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Vorwort
ОглавлениеBraucht die Welt tatsächlich noch ein weiteres Buch über Karl V., den Herrscher über ein Reich, das in Europa das heutige Spanien, Deutschland, die Niederlande und halb Italien umfasste und darüber hinaus weite Teile Mittel- und Südamerikas? Schließlich hat schon der Kaiser selbst seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben, sind seitdem Hunderte von Biografien in Dutzenden Sprachen über ihn erschienen und führt der Online-Katalog WorldCat allein für das aktuelle Jahrhundert mehr als 500 Bücher auf, die Karl V. im Titel tragen. Dennoch gilt auch hier: Kein Werk ist je perfekt. Der Kaiser verfasste seine triumphalistische Autobiografie im Jahr 1550 auf dem Höhepunkt seiner Macht und manche der späteren »Lebensbilder« sind erkennbar parteiisch (noch im 19. und 20. Jahrhundert haben einige Biografen die Leistungen des Kaisers vor den Karren ihrer eigenen ideologischen Ziele gespannt).
Karls moderne Biografen gehören in der Regel einem von zwei Lagern an: Die einen beklagen sich, der Gegenstand ihrer Forschungen habe nicht genügend Aufzeichnungen hinterlassen, als dass sich ein ordentliches Porträt rekonstruieren ließe – die anderen behaupten, es gebe ganz im Gegenteil viel zu viel Material. So hat etwa der Historiker Scott Dixon, der dem erstgenannten Lager zuzuzählen ist, im Jahr 2003 erklärt, Karl V. habe uns »in den Akten nur wenige Hinweise darauf hinterlassen, wie er denn nun eigentlich gewesen ist … Unter den vielen Tausend Briefen, die über sein Pult gingen, gibt es nur eine Handvoll, in denen persönliche Details zur Sprache kommen«. Im Jahr darauf äußerte sich Harald Kleinschmidt ganz ähnlich: »Es gibt eine Fülle von Dokumenten, die Karls Namen tragen. Die meisten davon hat der Kaiser jedoch nie zu Gesicht bekommen. Und unter der Minderheit von Briefen, die er eigenhändig verfasst hat, gibt es durchaus solche, die nicht Karls eigene Ansichten widerspiegeln, sondern vielmehr die seiner Ratgeber.«1
Karl Brandi, der eine große, zweibändige Biografie über den Kaiser verfasst hat, gehörte zum anderen Lager: »Wiederum auf Jahrhunderte«, schrieb Brandi im Jahr 1937, »kennen wir kaum einen Fürsten, von dem so viele und so intime eigenhändige Dokumente vorliegen.« Nur wenige Jahre darauf ging Federico Chabod sogar noch weiter, indem er kurzerhand erklärte, uns habe »kein anderer Herrscher in der Geschichte so viele eigenhändig verfasste Schriftstücke hinterlassen wie Karl V.«. Und 1966 argumentierte Fernand Braudel, früheren Historikern sei vor allem deshalb noch keine überzeugende Rekonstruktion von Karls »Denken, seinem Temperament und Charakter« gelungen, weil die überlieferten Quellen schlicht zu zahlreich seien. »Inmitten dieses Papierwusts nach der Persönlichkeit des Kaisers suchen«, resümiert er, komme der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleich. Braudels belgischer Kollege Wim Blockmans pflichtete dem 2002 bei: »Die Fülle des Quellenmaterials ist derart gewaltig, dass man es unmöglich ganz zur Kenntnis nehmen kann.«2
Wirklich unmöglich? Sicher, der Umfang der Überlieferung ist tatsächlich gewaltig. Seinen ersten Brief unterzeichnete der spätere Kaiser im Alter von gerade einmal vier Jahren (Abb. 2), und bis zu seinem Tod sollten mehr als 100 000 weitere Dokumente in niederländischer, französischer, deutscher, italienischer, lateinischer oder spanischer Sprache folgen, die Karl mit seiner Unterschrift versah und bisweilen noch um ein Postskriptum von eigener Hand ergänzte. Allein jene Schreiben, die er komplett eigenhändig verfasste (meist auf Französisch oder Spanisch, manchmal auch auf Deutsch), füllen viele Tausend Seiten im großen Folioformat. Sein Briefausstoß liegt heute in Archiven und Bibliotheken über ganz Europa verstreut, was sich nicht zuletzt darauf