Читать книгу Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen - Gazmend Kapllani - Страница 12
DER MIGRANT UND DAS REICH DES MÜSSENS
ОглавлениеDu musst eine Arbeit finden. Irgendeine Arbeit. Du musst überleben. Du musst eine Wohnung finden, irgendeine Wohnung, Hauptsache, sie gleicht einer Wohnstätte. Du musst diese neue Sprache lernen und kannst noch kein Wort, verwechselst »Gute Nacht« mit »Guten Abend«. Du musst lernen, leiser zu sprechen, nicht zu schreien, weil dein Gegenüber sonst erschrickt — hier bist du nicht mehr in deinem Dorf. Du musst dich vor den Mannschaftswagen der Polizei in Acht nehmen, denn du kamst ungebeten und fällst stark auf mit dieser leidgeplagten Miene und der altbackenen Frisur, wie die Menschen dieser Stadt sie seit Jahrzehnten nicht mehr tragen, vor allem mit diesen Klamotten, denen man deutlich ansieht, dass sie dir jemand geschenkt hat – oder hast du sie gar irgendwo geklaut? Du musst lernen, in normalem Tempo zu gehen, denn du läufst noch immer, als wäre der Teufel hinter dir her. Du musst auch die Straßenverkehrsregeln lernen, natürlich nur die für die Fußgänger. Du darfst die hübschen einheimischen Mädchen nicht mit diesem Blick ansehen, der an Quasimodo erinnert, mit dem er Esmeralda in Der Glöckner von Notre Dame anschaut. Müssen … Müssen … Müssen … Ohne Ende, ohne Verfallsdatum. Jeden Tag, jede Nacht, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Du hast nicht das Privileg, etwas zu wollen, du bist dazu verdammt, mit diesem unerbittlichen Müssen zu leben. Denn du musst es schaffen. Vor allem das. Das ist der Eid, den der Migrant vor sich selbst ablegt. Bei Ärzten ist es der Eid des Hippokrates, beim Migranten der Ich-muss-es-schaffen-Eid. Dieser Eid ist von nun an seine wahre Heimat. Er muss es schaffen, nicht nur, weil seine Familie in der fernen Heimat etwas von ihm erwartet. Das ist noch das Geringste. Er muss es schaffen, um nicht als Gescheiterter in diese Heimat zurückzukehren. Der Gedanke ans Scheitern lässt ihn zittern wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Er muss es schaffen, aber wie? Genau an dieser Stelle scheiden sich die Wege der Migranten: in die der Erfolgreichen und der Gescheiterten, der Akzeptierten und der Abgelehnten, der Glückspilze und der Pechvögel. Denn so sehr die Migranten sich auch ähneln mögen, unterscheiden sie sich dennoch beträchtlich voneinander, so wie alle Sterblichen auf dieser Welt.