Читать книгу Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch - Страница 10
5. Kapitel
ОглавлениеNein, ich will diese Nähe nicht! Lass mich los, gib mich frei, du tust mir weh! Mein Körper ist regungslos, wie in Beton gegossen. Ich kann mich dieser Nähe nicht entziehen. Warum hilft mir keiner? Hilfe, Hilfe, Hilfe …
Ein besorgter Pfleger der Intensivstation blickt auf die Geräte, die Karl Nebel umgeben. Er regelt etwas nach, wendet sich Susanne zu und gibt ihr durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass alles in Ordnung ist. Am Bett sitzend wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Soeben hat sie begonnen, Karl die Geschichte ihres Kennenlernens zu erzählen.
„Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal im Hausflur begegnet sind. Ich war mit meiner Familie von Sachsen-Anhalt nach Sachsen umgezogen, in die kleine Zweizimmerwohnung, obwohl die Tochter schon acht Jahre alt war. ‚Eine Wohnung mit Kinderzimmer haben wir nicht, müsst halt so zurechtkommen‘, hatte der Oberleutnant vom Stab gesagt, der für die Wohnraumvergabe verantwortlich war. Du warst seit mehreren Monaten gegenüber beschäftigt, so hatte ich gehört, Löcher in die Wände zu bohren. Ich konnte nicht begreifen, warum die Dreizimmerwohnung nutzlos leer stand und wir nebenan eingepfercht waren. Na gut, ich erfuhr später, dass deine Frau ihre Tochter mitgebracht hatte. Aber ungerecht war es trotzdem. Ich stehe also so vor der Tür, du gegenüber, bewaffnet mit Schrubber und Eimer, im Begriff die Treppe zu wischen. Weißt du noch, was du geantwortet hast, als ich dir meine Hilfe bei der Hausordnung anbot? Ja, mein Lieber, ohne mich anzusehen kam: ‚Das kann ich selber‘, mehr nicht. Was für ein kotzüberheblicher Heini, habe ich damals gedacht. Das habe ich dir aber auch schon ein paar Mal erzählt.“
Susanne hält inne, als warte sie darauf, dass Karl ihr antwortet. Aber er liegt noch immer im Koma und die Ärzte geben keine Prognose. Dass es dauern könne, hat sie nur erfahren, als sie besorgt nachgefragt hat.
Wieder wischt sie sich Tränen vom Gesicht. Sie kann einfach diesen ständigen Fluss nicht unterdrücken. Nach Tagen hat sie es aufgegeben, ihre Weinanfälle zu bekämpfen. Irgendwie erleichtert das auch.
„Ach ja – warst du damals arrogant. ‚Guten Tag‘, das war alles, was man aus dir herausbekam. Es reizte mich schon, dich Muffel umzukrempeln, aber dazu war ich noch nicht bereit. Ja, ich weiß, was du sagen willst: ‚Hast andere Kerle im Kopf gehabt, später jedenfalls.‘ Nein, mein Lieber, da war nichts, ich war brav wie ein Rehkitz. Ich musste mich um eine Arbeit kümmern, in dem Nest, dem trostlosen Dorf. In der Heimatstadt hatte ich eine Stelle bei der Reichsbahndirektion gehabt. Und dann ziehe ich mit meinem Mann und Töchterchen Liesa in dieses Kaff, weil er von der Dienststelle einen Zivilposten in der Kfz-Werkstatt bekommen hatte. Oh, war ich damals doof. Aber etwas Gutes hatte es sonst hätte ich dich, mein Schatz, nie kennengelernt.“
Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Nach einigen Wochen seid ihr dann eingezogen. Mit deiner Frau kam ich sofort ins Gespräch. Manchmal saßen wir auf der Bank vor der Tür, im Schatten der kleinen Birke, weißt du, und sie erzählte mir, wie fleißig du als Hauptfeldwebel warst. Um alles hast du dich kümmern müssen, bis spät in die Nacht hinein, du warst die ‚Mutter der Kompanie‘, erzählte sie immer sehr stolz. Ja, mein Lieber, sie hat dir geglaubt, hat ein unendliches Vertrauen gehabt. Dabei, du Mistkerl, bist du da schon meterweise fremdgegangen. Jeder im Haus wusste es, oder argwöhnte es zumindest. Deine Frau war ahnungslos. Ein guter Schauspieler warst du ja, darauf kannst du dir was einbilden. Nach außen immer der liebe, fürsorgliche Ehemann. Da fällt mir ein, auch deine Schwiegermutter hatte dich in den höchsten Tönen gelobt. Deshalb kam sie auch jeden Früh, euch zu wecken. Ich habe das nie begriffen, dass diese Frau morgens mit dem Fahrrad zu euch geradelt kam, um ans Schlafzimmerfenster zu klopfen, bis drin das Licht anging. Ich hätte euch schlafen lassen. Spätestens nach dem dritten, vierten Mal Zuspätkommen hätten sie dich in der Kaserne behalten. Wie hieß das bei euch, ‚Kasernenarrest‘?“
Susanne hält inne, horcht auf einen Widerspruch aus dem Bett, eine kleine Regung wenigstens. Nichts. Die Apparate summen monoton vor sich hin. Die Kurven auf den Displays sind gleichmäßig. Auch ohne den prüfenden Blick des Pflegers weiß sie, es ist alles in Ordnung. „Nein, in Ordnung ist nichts“, widerspricht sie sich in Gedanken selbst. „Was soll ich tun?“, grübelt sie. „Es ist so schön in letzter Zeit gewesen. Endlich bist du zur Ruhe gekommen, hast deine ständige Hektik abgelegt, dich auf uns, auf mich, die Kinder und Enkelkinder konzentriert. Hast begonnen, zu dir selbst zu finden, nachdem du diesen verfluchten Job gekündigt hast. Ich war so stolz auf dich. Endlich war der Teufelskreis aus Arbeit, Firma, Arbeit, Firma und ganz zum Schluss wir, durchbrochen. Endlich hast du das Wichtigste voran gestellt: deine Familie. Du kannst dich nicht so einfach davonschleichen!“, schreit sie Karl lautlos an. „Du hast gefälligst zu leben. Hast du verstanden? Zu leben!“
Erschrocken zieht sie ihre Hand von seinem Arm zurück. Sie hat ihn geschüttelt, hat ihre Fingernägel tief in das reglose, gefühllose Fleisch vergraben. Wie zur Wiedergutmachung streicht sie ihm zärtlich über die vom Zugriff gekennzeichnete Stelle. „Du darfst uns nicht wegsterben“, signalisieren ihre weichen Fingerspitzen. Nach einer Weile wiederholt sie diese Prozedur, dann tut ihr der Arm weh. Leise steht sie auf, geht zum Fenster. Es hat angefangen zu regnen. Der Wind, der die Regentropfen an die Scheibe drückt, hat sich zu gleicher Zeit auch die große Buche gegenüber dem Fahrweg vorgenommen. Mit ungebändigter Kraft rüttelt er an den Ästen. Bricht hier und da ein Zweiglein ab, kann aber dem Baum nichts antun. Mit ihrem starken Stamm steht sie da, die sturmerprobte Buche, und trotzt dem Spiel der Natur. Susanne nickt unbewusst mit dem Kopf, sie hat Karl mit diesem Baum verglichen. „Bleib standhaft, widersetze dich dem Gevatter Tod. Du schaffst es, da bin ich mir sicher“, beschwört sie ihn lautlos.
Jetzt ruhiger geworden geht sie im Zimmer auf und ab, langsam vom Bett zum Fenster, von da zur Tür, am Geräteturm vorbei und wieder zum Bett. Sie umrundet es und beginnt den Weg erneut. Unzählige Runden vollzieht sie. Es ist inzwischen fast dunkel geworden, die Gegenstände im Zimmer beginnen, ihre Position nur noch schemenhaft preiszugeben. Sie entschließt sich, für heute den Besuch bei ihrem geliebten Mann zu beenden. Die Müdigkeit ergreift Besitz von ihr. Ihre Beine werden schwer. Flüchtig verabschiedet sie sich von Karl, gibt ihm einen zärtlichen Kuss auf seine Stirn und dreht sich in Richtung Tür. Es ist nur ein Abschied für einen kleinen Moment, denn morgen, ja, morgen wird sie ausgeruht wieder zu ihm kommen.