zurückführen lässt, dass er so viel unterwegs war: Beinahe die Hälfte seines Lebens, mehr als 10 000 Tage, verbrachte er in den Niederlanden und beinahe ein Drittel (mehr als 6500 Tage) in Spanien; aber er verbrachte auch mehr als 3000 Tage in Deutschland und beinahe 1000 in Italien. Frankreich besuchte er viermal (für insgesamt 195 Tage), Nordafrika und England je zweimal (für 99 beziehungsweise 44 Tage). Und so gut wie überall, wo er hinkam, hinterließ er eine Spur aus Papier und Pergament. Allein während der 260 Tage, die Karl auf seinen Reisen von einem Herrschaftsgebiet ins nächste auf hoher See verbrachte, entzieht er sich der Neugier der Historiker.3
Obwohl er niemals den Atlantik überquerte, hat Karl V. auch in seinen amerikanischen Herrschaftsgebieten eine Dokumentenspur hinterlassen. Allein in den Jahren 1542 und 1543 erließ der Vizekönig von Mexiko fast 1500 Dekrete in Karls Namen, viele davon auf direkte kaiserliche Anordnung. Einige dieser Erlasse (cédulas reales) bildeten die rechtliche Grundlage für neu angelegte aztekische Siedlungen (altepetl), was sie im Laufe der Zeit als wertvolle Gründungsurkunden, von denen bis in die 1990er-Jahre hinein Abschriften erstellt wurden, geradezu ikonisch werden ließ. Und da außerdem »in der Welt des prähispanischen Mexiko die Gründung der diversen altepetl nach dem Willen und unter dem Schutz der Götter stattfand«, wurde Karl in manchen dieser Gemeinwesen schon bald wie ein Gott verehrt.4
Der Kaiser selbst strebte auf konventionelleren Wegen nach Unsterblichkeit: Er saß für Porträtgemälde Modell, gab Geschichts- und Kunstwerke in Auftrag, ließ Paläste errichten und spielte in großen Propagandaspektakeln die Rolle des glanzvollen Herrschers (besonders bei den zeremoniellen »Einzügen« in diverse Städte: Abb. 7). Massenhaft wurde das Konterfei des Kaisers auf Münzen, Medaillen und Keramik unters Volk gebracht, ja sogar auf Damespielsteinen (Abb. 30) und natürlich in Büchern und auf Flugblättern. Musiker komponierten Werke, um Karls Erfolge zu verherrlichen (den Sieg in der Schlacht bei Pavia beispielsweise oder seine Kaiserkrönung), manchmal aber auch, um Rückschläge zu verklären (etwa den Tod seiner Ehefrau). Eine international besetzte Heerschar von Dichtern, Malern, Bildhauern, Glasern, Druckern, Webern, Gold- und Waffenschmieden, Edelsteinschneidern, Geschichtsschreibern und Sekretären bemühte sich nach Kräften, dem offiziell gewünschten Image des Kaisers Geltung zu verschaffen. Karl V. folgte dem Rat aus Baldassare Castigliones einflussreichem Brevier über höfische Umgangsformen, Il Libro del Cortegiano (»Das Buch vom Hofmann«), einem seiner Lieblingsbücher überhaupt, das erschienen war, als sein Verfasser als Gesandter am Kaiserhof weilte, und das auf Karls Anweisung hin ins Spanische übersetzt wurde: Egal was der Kaiser tat – ob gehen, reiten, streiten, tanzen oder sprechen –, er behielt dabei mit einem Auge stets sein Publikum im Blick.5 Er wäre entsetzt gewesen, zu erfahren, dass im 19. Jahrhundert eine spanische Regierung sein Grab öffnen und seine mumifizierten Überreste als Touristenattraktion ausstellen würde – und dass manche Besucher Zeichnungen anfertigten, während andere die kaiserlichen Gebeine fotografierten (Abb. 39). Einem Besucher gelang es durch Bestechung eines Wärters sogar, eine kaiserliche Fingerspitze abzutrennen und als Souvenir mitzunehmen – dieser Vandalismus sollte sich später als ein Glücksfall für die Forschung herausstellen, denn die gerichtsmedizinische Untersuchung des abgetrennten Fingerglieds, das inzwischen in einem speziellen Behälter verwahrt wurde, lieferte zwei substanzielle medizinische Befunde: Karl V. hatte tatsächlich an chronischer Gicht gelitten (wie er oft beklagte); und er war vergleichsweise schnell gestorben, nämlich an einem schweren Fall von Malaria (Anhang II).
