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Meine Heimatstadt Lushnja liegt am Adriatischen Meer, an dessen Küsten wir regelmäßig unsere Sommerferien verbrachten. Irgendwann ließ das Regime über die gesamte Länge und Breite von Albanien, besonders in den Gebieten an der Grenze und an der Küste hunderttausende Bunker errichten. Wir lebten in ständiger Erwartung des Feindes von allen Seiten, doch der fürchterlichste Feind würde offenbar vom Meer her einfallen. Der Strand, an dem wir als Kinder badeten, füllte sich immer mehr mit diesen Symbolbauten des Krieges.

Ironie des Schicksals war, dass ausgerechnet diese gruseligen Bunker zu besonders beliebten Schlupfwinkeln für Liebespaare wurden. Die Altäre des Krieges verwandelten sich also in Altäre der Liebe: In gewisser Weise rächte sich das Leben selbst an der Paranoia des Regimes.

Wie auch immer, die Bunker warteten, entlang des ganzen Strandes aufgepflanzt, auf den fürchterlichen Feind, während dieser Feind uns niemals den Gefallen tat, am Horizont zu erscheinen. Statt des fürchterlichen Feindes trug das Meer verschiedene bescheidene Gegenstände aus der Welt-jenseits-der-Grenze heran: vergammelte Säcke, Cola-Flaschen, leere Waschmittelbehälter mit diversen Aufschriften. Die Menschen nahmen diese Sachen als Dekorstücke für ihr Zuhause mit. Ich erinnere mich an eine Cousine, die sich über einen leeren grünen Kanister in noch gutem Zustand wie verrückt freute. Nur der liebe Gott weiß, wer ihn an der italienischen Küste weggeworfen hatte, nicht ahnend, dass er auf der anderen Seite des Meeres den Status eines Fetischs bekommen würde. Auf dem Behälter war das Logo einer Firma abgebildet, daneben eine Garnitur Damenunterwäsche, die Hand in Hand mit einer Garnitur Herrenunterwäsche spazieren geht, beide vom Salzwasser zerfressen, denn offensichtlich hatten sie eine lange Reise hinter sich. Meine Cousine nahm also den Kanister mit nach Hause, und ihre Mutter und sie beschlossen, ihm im Wohnzimmer einen Ehrenplatz einzuräumen, als handelte es sich um ein wertvolles Gemälde von Van Gogh oder von Picasso.

All diese Geschichten hatten etwas unbeschreiblich Komisches und zugleich unendlich Tragisches. Doch schaut man unter die Oberfläche, entdeckt man vielleicht etwas durch und durch Menschliches: die Leidenschaft der Menschen, nicht endgültig den Kontakt zu der Welt-jenseits- der-Grenze zu verlieren. So wie der Gefängnisinsasse die einfachsten Objekte aus der Welt draußen anbetet, weil sie ihn an seine Freiheit erinnern, so sammelten die Menschen auf diese tragikomische Art Beweise dafür, dass es diese Welt-jenseits-der-Grenze tatsächlich gibt; was auch ein Weg war, um die totale Isolation einfach zu ignorieren und sich selbst und den anderen zu versprechen, dass der ganze Wahnsinn eines Tages ein Ende haben wird.

Dass das Regime in den letzten Zügen lag, zeigte sich deutlich, als nachts nach und nach die Standbilder des Ewigen Führers auf Plätzen oder in öffentlichen Gebäuden stürzten. Jedes politische System hat so seine Tabus. Die des albanischen Totalitarismus waren die kleinen, mittleren, großen Monumente und Portraits des Ewigen Führers, die all überall präsent waren: auf den Plätzen, an den Fassaden, im Innern der öffentlichen Gebäude und auch der Wohnhäuser. Als ich noch klein war, glaubte ich, dass die Standbilder Menschen darstellten, die gestorben waren. Um dieses Rätsel zu lösen, fragte ich eines Tages meine Mutter: »Warum gibt es so viele Standbilder von Onkel Enver, obwohl er doch noch gar nicht gestorben ist?« Meine Mutter bedachte mich mit einem melancholischen und zugleich panischen Blick und antwortete: »Eines Tages werde ich es dir sagen, aber bis dahin versprich mir, nie und nimmer deiner Lehrerin eine solche Frage zu stellen.« So keimte in mir der Verdacht, dass sich hinter den Standbildern ein furchterregendes Geheimnis verbarg, das ich nicht entschlüsseln konnte und von dem ich nie erfahren durfte.

Als ich älter wurde, begann ich die Zusammenhänge besser zu verstehen. Zuerst verstand ich die Größenverhältnisse zwischen den Standbildern und der Angst. Je mächtiger die Unterdrückung und der Schrecken in den Seelen der Menschen, desto zahlreicher und größer waren die Standbilder.

Das Standbild des Tyrannen symbolisiert im Grunde die ewige Unbeweglichkeit der Tyrannei, deren Sinn und Zweck es ja ist, alles unter die Starrheit des Regimes zu stellen: die Gedanken, die Wünsche, die Zeit selbst, und damit alles vollkommen vorhersehbar und unbeweglich zu halten, wie auf dem Friedhof. Gemeinhin behauptet man, wenn einmal die Standbilder des Tyrannen und die Tyrannei selbst beseitigt sind, dann befreit sich auch das Volk, es gesundet und findet den Weg zu Wahrheit und zu Wohlstand. Doch leider funktioniert das nicht so automatisch. Tyranneien sind erbarmungslos, eben weil sie durch die ständige Unterdrückung entstellte und entkräftete Gesellschaften hinterlassen, die vor allem unter dem Komplex der Verwaisung leiden. Die Menschen, die sofort nach dem Sturz der Tyrannenstatue absurden Plünderungen und anderen zerstörerischen Aktionen frönen, handeln wie verwaiste Kinder: Sie plündern die Leiche eines betrügerischen und furchtbaren Vaters.

Ist die Statue weg, beginnt der qualvolle Weg der Selbsterkenntnis: In den Köpfen der Menschen, die in der Tyrannei aufgewachsen sind und so lange unter ihr gelebt haben, wirken die Bruchstücke der Tyrannenstatue noch viele Jahre fort.

Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen

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