Susanne hat sich am nächsten Tag ihren Lieblingsrock, den weiten braunen aus Italien, und darüber eine leichte rote Leinenbluse, lässig geschnitten, angezogen. Sie liebt diese Art von Bekleidung. Sie mag keine engen Röcke und Blusen mehr, auch keine Schuhe mit hohen Absätzen. Die Zeit ist vorbei.
Im Zug nach Rosenheim hat sie Zeit, darüber nachzudenken: Wie hat sie doch die engen, figurbetonten kurzen Röcke und die etwas keuschen Blusen geliebt. Aber auch lange Kleider, meist ohne Halter um die Brust, dafür breite Gürtel aus Lackleder. Dazu hohe Schuhe, die Haare als Pagenschnitt und blond gefärbt. „Das waren noch Zeiten“, denkt sie vor sich hin und kann ein Lächeln nicht verbergen. „Damals, als ich bei der Stadt angefangen habe, konnte ich mich erstmals richtig ausprobieren, immer der Mode etwas voraus. Ich habe ja gut verdient und mein damaliger Mann brauchte wenig, lief sowieso meist in Schlossersachen herum.“
Susanne wird aus ihren Gedanken gerissen. Der Zug fährt ein und um ein Haar hätte sie das Aussteigen verpasst. Schnell greift sie die, wie immer zu große, Handtasche und den Beutel mit gewaschenen Schlafanzügen und eilt zur Tür. Kaum steht sie sicher auf dem Bahnsteig, schließen sich die Türen und der Zug fährt Richtung München weiter. Es ist noch viel zu zeitig für den Krankenhausbesuch. Sie schlendert durch die Bahnhofshalle, schaut am Zeitungsstand nach einer Illustrierten, um sich nach kurzer Zeit wieder abzuwenden von der schillernden Prominentenwelt, die so gar nicht ihr Interesse weckt. „Kaffee trinken, hier nebenan, das ist eine Idee“, denkt sie und läuft entschlossen in die Richtung.
Am Tisch nimmt sie zwei kleine Schlucke von dem frisch gebrühten Getränk. Ihre Hand gleitet in den Beutel mit den Pyjamas und nach einigem Hin und Her zwischen den Wäschestücken fördert sie das Gesuchte heraus. Sie legt den kleinen Stoffteddy mit dem Verband am Kopf und dem Hemd mit der Aufschrift „Komm bald wieder heim“ vor sich auf den Tisch. Sie hat sich heute früh an dieses Ding erinnert, was seit langer Zeit am Kleiderständer im Wirtschaftsraum sein Dasein fristete. Genau den Teddy hatte Karl vor fast vier Jahren in der Klinik von den Enkelkindern geschenkt bekommen.
Damals hatte er schon einmal auf der Schippe des Todes gesessen. Bei ihm hatten die Ärzte ein Prostatakarzinom diagnostiziert. Viel Zeit wäre ihm nicht mehr geblieben, wenn er nicht sofort operiert worden wäre. Mit aller Kraft hatte er damals den Weg ins Leben zurückgefunden, hatte eisern an seiner Genesung gearbeitet. „Er wird es auch diesmal schaffen“, denkt Susanne und ist sich dessen ganz sicher. Sie umschließt den Teddy mit der Hand, drückt ihn, als wollte sie prüfen, ob er weich genug ist. Sie gibt ihm einen Stups auf die Nase und schaut ihn prüfend an. In Gedanken verabschiedet sie sich von ihm: „Bitte mach deine Sache gut“‚ und legt ihn lächelnd zurück in den Beutel.