»Arma virumque cano« (»Waffentat künde ich und den Mann«): Heinrich Lutz hat diese Eröffnungsworte von Vergils Aeneis – einem Text, mit dem Karl vertraut war – in einem wichtigen Aufsatz zitiert, in dem er sich mit den zahlreichen Tücken beschäftigt, mit denen sich jeder angehende Biograf Karls V. auseinandersetzen muss. Lutz wollte damit unterstreichen, dass eine Biografie des Kaisers sich auf jene Aspekte zu konzentrieren habe, die Karls Zeit, Energie und Ressourcen maßgeblich in Anspruch nahmen. Vor allem anderen war das der Krieg und die Vorbereitung desselben – nicht nur, weil Feindseligkeiten einen so großen Teil seiner Regierungszeit ausfüllten, sondern auch, weil der Kaiser gemäß dem Eindruck seiner Zeitgenossen »am glücklichsten auf dem Feldzug und bei seinem Heer« war. Lutz argumentierte, dass andere historische Entwicklungen, ja selbst Renaissance und Reformation, in einer Biografie Karls V. nur insoweit auftauchen sollten, als sie für Karl selbst von Bedeutung schienen, und dass sie stets gleichsam mit seinen Augen betrachtet werden sollten.6
Diese mahnenden Worte von Heinrich Lutz im Sinn bemüht sich die vorliegende Biografie darum, mithilfe der verfügbaren Quellen – von Schriftstücken bis hin zu Fingerstücken – drei zentrale Fragen zu beleuchten:
−Wie fällte Karl jene weitreichenden Entscheidungen, die das erste und langlebigste transatlantische Großreich der Geschichte erschufen, erhielten und erweiterten?
−Waren es strukturelle Mängel oder persönliche Unzulänglichkeiten, aus denen Karls politische Versäumnisse erwuchsen? Wäre ein Monarch mit größerem politischen Geschick womöglich erfolgreicher gewesen? Oder hatten die Umstände ein Weltreich entstehen lassen, dessen Größe ihm schließlich selbst zur Last wurde? Im Jargon unserer Gegenwart gesprochen: War es der Kaiser als Akteur oder waren es die Strukturen, in denen er agierte, die am Ende dazu führten, dass Karl sein Reich nicht unversehrt weitergeben konnte?
−Was war es, das Karls Wesen recht eigentlich kennzeichnete? Gleich zu Beginn seiner Reflexionen über eines der größten Vorbilder Karls, Alexander den Großen, schreibt Plutarch (einer von Karls Lieblingsautoren): »Hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten.« Auch die vorliegende Biografie schöpft aus vielen solchen spontanen, aber umso aufschlussreicheren Episoden.7
Das verfügbare Quellenmaterial ist zwangsläufig ungleich verteilt. Wie jeder andere Mensch auch hat Karl V. gegessen und getrunken, hat geschlafen und ist anderen körperlichen Bedürfnissen nachgekommen – Tag für Tag. Aber aus den Quellen erfahren wir davon nur, wenn diese Dinge einmal problematisch wurden (wenn der Kaiser von Schlaflosigkeit geplagt wurde; wenn er sich übergeben musste; wenn er »heißen Seich« absonderte; wenn seine Hämorrhoiden ihn »heulen ließen wie ein Wickelkind«). Auch verbrachte Karl einen gewissen Teil des Tages im Gebet, hörte regelmäßig die heilige Messe und zog sich jedes Jahr zur Karwoche in ein Kloster zurück, wo er sich strikt weigerte, Regierungsgeschäfte zu tätigen. Aber als Historiker haben wir nicht die leiseste Ahnung, was der Kaiser in seiner Zeit der Abgeschiedenheit stattdessen tat – wenn nicht gerade etwas Außergewöhnliches vorfiel (er etwa beim Gottesdienstbesuch ohnmächtig wurde und über eine Stunde lang bewusstlos blieb oder er sich zu ungewohnter Zeit, etwa kurz vor oder nach dem Fällen einer wichtigen Entscheidung, zum Gebet zurückzog oder die Beichte ablegte).
