Читать книгу Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen - Gazmend Kapllani - Страница 9

2

Оглавление

Das Regime unternahm alles, um kein einziges Bild von der Welt-jenseits-der-Grenze zu uns gelangen zu lassen. Es kontrollierte, verhaftete und bestrafte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag – ich war damals in der zweiten Klasse – als die Parteisekretärin unserer Grundschule ins Klassenzimmer kam und uns unter anderem mit ernster Miene fragte, wobei sie die größte Anstrengung unternahm, honigsüß zu wirken, ob unsere Eltern denn noch andere Programme als die des albanischen Staatsfernsehens sähen. Mit der Unschuld eines Kindes, das sich vor seinen Mitschülern hervortun wollte, antwortete ich, ja, meine Eltern würden oft den Sender Sabre schauen. Sabre war natürlich kein Fernsehsender, sondern der Name eines Orts in der Nähe unserer kleinen Stadt Lushnja, den ich damals noch gar nicht kannte. Mein Vater war sich der Gefahr, die von meiner grenzenlosen kindlichen Neugier ausging, sehr wohl bewusst und verpasste also den ausländischen Sendern, die er heimlich schaute, verschiedene Pseudonyme. Aber auch das rettete ihn am Ende nicht. Am Nachmittag desselben Tages bestellte ihn die Schulleitung ein und verlangte eine Erklärung: was das denn für ein unerhörter Fernsehsender namens Sabre sei. Wegen derartiger Dinge konnte man ohne weiteres seine Arbeit verlieren. Und das war noch das Wenigste. Man konnte »reaktionärer Handlungen und kleinbürgerlicher Ansichten« beschuldigt werden und, nachdem man »wegen Propaganda gegen das Regime« vor Gericht gestellt worden war, in einem der schrecklichen Gefängnisse für politische Häftlinge oder in einem der Dörfer inmitten anderer Verbannter am Rande unserer Stadt landen. Und Sabre war das berüchtigtste. Tatsächlich gab es in unserem Land eine große Bandbreite an Möglichkeiten, wie man einem Menschen das Leben zur Hölle machen konnte. Mein Vater musste also Rechenschaft ablegen: Erstens, warum er nicht ausschließlich albanisches Staatsfernsehen schaute, sondern sich im minderbemittelten Lager der Kapitalisten, Imperialisten, Revisionisten, Titoisten, Monarcho-Faschisten und vieler anderer herumtrieb. Zweitens, warum er dem Sender ausgerechnet dieses Pseudonym gegeben hatte: Ob das etwa gleichbedeutend war mit indirekter, aber eindeutiger Unterstützung der Volksfeinde, also der ins Lager Sabre Verbannten? Er entgegnete kurz und bündig, er empfange keinen fremden Sender, und sie könnten ruhig kommen, um die Antenne auf unserem Flachdach zu kontrollieren.

Apropos Antennen: Wir Bürger waren vom Regime gezwungen, uns eine spezielle Antenne zuzulegen und diese in einer bestimmten Position aufzustellen, in der Bilder aus der Welt-jenseits-der-Grenze gar nicht erst zu empfangen waren. In Wahrheit besaß mein Vater zwei Antennen. Eine auf dem Dach, die für die Augen des Regimes bestimmt war, und die andere, die illegale, im Haus; die nannten wir die Keratá, die gehörnte, und konnten damit hauptsächlich italienische Sender empfangen.

Die Geschichte von den doppelten Antennen ist ein perfektes Bild für die Persönlichkeitsspaltung des Menschen unter einem totalitären Regime: Die eine Seite seiner Persönlichkeit setzte sich dem furchteinflößenden Blick des Regimes aus, die andere versuchte, im Privaten diesem allmächtigen Blick zu entkommen.

Glücklicherweise ging die Geschichte mit der Antenne noch einmal glimpflich aus: Ich fing mir von meinem Vater eine saftige Ohrfeige und hasste seitdem die Parteisekretärin. Außerdem begriff ich langsam, dass ich mich, obwohl ich noch ein Kind war, mich nicht mehr wie ein solches benehmen durfte, besonders nicht, wenn ich es mit der Parteisekretärin zu tun hatte. Ich war damals so wütend auf die Parteisekretärin, dass ich zum lieben Gott bete, sie doch ein großes Unglück erleiden zu lassen, denn nur so ließ sich meine Wut ein wenig dämpfen. Ich stellte mir bildlich vor, wie sie ausrutschte und sich ein Bein, besser noch beide Beine brach. Oder wie sie schwer erkrankte und entsetzlich leiden musste, bevor sie endlich starb. Oder wie ihr ein Ziegelstein auf den Kopf fiel und sie auf der Stelle tot war. Den Gipfel der Genugtuung verschaffte mir jedoch die Vorstellung, wie sie auf der Straße stürzte und von einem schweren Genossenschaftsfuhrwerk mit schmutzigen Rädern und klapprigen Gäulen überfahren wurde.

Die Zeit verging, und ich hatte meine sadistischen Phantasien beinahe schon vergessen, als ich erfuhr, dass meine Gebete teilweise erhört worden waren, nur in vollkommen anderer Form. Die Parteisekretärin litt nämlich an einer sonderbaren Krankheit, aufgrund derer sie, so schien es, immerzu lächeln musste. Unvorstellbar so etwas, denn bis dahin war sie der mürrischste Mensch der Welt gewesen! In der Schule hatten wir sie aus eben diesem Grund die Statue genannt. Jetzt aber brachen die Leute auf jeder Parteiversammlung, sobald sie erschien, in schallendes Gelächter aus. Daraufhin brüllte sie vor Wut, und je mehr sie brüllte, desto mehr vermittelte sie den Eindruck, als würde sie wie blöd lachen. Es handelte sich um einen nervösen Tick.

Die Sache mit ihrem nervösen Lachen gelangte bis zum Zentralkomitee der Partei, und das beschloss, die Parteisekretärin aus ideologischen, parteiinternen und vor allem aus revolutionsimmanenten Gründen vorzeitig in Rente zu schicken. Auf ihrer Position sei sie nicht nur ungeeignet, sondern sie schade in gehörigem Maße der Revolution und der Diktatur des Proletariats. Seither habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.

Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen

Подняться наверх