Читать книгу Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen - Gazmend Kapllani - Страница 19

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Ein großes Land – wie Russland zum Beispiel – das sich mit seinen hermetisch abgeriegelten Grenzen vom Rest der Welt isoliert, gleicht einem endlosen Gefängnis. Ein kleines Land wie Albanien mit seinen hermetisch abgeriegelten Grenzen gleicht dem reinsten Irrenhaus.

Als ich in der Oberstufe war, sprachen wir, ich und meine Freunde – natürlich nur die, mit denen ich meine Gedanken zu teilen wagte –, oft davon, dass es genügte, auf das flache Hausdach hinauszutreten, um von dort aus die Grenzen unseres Vaterlands zu betrachten.

Eines Tages machten wir einen Schulausflug nach Saranda, von wo in der Nacht die Lichter der Welt-jenseitsder-Grenze zu sehen waren. Ob es sich um Lichter eines Dorfes oder einer Stadt handelte, war unbekannt. Wir standen da, schauten, träumten und fragten uns insgeheim: »Wie mag die Welt dort drüben wohl sein?« Jeder schilderte seine eigene Version und ließ Gerüchte oder Bilder aus dem Fernsehen in seine Geschichten einfließen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir sprachen über wunderschöne Strände, über Schwimmbecken, über Farbfernseher, besonders aber über hübsche Mädchen, die weder überschüssige Pfunde noch Tabus hatten. »Die Mädchen dort sind frei, sie warten nicht darauf, angemacht zu werden, sie machen die Jungs an«, sagte einer. »Dort herrscht Freiheit, Leute! Wie soll ich es ausdrücken, der Sex lauert dir regelrecht auf, ja, das ist es«, fuhr ein anderer fort und heizte unserer pubertären Phantasie und Libido bis zur Unerträglichkeit ein.

Da fragte eines der Mädchen aus unserer Klasse, eine exzellente, aber hoffnungslos naive Schülerin, unseren Marxismus-Leninismus-Lehrer, wie es denn zu erklären sei, dass die Städte der Kapitalisten in hellstem Licht erstrahlten, während wir gelernt hatten, dass die Proletarier dort drüben Hungers sterben und in dunklen Baracken leben. Der Lehrer sah sie über die Brille hinweg an, ließ seinen Blick über die ganze Klasse schweifen und antwortete – nachdem er schließlich zu der Überzeugung gelangt war, dass diese Frage einfach nur das Ergebnis naiver Unschuld war – mit der gewohnten Ruhe, wie er sie an den Tag legte, um uns zu erklären, dass die Proletarier im kapitalistischen Westen zwanzig Stunden am Tag arbeiten und sich nur von Wiesenkräutern ernähren: »Es scheint, dass einige von euch, anstatt zu schlafen, um dem Klassenfeind ausgeruht entgegenzutreten, wach geblieben sind und die Lichter der griechischen Monarcho-Faschisten gesehen haben. Also die vielen Lichter gehören zu den Villen der Reichen. Sie leben in riesigen Häusern, während die Arbeiter hungern, nichts besitzen und in Löchern hausen. Ihr Leben findet gänzlich im Dunkeln statt – im Gegensatz zum glücklichen Proletariat in unserem Land. Schaut euch die Aufzeichnungen der letzten Stunden noch einmal an. Dann werdet ihr ruhig schlafen, ohne dass euch reaktionäre Fragen quälen. Habt ihr mich alle verstanden?«

Selbstverständlich hatten ihn alle verstanden. Ich hatte den Eindruck, selbst die naive Schülerin hatte ihn verstanden, denn plötzlich wurde sie ganz blass, setzte sich hin und brachte keinen Pieps mehr heraus.

Außer den Grenzen, die man in Wirklichkeit weder sehen noch berühren und schon gar nicht überqueren konnte, gab es die »verbotenen Zonen«: Es handelte sich um Gebiete, die dreißig oder vierzig Kilometer von der Grenze entfernt lagen und für deren Betreten man eine besondere polizeiliche Genehmigung brauchte. Wurde man dort ohne eine solche Genehmigung angetroffen, galt man automatisch als fluchtverdächtig. Und insofern besaß Albanien doppelte Grenzen: die offiziellen Staatsgrenzen und die »verbotenen Zonen«, die als inoffizielle Grenzen vor den offiziellen fungierten. Das hieß, in welche Richtung auch immer man ging, stets stieß man an Grenzen.

In dieser Situation waren die einzigen Fenster zu der Welt-jenseits-der-Grenzen das Fernsehen und das Radio. Besonders wir jungen Leute versuchten die Zeichen jenes anderen Planeten zu empfangen und zu entschlüsseln, was jedoch nicht möglich war, solange man die Sprache des anderen Planeten nicht verstand. Also entwickelte sich, besonders in den Städten, eine wahre Leidenschaft für Fremdsprachen – vor allem für das Italienische.

Das Erlernen von Fremdsprachen war weder ein Hobby noch ein Luxus oder diente einem konkreten Zweck: Es war einfach eine unglaubliche Verlockung, mittels der Phantasie dorthin zu reisen, wohin leibhaftig zu reisen streng verboten war: in die Welt-jenseits-der-Grenze. In unserer Phantasie idealisierten wir die-Welt-jenseits- der-Grenze, und je unerträglicher die Unterdrückung durch das Regime wurde, desto idealer erschien sie uns. Das Regime hatte die Welt in eine absolut gute und in eine absolut schlechte unterteilt, und das hatten auch wir getan, nur in genau umgekehrter Richtung: Die absolut schlechte war die Welt hier, innerhalb der Landesgrenzen, und die absolut gute die jenseits der Grenze. Das Regime brauchte zwingend die paranoide Angst vor dem Fremden, um sich durchzusetzen und sich an der Macht zu halten. Und wir brauchten die übertriebene Verehrung alles Fremden, um uns der vollkommenen Verblödung zu widersetzen.

Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen

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