Außerdem waren, wie Karl in den vertraulichen Instruktionen beklagte, die er 1543 für seinen Sohn und Erben Philipp verfasste, manche politischen Entscheidungen »derart undurchschaubar und ungewiss, dass ich nicht weiß, wie ich es Euch überhaupt erklären soll«, da sie »voller Wirrungen und Widersprüche stecken«.8 Aber zumindest einmal hat der Kaiser wohl doch versucht, alles in schonungsloser Klarheit darzustellen. Jedenfalls vertraute im November 1552 Karls Kammerherr Guillaume van Male einem Kollegen an, der Kaiser habe ihm gerade befohlen,
»die Türen zu seinen Gemächern zu verschließen, und nahm mir dann das Versprechen ab, über das, was er mir nun sagen wolle, äußerstes Stillschweigen zu bewahren … Er hielt nichts zurück, und was ich zu hören bekam, verschlug mir die Sprache. Selbst jetzt noch überläuft mich ein Schauder, wenn ich daran denke, und eher würde ich sterben, denn einem anderen als dir davon zu erzählen. Jetzt kann ich offen schreiben, denn der Kaiser schläft, die Nacht ist tief und alle anderen haben sich bereits zurückgezogen.«
»Lange werde ich brauchen«, fährt van Male verheißungsvoll fort, »um dir sämtliche Einzelheiten zu berichten«, denn »der Kaiser hat mir alles anvertraut, was in seinem Leben je geschehen ist«. Er habe ihm »sogar ein handschriftliches Papier gegeben, in dem alle seine früheren Missetaten aufgeführt stehen«, darunter auch »viele Dinge, die er anders hätte angehen sollen – teils, weil er etwas zu tun versäumt hatte, teils, weil er später noch etwas ändern wollte«. Zum Leidwesen aller Historiker überkam an diesem Punkt auch Guillaume van Male die Müdigkeit und zwang ihn, die Feder beiseitezulegen. Sollte er die »sämtlichen Einzelheiten« seiner intimen Unterredung mit Karl V. zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Papier gebracht haben, dann hat jener zweite Brief (genau wie des Kaisers handschriftliche Liste seiner Verfehlungen) die Zeitläufte nicht überdauert.9
Dennoch: Genügend Quellen haben überlebt, um in die »Wirrungen und Widersprüche« von Karls Leben zumindest einige Klarheit zu bringen. Von der überlieferten Masse seiner eigenen Korrespondenz einmal abgesehen, zog der Kaiser natürlich die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von Zeitgenossen auf sich: Freunde wie Feinde schrieben über ihn so oft und so ausführlich wie über keine andere lebende Person – nicht einmal Martin Luther. Von seiner Geburt bis zu seiner Abdankung beäugten und berichteten die am Hof weilenden Gesandten jeden seiner Schritte, jedes Wort und jede Geste. Von größeren öffentlichen Ereignissen wie etwa Karls Kaiserkrönung in Bologna 1530 oder seiner Abdankung in Brüssel 1555 sind uns ein Dutzend oder mehr Augenzeugenberichte überliefert. War der Kaiser auf Reisen – und im Laufe seiner Regentschaft hielt er sich an über tausend Orten auf, von Wittenberg bis Sevilla und von London bis Algier (Karte 1) –, vervielfachte sich die Zahl der Berichte, sodass wir manchmal seine Bewegungen auf die Stunde genau nachvollziehen können.10 Karl war nie allein. Höflinge und Diplomaten begleiteten ihn selbst auf seinen einsamsten Reisen, etwa seinen ersten Wochen in Spanien im Jahr 1517, als er eben dabei war, sein Erbe anzutreten. Da durchquerte er das Gebirge der Picos de Europa im Norden des Landes, übernachtete in Bauernhütten neben dem Vieh und wurde am Tag von Bären bedrängt. Auch als er 1552 über die Alpen flüchtete, um einer Gefangennahme durch seine deutschen Untertanen zu entgehen, umgab ihn sein Gefolge, und noch in den entlegensten Bergdörfern beschlagnahmten Karls Lakaien »Notfallbettzeug« für das kaiserliche Nachtlager. Selbst nachdem er sich in sein Landhaus nahe dem Kloster von Yuste in der Abgeschiedenheit der Sierra de Gredos in der Estremadura zurückgezogen hatte, wurde er noch genau beobachtet: Mindestens zwei der Mönche führten ein Tagebuch, in dem ihr illustrer Gast die Hauptrolle spielte; so gut wie jeden Tag vermerkten auch seine Hofleute, was der Kaiser im Ruhestand gesagt und getan hatte; und nach seinem Tod sagten zwanzig Augen- und Ohrenzeugen unter Eid darüber aus, was sie gesehen und gehört hatten, als Karl im Sterben lag. Bizarrerweise sind die letzten Tage Karls V. wohl der am besten bekannte Abschnitt seines gesamten Lebens.
