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Wie lassen wir uns täuschen?

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Es gibt drei Gegenbegriffe zum Begriff der Wahrheit: Lüge, Irrtum und Täuschung. Der Begriff der Täuschung lässt offen, ob es sich um eine beabsichtigte |14|oder eine unbeabsichtigte Verdrehung der Wahrheit handelt. Um solche Täuschungen geht es im Folgenden. Warum kann man sich also auf dem Weg zur Erkenntnis, gerade beim Thema Wirtschaft und Gesellschaft, so leicht täuschen lassen – und selbst täuschen?

Jede Erkenntnis beginnt mit einer „Ent-täuschung“5: dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, dass Sklaven keine Nutztiere oder Werkzeuge sind oder dass Gelbsucht nicht durch die Einnahme roter Säfte geheilt werden kann. „Ent-täuschung“ als erster Schritt zu einer Erkenntnis heißt, von einer gewohnten Sicht der Dinge Abstand zu nehmen. Allein das ist schon nicht ganz einfach, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Das Umdenken erfordert geistige Flexibilität. Noch schwieriger wird es, wenn Interessen im Spiel sind, die dann im Fall der „Ent-täuschung“ konsequenterweise aufgegeben werden müssen. Es kann bekanntlich sehr schmerzhaft sein, erkennen zu müssen, einen Beruf gewählt zu haben, der nicht zu einem passt, oder eine Karriere verfolgt zu haben, die unglücklich macht. Wenn es um Wirtschaft und Gesellschaft geht, spielen Interessen verständlicherweise eine zentrale Rolle.

Man stelle sich, ehe mit grundsätzlichen Überlegungen zur Gewinnung von Erkenntnissen über Wirtschaft und Gesellschaft begonnen wird, kurz einen konkreten Fall vor, um die Bedeutung von Interessen für die Erkenntnis zu veranschaulichen. Eine geschiedene Münchnerin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, von Beruf Altenpflegerin, braucht zwei Jobs, um ihre Familie durchzubringen. Sie macht sich Vorwürfe, dass ihr dadurch zu wenig Zeit für ihre Kinder bleibt. Aber sie weiß nicht, wie sich das ändern ließe. Warum ist die Situation so, wie sie ist? Sie selbst wird vielleicht sagen: Ich hätte mich nicht scheiden lassen sollen, ich hätte mich mit einem Kind begnügen sollen, ich hätte nicht in die Großstadt ziehen sollen, ich hätte eine andere Ausbildung machen sollen usw. Ganz anders ist die Perspektive, die ein Sozialforscher auf die schwierige Lebenssituation im vorliegenden Fall hat: Der Ex-Mann hat bei der Scheidung geschickt Lücken im Unterhaltsrecht genutzt, die Mieten in Ballungszentren übersteigen die zumutbaren Kosten im unteren Einkommensbereich, das Einkommensniveau im Bereich der Altenpflege ist aufgrund der relativ niedrigen Qualifikation, des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades und des großen Andrangs an Arbeitskräften aus Osteuropa außerordentlich niedrig usw. Welche der beiden Perspektiven entspricht nun der Wahrheit? Die der Frau selbst, die nur ihr individuelles Verhalten im Blick hat, oder die des Forschers, der sich ausschließlich für die äußeren Bedingungen dieses Verhaltens interessiert? Beide haben irgendwie Recht, die vollständige Abbildung der Wirklichkeit ergibt sich erst aus der Zusammenschau und der Einordnung der beiden Perspektiven.