Sie lässt sich Zeit für den Weg ins Klinikum, macht noch einen Umweg über den Friedhof. Sie geht zielsicher die Wege zwischen den Grabreihen entlang, biegt um die Mauer mit den Wandgräbern und weiter bis zu dem einen Grab. Hier liegt er, der ehemalige Seniorchef von Karls letzter Firma. Er hatte aus dem Nichts die Firma aufgebaut, sie durch Höhen und Tiefen geführt bis zu seinem Tod mit 89 Jahren. Unermüdlich hatte er gewirkt. Er war stets ein Vorbild für Karl gewesen. Karl hatte ihn gemocht, auch wenn der alte Herr oft keine andere Meinung hatte gelten lassen. Dafür war er Chef gewesen, hatte die Verantwortung für das Ganze getragen. Susanne blickt auf das Bild auf der Grabplatte und leise spricht sie das Abbild an:
„Bitte helfen Sie Karl von da oben, wo Sie jetzt sind. Ich bin so verzweifelt. Tun Sie etwas.“
Eine Weile steht sie vor dem Grab, als warte sie auf eine Antwort von ihm. Ein Spatz setzt sich auf das hölzerne Kreuz vor der Mauer, hüpft aufgeregt auf dem Balken hin und her. Dann hält er inne, legt sein Köpfchen zur Seite und zirpst ein paar Mal. Soll vielleicht heißen: „Hab Mut, es wird alles gut“, redet sich Susanne insgeheim ein. Sie ist in die Realität zurückgekehrt. Mit festem Schritt eilt sie nun den Weg entlang, nimmt direkt Kurs auf die Klinik.
In den verwinkelten Gängen mit den roten, grünen, gelben und blauen Richtungslinien kennt sie sich inzwischen aus. Jede Linie steht für ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Station. Einer folgend, mit dem Aufzug zwei Etagen bewältigend, kommt sie leicht außer Atem am Ziel an. Sie muss sich erst konzentrieren auf die Situation, wie sie ihr nun wieder vor Augen treten wird. Da hinter der Glastür mit der Ziffer 312 liegt er, ihr geliebter Mann, nachdem er vor einer Woche innerhalb der Intensivstation hierher verlegt wurde. Nachdem sie sich ein wenig gesammelt hat, geht sie das letzte kleine Stück und öffnet leise die Tür zum Zimmer mit dem Bett von Karl und rundherum den Gerätetürmen, die monoton die Signale in die Welt abgeben. So wie sie das auf den ersten Blick erkennen kann, scheint alles in Ordnung.
Als hätte der Pfleger hinter der großen Glasscheibe, die die Trennung zum Nachbarraum darstellt, ihren Gedanken erraten, hebt er die rechte Hand und gibt mit dem nach oben gerichteten Daumen das Zeichen „alles in Ordnung“.
„Da bin ich. Geht es dir gut? Heute siehst du schon viel besser aus. Schau an, rasiert hat man dich. Wohl extra schmuck gemacht für mich“, spöttelt Susanne und küsst ihn auf Wange, Mund und Stirn.
Sie fühlt, dass sie heute gut drauf ist und bemerkt erst jetzt, dass noch keine einzige Träne ihren Augen entwichen ist. „Na bitte, geht doch“, lobt sie sich.
„Ich habe dir etwas mitgebracht. Du erinnerst dich doch an deine Prostataoperation? Die beiden Zwerge hatten dir einen Teddybären geschenkt, mit einem Verband am Kopf. Hier ist er.“
Stolz zieht sie das kleine Ding aus dem Beutel und legt ihn sacht an das Gesicht von Karl. Er soll ihn spüren, sich erinnern, mit ihr gemeinsam darüber lachen, wie er damals den Tod besiegt hat. Eine Siegesfeier sollte es jetzt werden, aber Karl zeigt keine Reaktion. Reglos liegt er im Bett, die Augen fest geschlossen, Atemgeräte ersetzen seine Lunge. Ein und aus, ein und aus …
„Ich war vorhin bei deinem ehemaligen Chef. Hab ihn gegrüßt von dir, da oben, wo er jetzt ist. Weißt du, was er mir gesagt hat? Du sollst ihm vom Halse bleiben, deine Zeit wäre noch lange nicht gekommen. Also, mein Lieber, halte dich dran und höre auf den Chef. Er meint es gut mit dir, wie immer.“
Jetzt rollt Susanne die erste Träne des heutigen Tages über die Wange und kennzeichnet mit Wimperntusche schon mal den Weg für die Brüder und Schwestern, die ihr folgen werden.