»Mein Gott, wie schreibt man eine Biographie? Sag es mir«, schrieb Virginia Woolf 1938 an ihre Freundin Vita Sackville-West (ebenfalls eine Biografin). »Wie soll man mit den Fakten umgehen – so vielen und so vielen und so vielen?«11 Vierhundert Jahre zuvor hatte der spanische Humanist Juan Páez de Castro, den Karl beauftragt hatte, »das Leben Seiner Majestät« niederzuschreiben, mit demselben Problem gerungen. Bevor er sich an die eigentliche Arbeit machte, hatte Páez de Castro ein Konzept erstellt, um dem Kaiser darzulegen, wie er mit »so vielen Fakten« umzugehen gedachte. Zunächst wies er auf seine Qualifikationen hin: Nach eigenen Angaben beherrschte er sechs Sprachen (darunter auch Chaldäisch) und besaß Kenntnisse des Rechts, der Naturkunde und der Mathematik. Da aber »das Schreiben nicht allein auf Einfallsreichtum und Erfindungskraft beruht, sondern auch auf Arbeit und Mühe, um das Material zu sammeln, über das geschrieben werden soll«, müsse ebendieses ausfindig gemacht werden. Páez de Castro beabsichtigte daher, ausnahmslos jeden Ort aufzusuchen, »der die Banner Eurer Majestät erblickt hat, um daraus den Glanz zu gewinnen, den ich für dieses Werk ersehne«. An all diesen Orten wollte er »ehrbare und gewissenhafte Leute befragen, die Inschriften auf öffentlichen Denkmälern und Grabmalen lesen, die alten Aufzeichnungen der Notare durchforsten, wo sich viele Dinge finden, die von historischem Interesse sind, und den Inhalt aller früheren Historien wiedergeben, aus alten und aus neueren Zeiten, von guten wie von schlechten Schreibern«. Schließlich »wird es notwendig sein, in zahlreichen Fragen Eure Majestät selbst zu konsultieren« mit dem Ziel, für kontroverse Entscheidungen »die Beweggründe in Erfahrung zu bringen«. Das war ein exzellentes Ansinnen, doch Karl V. starb, bevor Páez de Castro ihn konsultieren konnte; und der Autor selbst segnete ebenfalls das Zeitliche, ohne auch nur einen Teil des Werks zu vollenden.12
» In seiner Brüsseler Abdankungsrede erinnerte Karl V. seine Zuhörer 1555 daran, dass er ihretwegen vierzig »große Reisen« unternommen hatte. Er sollte noch eine weitere, seine letzte große Reise antreten, die ihn in das Kloster von Yuste in der spanischen Estremadura führte. Alles in allem war Karl V. somit der am weitesten gereiste Herrscher des frühneuzeitlichen Europa. Quelle: de Boom, »Voyage«, Faltkarte
Der vorliegende Band präsentiert das Leben Karls V. in vier chronologisch geordneten Abschnitten. Die dazwischengeschobenen kurzen »Porträts« sollen zeigen, wie Karl von seinen Zeitgenossen in entscheidenden Momenten seines Lebenswegs wahrgenommen wurde: im Jahr 1517, als er zum ersten Mal die Niederlande verließ; dann 1532 in voller Reife; schließlich 1548 auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die einzige Ausnahme von dieser Gliederung bildet ein thematisches Kapitel über »Die Zähmung Amerikas«. Als erster Europäer, der über nennenswerte Teile der beiden Amerikas herrschte, entwickelte Karl ein ausgeprägtes Interesse