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Ein Traumland wird erschaffen

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Trotz aller Umsicht seiner Lehrer und Erzieher wies Karls Erziehung doch erhebliche Lücken auf. Wie einer seiner frühen Biografen, Willem Snouckaert van Schouwenburg, behauptete, ließ Adrian seinen Schüler »in dessen Jugend jeden Tag von den siegreichen Schlachten Cäsars lesen und von Augustus, Karl dem Großen, Jason, Gideon, von den Helden des Altertums und den Herzögen Philipp und Karl von Burgund«; und die Auswahl von Büchern, die Karl 1517 aus seiner Brüsseler Palastbibliothek mit nach Spanien nahm, spiegelt diesen engen Fokus ebenfalls wider. Gerade einmal zehn Werke suchte er sich aus, alle in französischer Sprache geschrieben und zumeist illuminierte Handschriften von Chroniken und Ritterliteratur, darunter die prachtvoll illustrierte Kurzgefasste Chronik von Jerusalem und denen, die mit Gottfried von Bouillon das Heilige Land eroberten, die Karl bei jeder Lektüre an sein burgundisches Kreuzfahrererbe erinnert haben dürfte.29 In der Kultur, in der Karl aufwuchs, gehörten derartige Handschriften zum absoluten Kernbestand. Schon sein Vater hatte einige davon mitgenommen, als er 1501 und 1506 nach Spanien gereist war; und unter den beinahe 400 Büchern in der Bibliothek seiner Tante Margarete befanden sich nur zwölf gedruckte – alle anderen waren Handschriften, viele davon so reich illuminiert, dass sie eher in eine Kunst- und Wunderkammer zu gehören schienen denn in eine moderne Bibliothek. Die meisten der von Karl bevorzugten Werke hatten eine ganz bestimmte Zeit und einen ganz bestimmten Ort zum Gegenstand: den burgundischen Hof des 15. Jahrhunderts, den der große niederländische Historiker Johan Huizinga im Sinne eines »Traumlands« gedeutet hat, verzückt vom »Ausblick auf das geträumte Glück einer schöneren Vergangenheit«, die nun durch »die Illusion eines heroischen Wesens voller Würde und Ehre, Weisheit und Ritterlichkeit« wieder zum Leben erweckt werden sollte:

»Wie wirkt nun [diese] Einstellung auf das Leben? Das Verlangen nach schönerem Leben einem geträumten Ideal gemäß? Sie wandelt die Formen des Lebens in Kunstformen. Aber es sind nicht nur die Kunstwerke als solche, in denen sie ihren Schönheitstraum zum Ausdruck bringt, sie will das Leben selbst mit Schönheit veredeln und erfüllt das gesellschaftliche Leben selbst mit Spiel und Formen. Gerade hier werden an die persönliche Lebenskunst die höchsten Anforderungen gestellt, Anforderungen, denen nur eine Elite nachstreben kann, in einem kunstvollen Lebensspiel …« 30

So sei das Leben der Fürsten noch in seinen alltäglichsten und gewöhnlichsten Handlungen symbolisch überformt und überhöht worden. Ob Geburten, Heiraten oder Todesfälle – alles fand im Rahmen von feierlichen und erhabenen Zeremonien statt. Und auch die Emotionen, die mit diesen Ereignissen einhergingen, wurden verstärkt und dramatisiert.