Diese Eigenart von Erkenntnis begegnet uns bei allen wirtschaftlichen und sozialen Themen. Warum müssen so viele Menschen um ihren Arbeitsplatz |15|fürchten? Warum können manche Menschen Geld für sich arbeiten lassen? Warum sind die Äpfel aus Neuseeland beim Discounter billiger als die heimischen auf dem Markt? Der Standpunkt desjenigen, der nach der Wahrheit sucht, weist den Weg der Erkenntnis. Er ist maßgeblich dafür verantwortlich, welche Fragen gestellt werden und welche nicht, und auch dafür, wo die Antwort gesucht wird. Wer an Erkenntnis wirklich interessiert ist, der sollte sich diesen Zusammenhang zwischen Standpunkt, Interesse und Erkenntnis bewusstmachen. Die alleinerziehende Mutter ist in einer Welt aufgewachsen, in der den Menschen von früh an beigebracht wird, jeder sei für sich selbst verantwortlich; und der Sozialforscher arbeitet vielleicht gerade im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und des Sozialreferats der Stadt München an einer Projektstudie zum Thema „Biografische Risikofaktoren und Armut“, die Grundlage für die kommende Tarifauseinandersetzung und die Sozialpolitik der Kommune werden soll.

Wie sehr Standpunkte und Interessen die Qualität von Erkenntnissen beeinflussen, zeigt auch ein Blick in unsere Alltagssprache. Sie steckt voller Hinweise auf interessenbedingte Täuschungen. Das beginnt bei der Rede von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“. Diese Rede stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf, denn schließlich ist es der Arbeitgeber, der die Arbeit nimmt, und der Arbeitnehmer, der sie gibt. Die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer beziehen sich nur auf die Gelegenheit zum Arbeiten. Es geht weiter mit der verbreiteten Vorstellung, es gebe ein allgemeines Interesse an einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Tatsächlich aber können nur jene an einer niedrigen Arbeitslosigkeit interessiert sein, die auf Arbeitsplätze angewiesen sind, weil sie die Grundlage für ihren Lebensunterhalt sind. Wer hingegen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, für den hat eine hohe Arbeitslosigkeit den großen Vorteil, dass er sich die Arbeitswilligen aussuchen und die Arbeitsbedingungen inklusive der Entlohnung der Arbeit nach seinen Vorstellungen gestalten kann. Eine weit verbreitete Täuschung verbirgt sich auch hinter der wohlfeilen Behauptung, Bildung würde Arbeitsplätze sichern. Tatsächlich führt Bildung zunächst nur dazu, dass die mehr Gebildeten die weniger Gebildeten auf den Arbeitsmärkten verdrängen. Erst zusätzliche Arbeitsplätze lassen Bildung zur Einkommensquelle werden. Zudem kennt jeder die beliebte Rede davon, dass man Geld „arbeiten“ lassen könne. Niemand hat je dem Geld beim „Arbeiten“ zugesehen, es bedarf immer noch leibhaftiger Menschen, um unter Verwendung von Geld etwas hervorzubringen.

Am hartnäckigsten sind oft jene Täuschungen, die in unserem Inneren stattfinden. Wie oft glauben wir, der Kauf eines neuen Konsumgegenstands sei für unser Wohlbefinden unverzichtbar, und stellen kurz darauf schmerzlich fest, wie schnell die Freude an ihm wieder verflogen ist, oft auch deshalb, weil viele andere sich ebenfalls mit diesem Gut versorgt haben, so dass es zum |16|Standard geworden ist. Für viele erweist sich die Ausrichtung des Lebens auf berufliche Karriere und materielle Wohlstandssteigerung mittel- und langfristig als Selbsttäuschung, wenn sie erkennen müssen, dass Wohlbefinden und Glück von ganz anderen Umständen abhängen, wie zum Beispiel guten persönlichen Beziehungen und kreativen Tätigkeiten. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass materieller Wohlstand die Genussfähigkeit geradezu beeinträchtigt. Dabei müssen, das zeigen neuere Untersuchungen, Menschen nicht einmal persönlich wohlhabend sein, es reicht oft allein die Vorstellung einer Menge Geldes aus, um den Geschmack etwa eines Stückes Schokolade zu verderben.6 Auch solche inneren Täuschungen sind bekanntlich mit ganz bestimmten Interessen verknüpft, nämlich mit den Interessen derer, die vom Verkauf der Konsumgüter profitieren, genauso wie mit unseren eigenen, indem wir uns durch das Konsumieren für den vorausgegangenen Stress am Arbeitsplatz entschädigen wollen oder indem wir vom Reichwerden träumen.

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