an diesem gewaltigen Doppelkontinent: Obgleich ihm vor allem daran gelegen war, die Ressourcen der Neuen Welt bestmöglich zur Finanzierung seiner Vorhaben in der Alten heranzuziehen, nahm der Kaiser zeit seines Lebens regen Anteil, wenn es etwa um die Flora und Fauna ging oder um die Bevölkerung, sei sie einheimisch oder neu zugezogen. Insbesondere seinen indigenen Untertanen wollte er geistliche Führung und materielle Sicherheit zuteilwerden lassen, was er durchaus als eine Frage seines »königlichen Gewissens« auffasste, denn »als er erfuhr, dass all die eingeborenen Bewohner von Hispaniola, Kuba und den anderen [karibischen] Inseln als Zwangsarbeiter in den Minen zu Tode gekommen waren, fasste er die Überzeugung, dass er selbst unweigerlich in der Hölle landen werde, sollte er jenes Vorgehen weiterhin zulassen«.13 Nur wenige seiner Zeitgenossen interessierten sich für Amerika, und selbst Erasmus von Rotterdam schrieb kaum ein Wort über die Neue Welt. Karl war der einzige europäische Herrscher im 16. Jahrhundert, der aus Prinzip für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner Stellung bezog. Seine Gesetzgebung »sollte auf lange Zeit ein effektiver Hemmschuh gegen die Unterdrückung der Indios bleiben«. Nicht zuletzt deshalb sind Karls Initiativen in der Neuen Welt es wert, dass man sich eingehend mit ihnen beschäftigt.14
Auch Páez de Castro hatte vorgehabt, die Leistungen Karls V. in der Neuen Welt in seiner Biografie ausführlich zu würdigen; anderes wieder wollte er aussparen. Obwohl er nämlich der Meinung war, ein Historiker solle »die Bösen verdammen und verteufeln, auf dass ihre Taten in Zukunft nicht wiederholt werden«, aber »die Guten loben und preisen, um zu Nachahmung zu ermutigen«, unterschied er doch zwischen »denjenigen Details, die der Geschichte eigen sind«, und »jenen, die ohne Schmälerung der Wahrheit im Tintenfass des Autors verbleiben sollten«.15 Ich selbst habe im Guten wie im Schlechten kaum ein Detail über den Kaiser in meinem Tintenfass belassen. Auf der persönlichen Ebene habe ich Karl für seine stupenden Sprachkenntnisse gelobt (im Laufe der Zeit erlernte er neben seiner französischen Muttersprache auch das Italienische und das Spanische und sprach zudem ein wenig Niederländisch und Deutsch), ihn für sein großes Geschick und Können als Schütze und Reiter sowie für seinen persönlichen Mut und seine Führungsqualitäten auf dem Schlachtfeld gepriesen, wo selbst feindlicher Beschuss den Befehlshaber nicht aus der Ruhe bringen konnte. Auch wusste Karl, wie man Loyalität und Zuneigung gewinnt. Ein Diplomat erlebte 1531 mit, wie Karl zu einer Menschenmenge sprach, »so ergreifend und liebenswürdig, dass er seine Zuhörer beinahe zu Tränen rührte«, und als er geendet hatte, war sein Publikum »ganz und gar einmütig, als wenn sie seine Sklaven geworden wären«. Als der Kaiser starb, stießen die untröstlichen Mitglieder seines Gefolges »ein lautes Wehgeschrei aus, schlugen sich vor Gram ins Gesicht und mit dem Kopf gegen die Wand«. Und einige Jahre später vertraute Ferdinand, Karls Bruder und Nachfolger als Kaiser, seinem Leibarzt an, dass er »den Kaiser geliebt und verehrt habe wie einen Vater«.16