Nach den Worten von Georges Chastellain, dem Chronisten von Karls Großvater Karl dem Kühnen, war der Haushalt eines Fürsten »das Erste, was ins Auge fällt; es ist daher unerlässlich, ihn bestens einzurichten und zu führen«. Er beschreibt mit ermüdender Genauigkeit die komplexen Rituale, die bei keiner höfischen Zeremonie fehlen durften. Bei solchen Anlässen war Herzog Karl »als Fürst und Herrscher über alle stets prächtiger und reicher gekleidet als alle anderen«. In puncto Detailbesessenheit übertraf Chastellains Nachfolger Olivier de la Marche diesen freilich noch in seiner Beschreibung des Hofhalts des Herzogs Karl von Burgund. Alle nachfolgenden Autoren brauchten sich daran nur noch ein Beispiel zu nehmen.31 La Marche, der zugleich als Lehrer des Erzherzogs Philipp fungierte, vertrat die Werte von Rang und Würde auch in seinem berühmtesten Werk Le chevalier déliberé (»Der unverzagte Ritter«), einem melancholischen Versepos, dessen Held und Icherzähler ein Ritter »im Herbst seines Lebens« ist. Viele Schlachten hat er geschlagen, aber jetzt muss er sich auf sein letztes Turnier vorbereiten: den Kampf gegen den Tod (la Mort), hier eine weibliche Gestalt, die bereits Herzog Philipp den Guten von Burgund, dessen Sohn Karl den Kühnen und die Enkelin Maria auf dem Gewissen hat. Unser Held ist entschlossen, diese Tode zu rächen, bevor er sich zum eigenen Sterben in ein Kloster zurückziehen will, aber zunächst sucht er diejenigen auf, die ihm mit Rat zur Seite stehen können – sowohl in geistlicher Hinsicht (denn vor dem letzten Kampf will er sich mit Andacht und Frömmigkeit rüsten) als auch in praktischen Dingen (mit Ratschlägen wie: »Handle nie im Zorn!« oder »Denke stets an alles!«).32

Le chevalier déliberé hat Karl V. nachhaltig beeindruckt. Einen Großteil der Ratschläge, die der Ritter im Gedicht erhält, hat er in den Instruktionen, die er für seinen Sohn und Erben Philipp 1543 eigenhändig niederschrieb, gewissermaßen »recycelt«; sieben Jahre darauf begann er gar, La Marches ganzes Epos vom Französischen ins Spanische zu übersetzen »unter gebührender Berücksichtigung nicht nur der Sprache, sondern auch der dichterischen Form und der genauen Bedeutung der Worte«; und als Karl sich 1556 nach Spanien zurückzog, hatte er zwei Exemplare des Werkes im Gepäck (das französische Originalmanuskript und seine eigene Übersetzung, die auch 19 Illustrationen enthielt) (Abb. 6).33 Es überrascht nach alldem nicht, dass sich in Karls Leben so viele Spiegelungen und Reflexe jener ritterlichen Welt finden lassen, die Le chevalier déliberé und ähnliche Werke entwarfen: Karls Eifer etwa, mit dem er 1528 und 1538 komplexe politische Streitlagen durch Duelle bereinigen wollte; oder die 1538 einem Gesandten gegenüber gemachte Aussage, »dass der Tod unsicher ist, sowohl sein Ort als auch die Stunde, die Gott allein sich beide vorbehält. Und so wolle er dieses Ihm überlassen, denn er wisse wohl, dass das Wohlergehen seines Sohnes – und ja auch sein eigenes Leben – ganz unter Seiner Vorsehung steht«; oder die 1552 von seinem Beichtvater festgehaltene Erinnerung »an etwas, was ich Euer Majestät einmal sagen hörte: dass ein Mann, der seine Ehre verliert, noch am selben Tag sterben solle, denn er sei nun nichts mehr wert«.34 Karls burgundisches Erbe erklärt so manches: seine tiefe Verehrung für den Orden vom Goldenen Vlies (den Herzog Philipp der Gute gestiftet hatte), seine Ambitionen zur Rückeroberung Konstantinopels (wie es Philipps Erbe, Herzog Johann, versucht hatte), seinen Wunsch, Ruhm und Ansehen zu gewinnen, »bevor es zu spät ist«, und nicht zuletzt seinen in regelmäßigen Abständen zur Schau gestellten Fatalismus. Wie Federico Chabod bemerkt hat: »Die stärksten Antriebskräfte in Karls Seelenleben, sowohl in Verstandes- als auch in Gefühlsdingen, erwuchsen aus der Tiefe der burgundischen Kultur.«35

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