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Ausgelagerte Verantwortung

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Wie kann man sich ein solches Bewusstsein, das sich vom Sein entfernt hat, in einer Industriegesellschaft vorstellen? In einer klassischen Fabrik mit hoch spezialisierten Tätigkeiten macht jeder einzelne Beschäftigte nur wenige, immer gleiche Handgriffe. Er hat kaum eine Chance, den Gesamtzusammenhang, an dem er beteiligt ist, zu überblicken. Vielleicht weiß er nicht einmal, ob er eine Lippenstifthülle oder eine Gewehrpatrone herstellt. Für die Einordnung der einzelnen Handgriffe in die Gesamtproduktion des Betriebs und erst recht für die Einordnung der Gesamtproduktion des Betriebs in die Volks- und Weltwirtschaft sind eben andere zuständig: die Chefingenieure, Chefökonomen und Chefmanager. Sie sind die Einzigen, die die Zusammenhänge kennen, allen anderen bleiben sie fremd. Allerdings muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich in der heutigen Arbeitswelt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, das Verhältnis zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen ausführenden und planend-leitenden Tätigkeiten verändert hat – nicht nur, |24|weil in den hoch- und nachindustriellen Gesellschaften die Herstellung von Gütern immer mehr durch die Erbringung von Dienstleistungen verdrängt wird, sondern auch, weil Verantwortung immer mehr von oben nach unten verlagert wird. Im High-Tech-Kapitalismus soll sich der abhängig Beschäftigte möglichst wie ein Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft fühlen, der selbst für ihre bestmögliche Verwertung verantwortlich ist. Dass hier eine besonders raffinierte Form der Bewusstseinstäuschung stattfindet, soll später noch begründet werden (vgl. Kapitel 4).

Was passiert nun auf der anderen Seite mit der von der materiellen Tätigkeit losgelösten geistigen Tätigkeit? Solange diese der materiellen Tätigkeit noch direkt zugeordnet ist, hält sich die Verselbstständigungstendenz in Grenzen. Anders ist es bei den weitgehend abgekoppelten Arten von geistiger Tätigkeit, der Arbeit der Theologen, Philosophen oder Sozialwissenschaftler. Marx stellt fest: Jetzt „kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ‚reinen‘ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen“15.

Wichtig im Zusammenhang mit der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ist, dass Marx ausdrücklich nur von der Möglichkeit des falschen Bewusstseins spricht. Das heißt: Nicht jeder Philosoph oder Sozialwissenschaftler muss notwendigerweise ein falsches Bewusstsein entwickeln, nur weil er nicht gleichzeitig in der materiellen Produktion tätig ist. Wie aber wird ein solches Bewusstsein wahrscheinlich, vielleicht sogar notwendig? Hier spielt nach Marx das Eigentum an den Produktionsmitteln eine zentrale Rolle. Wenn nämlich nicht nur die Produktionsmittel der materiellen, sondern auch die der geistigen Arbeit in privaten Händen liegen, werden die Eigentümer dieser Mittel darum bemüht sein, die Inhalte der geistigen Arbeit genauso wie die der materiellen Arbeit in ihrem Sinne zu lenken. Man denke an einen Pharmakonzern, der eine Risikostudie unter Verschluss hält, weil sie dem eigenen Ruf schaden könnte, oder an ein multinationales Unternehmen, das seine Sponsortätigkeit an einer Universität einstellt, weil dort in Seminaren die Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten dieses Unternehmens in Südostasien kritisch durchleuchtet und die Ergebnisse an die Öffentlichkeit gebracht werden. Die private Finanzierung geistiger Arbeit führt Marx zufolge dazu, dass die „herrschenden Gedanken“ in aller Regel die „Gedanken der Herrschenden“ sind und dazu dienen, die Herrschaft selbst zu rechtfertigen beziehungsweise zu verschleiern.16

Wo Marx Recht hat

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