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1. Kapitel

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Grau. Alles um mich herum ist grau. Neugierig geworden öffne ich die Augen. Grelles Licht blendet mich. Am liebsten will ich wieder in das beruhigende gefahrlose Nichts hinübergleiten. Aber zu neugierig ist mein Wille. Langsam, ganz langsam wird es klar um mich herum, nimmt mich die Wirklichkeit in Anspruch. Da sind die grauen Häuserfassaden gegenüber, mit den trostlosen verdreckten Fenstern der Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind. Fäulnis und Taubenkot haben in ihrem Inneren Besitz ergriffen. Einige der wenigen sauberen Fenster, die teils bunte Gardinen zieren, gehören zu Wohnungen, die von einfachen Menschen mit wenig Geld gemietet sind, solchen, wie wir es sind. Hier hat man sich so gut wie möglich eingerichtet. Teils getauschte, teils vom Mund abgesparte Möbel lassen einen kleinen Wohlstand erkennen, der so wichtig ist nach der langen Zeit des Verzichtes.

Eine Frau am offenen Fenster mit gelbem Pullover, gelockten blonden Haaren und einer aus dem Dekolleté herausquellenden Brust ruft mit rauchiger tiefer Stimme:

„Hallo, Annemarie, hab dich lange nicht gesehen. Warst du krank? Oder etwa im Urlaub?“

„Ne, mein Alter hält mich an der kurzen Leine, seitdem wir das letzte Mal in der ‚Libelle‘ waren. Er fand es nicht standesgemäß, dass ich als Frau allein tanzen geh. Ich kann ja schließlich nichts dafür, wenn er so ein Muffel ist.“

„Recht haste! Den Männern muss man es richtig zeigen. Wir waren viel zu lange unterm Pantoffel. Ich habe meinen gleich nach dem Krieg, als er ’45 aus der Gefangenschaft kam, zum Teufel gejagt.“

Ein gelber Schmetterling setzt sich sacht auf meinen Mützenrand. Ich finde das Gelb von der dort im Fenster viel leuchtender und sauge mich mit den Augen an den riesigen Titten fest. Meine Mama, Annemarie, jagt mit einer Handbewegung den kleinen Gast auf meiner Mütze weg und damit auch meine kindlichen Gedanken an Brust, Brustwarzen, wohlige Wärme, weiche Haut und süßlich schmeckende Muttermilch. Mit meinen gut zwei Jahren halten sich die sexuellen Ausbrüche meiner Fantasie in klar abgesteckten Grenzen. Etwas schmollend, da des Einblickes beraubt – sie hat mich mit dem Kinderwagen einfach zur Straße gedreht – presse ich mich in mein weiches Lager und widme mich anderen, wenn auch weniger interessanten Dingen. Der böige Wind spielt mit den Tausenden von Staubkörnchen, jagt sie in die Luft, lässt sie im Kreis umherschwirren, zu Boden sinken, um sie im gleichen Moment wieder wie Langstreckenläufer davonzujagen, den Bordstein entlang. Der Himmel hat inzwischen sein leuchtendes Blau eingetauscht gegen graublaue fast schwarze Wolken. Es wird ein Gewitter geben mit Blitz und Donner und der Chance, mich bei Mama einzukuscheln, Geborgenheit zu fühlen, die Angst vor dem Grollen des bösen Gottes zu vergessen. Das schrille Pfeifen der Schwalben schreckt mich auf. Sie jagen tief zwischen den Häusern nach Insekten. Ihre Eile, ihr unsteter Zickzackflug geben den Anschein, als würden sie schnell noch Vorrat schaffen, bevor die Welt gänzlich untergeht. Die rauchige tiefe Stimme der Frau im Fenster fordert meine ganze Aufmerksamkeit.

„Bring doch einfach am Wochenende deinen Mann mit zu mir. Wir feiern meinen Geburtstag nach.“

„Oh entschuldige, Eva, nachträglich noch alles Gute. Wie alt bist du denn geworden?“

„Es sind 26 Jahre, die ich auf Erden verweile.“

„Toll, dann bist du ja auch Jahrgang 1929, wie ich. Bist du in Chemnitz geboren, oder kommst du von woanders her?“

„Ich stamme von Leipzig, bin aber schon vor dem Krieg hierhergezogen. Hab Glück gehabt. Das ist noch die Wohnung von meinen Eltern, mit allem drin, sind ja nicht ausgebombt gewesen. Nachdem sie gestorben sind, bin ich einfach in der großen Wohnung geblieben. Man kann ja nie wissen, vielleicht kommt mal noch ein fescher General, der mich vom Fleck weg heiratet und mir ein Halbdutzend oder mehr Kinder macht. Ich hab das auch der Behörde gesagt, weil die mir doch eine Flüchtlingsfamilie unterschieben wollten. Kein Stück an Möbeln werde ich rücken und auch keinen Zentimeter Wohnung freiwillig hergeben, hab ich denen gesagt. Ich habe den Bürohengst gut eine Stunde vollgegeifert, bis er von dannen gezogen ist. Und weißt du, Annemarie, dann treffe ich den doch vor einigen Monaten im ‚Ballhaus Mollinger‘. So wie zufällig schiebe ich mich mit meinem Vorgarten an ihm vorbei, bleib natürlich stehen und frag, wie es geht. Lädt der Kerl mich doch zu einem Glas an der Theke ein und nach gut drei Stunden lieg ich mit ihm in der Kiste. Einfach so. Hab seitdem nie wieder etwas von dem gehört oder gesehen. Der war bestimmt verheiratet und hat jetzt ein schlechtes Gewissen.“

Ein langes rauchiges, von Hustenanfällen unterbrochenes Lachen, laut und von tief innen heraus, schallt durch die Häuserzeile. Zwei Frauen auf der anderen Seite der Straße schauen erschrocken herüber. Dann stimmt auch Mama wie ein Weihnachtsglöckchen in den Lachgesang ein. Schließlich ebbt das Lachen allmählich ab, wie die Glocken in der Kirche nach dem Gottesdienst. Gerade noch rechtzeitig fange ich den Gesprächsfaden wieder auf.

„Also bis Samstag um acht. Ich bring eine Erdbeerbohle mit. Hab die Früchte gestern von den Schwiegereltern gekriegt, die haben einen Garten.“

Die rauchige Stimme mit einem Schuss Bronchialhusten erwidert:

„Dann können wir ja deinen Walter mal so richtig aufheizen. Vielleicht wird es dann doch noch etwas mit dem Tanzengehen.“

Das schrille Weihnachtsglöckchen kichert.

„Wir werden dran arbeiten. Ich freu mich, bis dann.“

Rappelnd setzt sich mein fahrbarer Untersatz in Bewegung. Mama hält das Ding in allen Ehren, es soll viel Geld gekostet haben mit seinem geflochtenen Korb, den gummibereiften Rädern, die dann und wann laut quietschen. Nicht zu vergessen die geklöppelte Spitze rundherum, an der sich so herrlich zupfen lässt. Langsam wird es grau. Alles um mich herum ist grau. Die Stimmen verstummen. Ich falle tief, immer tiefer und tiefer. In mir dreht sich alles. Mein Kopf will sich auseinandersprengen, Beine, Brust und Arme sind ohne Gefühl. Wie bei einem Plüschteddybär schlägt alles an mir herum. Nein, ich will nicht auseinanderfallen. Bitte lass mich leben, leben, leben …

Das Akkordeonspiel

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