Was das Verdammen und Verteufeln betrifft, so habe ich festgehalten, dass Karl entgegen seinen eigenen Behauptungen die Plünderung Roms und die Gefangennahme Papst Clemens’ VII. im Jahr 1527 sehr wohl im Vorhinein genehmigt hatte; dass er auch über den 1541 verübten Mord an Antonio Rincón und Cesare Fregoso, zwei französischen Diplomaten, gelogen hat; und nicht zuletzt, wie er 1553 sein feierliches Versprechen gebrochen hat, seinen Sohn Philipp mit einer portugiesischen Prinzessin zu verheiraten. In manchen Fällen (so 1527 und 1541) bestritt Karl wiederholt, öffentlich und mit Nachdruck, dass er gelogen hatte; in anderen lehnte er es schlichtweg ab, sein Fehlverhalten überhaupt zu erörtern. Als etwa 1554 ein portugiesischer Gesandter vorstellig wurde, um gegen die Zurückweisung der Prinzessin zu protestieren, »teilten wir ihm mit, was notwendig war, ohne die Sache rechtfertigen oder weiter diskutieren zu wollen, denn wenn solche Dinge einmal geschehen sind, ist es am besten, man verstellt sich«.17 Auch im Privatleben konnte Karl ein wahres Ekel sein. Als er 1517 herausfand, dass seine ältere Schwester Eleonore sich in einen Höfling verliebt hatte, zwang er sie, vor einem Notar unter Eid ihrer Liebe abzuschwören und zu versprechen, ihrem Bruder künftig in allem gehorsam zu sein. Im Jahr darauf musste sie einen ihrer Onkel heiraten, der mehr als doppelt so alt war wie sie. Im Jahr 1530 ordnete Karl an, dass Tadea, eine seiner drei unehelichen Töchter, ein dauerhaftes »Zeichen an ihrem rechten Bein unterhalb des Knies« erhalten solle – bestenfalls eine Tätowierung, im schlimmsten Fall ein Brandzeichen. Drei Jahre darauf handelte er einen Heiratsvertrag zwischen seiner elfjährigen Nichte Christina von Dänemark und einem viermal so alten Mann aus, der das vertragliche Recht erhielt, die Ehe unverzüglich zu vollziehen. Die größte Schande war jedoch, was Karl seiner Mutter Johanna antat, jener Königin, die als »Johanna die Wahnsinnige« in die Geschichte eingehen sollte. Er ließ sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1555 physisch einsperren und streng bewachen und hielt sie zudem über Jahre hinweg in einer Schein- und Wahnwelt voller »Fake Facts« gefangen (so behauptete er beispielsweise noch lange nach dem Tod ihres Vaters, des Königs Ferdinand, steif und fest, dass dieser noch am Leben sei). Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, raubte Karl seine Mutter regelrecht aus: Bei seinen Besuchen ließ er wertvolle Wandteppiche, Geschmeide, Bücher, Silberzeug und sogar liturgische Gewänder mitgehen, die er dann als Hochzeitsgeschenke für seine Schwester und seine eigene Ehefrau »recycelte«. Damit Johanna den Raub zumindest nicht bemerkte, bevor ihr Sohn erfolgreich das Weite gesucht hatte, füllte dieser die geplünderten Truhen mit Backsteinen von gleichem Gewicht.
