen, von denen oben die Rede war, heißt das: Will man die Vorstellung vom „arbeitenden“ Geld oder vom Glück des materiellen Konsums analysieren, muss man sich die Strukturen genauer ansehen, die jenen Personen vorgegeben sind, die sich genau an diesen Vorstellungen orientieren.

Für die Kapitalismusdiskussion im Anschluss an Marx ist vor allem interessant, wie jene Probleme, die jedes, auch das kapitalistische Wirtschaftssystem mit sich bringt, durch Stützstrukturen bearbeitet werden. Der Politikwissenschaftler Claus Offe hat zum Beispiel Anfang der 70er Jahre auf der Basis der Marx’schen Analyse gezeigt, wie sehr der Staat in seinem Handeln einerseits von den Zwängen der kapitalistischen Wirtschaft geprägt ist, andererseits in der Lage ist, Defizite dieses Systems durch Ausbildung struktureller Stützen zu kompensieren.19 Zu diesem Zweck entwickelt der Staat, der ständig mit einer Vielfalt von Interessen konfrontiert ist, einen Filter, der dafür sorgt, dass jene Interessen zum Zug kommen, welche die Stabilität von Wirtschaft und Politik, vor allem das Wirtschaftswachstum und die Massenloyalität, sichert.

Die Übermacht der objektiven Gegebenheiten, die Angst vor dem Kollaps angesichts des heute erreichten Grades an Komplexität, wird vor allem in jenen Situationen als besonders bedrückend empfunden, in denen es schwer fällt, Prioritäten zu setzen. Es ist interessant zu beobachten, wie Verantwortungsträger in Wirtschaft und Staat in dieser Situation sich des System-Struktur-Denkens der kritischen Sozialwissenschaften bedienen. Das geht so weit, dass angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und 2009 plötzlich Grundsätze über den Haufen geworfen wurden, die davor als völlig unantastbar gegolten hatten. Es wurde nicht mehr nach „wahr“ und „falsch“ in Bezug auf Beschreibungen und Analysen gefragt, erst recht nicht nach moralischen Werten. Was in solchen Situationen allein zählt, ist, ob eine einzelne Maßnahme oder ein ganzes Programm zur Struktur passt und das System zu stützen in der Lage ist. Gemeint sind die gigantischen Rettungsmaßnahmen, bei denen zwischen „systemrelevanten“ Großbanken (Hypo Real Estate), Großfirmen (Opel) und Staaten (Griechenland) einerseits sowie dem Rest von Ökonomie und Gesellschaft andererseits ein dicker Trennungsstrich gezogen wurde. Wenn in der Wirtschafts- und Finanzpolitik von „struktureller Krise“, „struktureller Arbeitslosigkeit“ oder „strukturellem Defizit“ die Rede ist, soll damit |27|die Dramatik einer mehr als zeitlich bedingten Problemsituation zum Ausdruck gebracht werden – ohne dass freilich kapitalismuskritische Nebentöne anklingen. Es wird in den folgenden Kapiteln immer wieder zu fragen sein, wie die Strukturen, die die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ausbildet, zur Stabilisierung des Systems beitragen.

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