Wir haben es also mit einer ganzen Reihe verwirrender Widersprüche zu tun, und ich habe mich nach Kräften bemüht, diese zu entwirren, indem ich zunächst untersucht habe, wie Karl zu seinen Handlungsentscheidungen gelangte, bevor ich die Frage stellte, warum er etwas tat. Diese methodologische Entscheidung hat Folgen, wie Christopher Clark im Vorwort zu seiner atemberaubenden Studie über die Ursachen des Ersten Weltkriegs, Die Schlafwandler, angemerkt hat:
»Die Fragen nach dem Warum und Wie sind logisch untrennbar miteinander verbunden, aber sie führen uns in verschiedene Richtungen. Die Frage nach dem Wie fordert uns auf, die Abfolge der Interaktionen näher zu untersuchen, die bestimmte Ereignisse bewirkten. Hingegen lädt uns die Frage nach dem Warum ein, nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen … Der ›Warum-Ansatz‹ bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt. Die Faktoren türmen sich auf und drücken auf die Ereignisse; politische Akteure werden zu reinen ausführenden Organen der Kräfte, die sich längst etabliert haben und ihrer Kontrolle entziehen.«
Wie Clark habe auch ich deshalb versucht, »nach Möglichkeit … die Antworten auf die Warum-Frage … aus den Antworten auf Fragen nach dem Wie erwachsen [zu lassen], statt umgekehrt«, und das, obwohl ja die Frage nach dem »Wie« unweigerlich das Spannungsverhältnis zwischen individueller Handlungsmacht und Macht des Zufalls akzentuiert, während die Frage nach dem »Warum« eher Strukturen und Kontinuitäten in den Vordergrund stellt.18
Um das Verhalten Karls V. verstehen und erklären zu können, habe ich wie Páez de Castro mehrere Sprachen gelernt (wenn auch nicht Chaldäisch) und verschiedene Disziplinen studiert (wenn auch nicht Recht, Naturwissenschaften oder Mathematik); ich habe die Orte besucht, die »seine Banner erblickt haben« (und insbesondere jene, die seine archivalische Hinterlassenschaft bewahren); ich habe »die meisten früheren Historien« gelesen, »aus alten und aus neueren Zeiten, von guten wie von schlechten Schreibern«; und ich habe die überlieferten Dokumente gründlich erforscht. Zwar war es auch mir leider nicht möglich, »in zahlreichen Fragen Eure Majestät selbst zu konsultieren«, um mehr über Karls Beweggründe zu erfahren. Aber es hat doch mehr als genug Quellenmaterial überlebt, um dem Leser eine eigene Entscheidung zu ermöglichen: Will er jenen Glauben schenken, die den Kaiser vergötterten, oder jenen, die ihn verteufelten?
Sollen wir uns also auf die Seite von Luis Quijada schlagen, der den Kaiser über zwanzig Jahre lang persönlich gekannt hatte, auch an seinem Sterbebett zugegen gewesen war und ihn hernach rundheraus zum »größten Mann« erklärte, »der jemals gelebt hat«? Auf die Seite des Jesuiten Francisco de Borja, der behauptete, dass in seinen Unterhaltungen mit Karl V. Gott selbst zu ihm gesprochen habe? Oder halten wir es doch mit Papst Paul III., der den Kaiser »einen undankbaren Menschen« schalt, »der seiner Freunde nur dann gedenkt, wenn er sie sich zunutze machen will«; oder mit jenem französischen Gesandten, der sich ganz ähnlich äußerte: »Bei genauer Betrachtung werdet Ihr feststellen, dass der Kaiser sich noch um keinen Menschen je gekümmert hat, den er nicht für seine Zwecke einzusetzen gewusst hätte«?19 Jubeln wir mit Gustav Bergenroth, der ein ganzes Jahrzehnt in den Archiven Westeuropas zubrachte und rund 18 000 Dokumentseiten von und über Karl V. transkribierte, wenn wir sehen, wie der Kaiser »Stück um Stück zusammenbricht … politisch, moralisch, körperlich, bis er sein erbärmliches Leben schließlich in der erbärmlichen Zurückgezogenheit von Yuste zu Ende bringt«? Dann können wir uns Bergenroths Verdikt anschließen, Karls Lebensweg sei »eine der größten Tragödien, die jemals gegeben wurden«. Oder folgen wir dem Urteil Karl Brandis, der als einer von ganz wenigen Forschern noch mehr Dokumente von und über Karl V. gelesen hat als selbst Bergenroth? Brandi schrieb am Schluss seiner großen Biografie über den Kaiser, dieser sei »immer ein Mensch [gewesen] und im täglichen Leben gebrechlich und schwach in Neigungen und Eigenwilligkeiten, aber in den bleibenden Zügen seines Wollens, in der Tapferkeit seiner Haltung doch zur historischen Figur geworden«.20 Gibt es an Karl V. als historischer Figur tatsächlich mehr zu loben als zu verdammen? Und braucht die Welt noch ein weiteres Buch über diesen Mann? Geneigte Leserin, geneigter Leser: Entscheiden Sie selbst.