Читать книгу Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch - Страница 17

12. Kapitel

Оглавление

Es ist angenehm warm. Mein ganzer Körper ist erfüllt von einem Kribbeln unter der Haut. Wie eine Katze, die sich in der Sonne rekelt, sich auf den Rücken legt, mit ihren Tatzen Mäuse aus Luft fängt, so möchte auch ich mich rekeln. Ich habe das Bedürfnis, mich ganz lang zu strecken, die Arme hoch über mir, die Beine zum Spagat gespreizt. Aber eine feste riesige Hand hält mich umschlungen, lässt mir gerade noch so viel Beweglichkeit, dass ich atmen kann. Ich will endlich raus aus dieser Umklammerung, mit nackten Füßen über eine mit Morgentau benetzte Wiese laufen, Schmetterlingen hinterherspringen, mich an ihrem ausgelassenen Treiben erfreuen. Sie umschwirren meinen Kopf, vollführen im Flug ein stetes Auf und Ab, eine Berg- und Talfahrt, als wollten sie mir zurufen: „Komm, spiel mit uns“, so klingt ihr leiser, zarter Flügelschlag. Es ist so angenehm warm …

Ich liege im Bett, das eigentlich ein Sofa ist, habe seit geraumer Zeit die Augen offen und bin mir nicht schlüssig, ob ich Oma rufen soll. Ich weiß, dass Opa ihr früh, bevor er zur Arbeit fährt, die Zeitung in den Korb steckt, den sie vom Küchenfenster aus hinabgelassen hat und an einer langen Schnur wieder heraufzieht. Jeden Morgen ist das so, am Donnerstag legt er ihr zusätzlich die „Wochenpost“ hinein. Also störe ich sie lieber nicht, beschließe ich und suche nach einer Beschäftigung. Die Holzwand hinter mir, von dem Schrank mit den Glastüren, hat Opa mit farblosem Lack gestrichen, den er für zwei Gurken und eine Handvoll Tomaten von einem Bekannten bekommen hatte. Dieser Lack hat es mir angetan. Schon am ersten Tag, als ich von meinem neuen Reich, dem kleinen Zimmer, Besitz ergriffen hatte, waren mir die Lackbläschen, die sich auf der Oberfläche gebildet hatten, aufgefallen. Ich fummelte an ihnen herum und stellte fest, dass sie sich wie Kaugummi abziehen ließen, wenn sie erst einmal eingerissen waren.

Es macht eine Menge Arbeit, jedes dieser Bläschen sorgsam aufzukratzen, ein Eckchen zu fassen und es langsam abzuziehen. Für die letzten muss ich sogar auf die Sofalehne steigen, damit ich sie erreiche. In diesem Moment wird mein Popo plötzlich von einem Schlag getroffen und gleich darauf von einem zweiten.

„Das gibt es doch nicht“, ruft Oma bestürzt, „was ist dir denn in den Kopf gekommen? Schau, wie das aussieht. Opa hatte sich so viel Mühe gegeben, nur weil der Lack alt war, hat er Blasen geschlagen. Trotzdem muss man die doch nicht abpopeln. Da wird Opa aber traurig sein, mein Lieber. Kannst ihm das heute Abend, wenn er von Arbeit kommt, selber beichten. Genau, das wirst du machen“, bestätigt sie den genialen Gedanken.

Ich beginne zu schwitzen am Rücken, die Hände werden feucht, ebenso wie meine Augen. Ich habe Angst. Opa wird sicher mit mir schimpfen, mir vielleicht auch eine gehörige Kopfnuss geben. Egal, was passieren wird, ich schäme mich schon jetzt.

„Ich mache es nie wieder. Ich verspreche es dir, Oma“, versuche ich mich zumindest bei ihr einzukratzen.

„Du machst mir Spaß. Das kannst du auch nie mehr tun. Hast ja alle Bläschen abgepopelt“, erinnert sie mich an meine Schandtat und sofort schäme ich mich noch mehr.

„Da nützt kein Versprechen, das musst du nun ausbaden. Und nun raus aus dem Bett und ab in die Küche, du kleiner Tunichtgut“, ruft Oma schon etwas verträglicher. Ich glaube, dass sie mir nicht mehr böse ist, denn sie hat mir Kräutertee gekocht und Brot mit Quark und einer dicken Schicht Zucker zubereitet. Die Welt ist zumindest bis heute Abend wieder in Ordnung, beruhige ich mich.

„Ich habe gestern mit Papa telefoniert“, beginnt Oma geheimnisvoll. „Er will dich jetzt immer am Samstag nach Feierabend abholen und dich übers Wochenende mit nach Hause nehmen. Am Sonntagabend bringt er dich für die Wochentage zu uns zurück. Ist das nicht toll?“, fragt sie mich prüfend.

Ich antwortete nicht darauf. Ich bin ein wenig traurig. Gerade am Wochenende ist es immer so schön im Garten.

Die Beichte bei Opa überstehe ich glimpflich, obwohl mir vor Angst fast das Herz in die Hose gerutscht ist. Gutmütig nimmt er meine Entschuldigung an und wir sind wieder Freunde. Nun warten wir auf Papa, doch nichts passiert.

„Wird bestimmt etwas dazwischen gekommen sein, vielleicht musste er länger arbeiten. Ich rufe ihn Montag an, versprochen“, versucht Oma zu trösten.

Tief im Inneren hatte ich mich doch gefreut, mit Mama und Papa zusammen zu sein, denn ich habe sie schon einige Wochen nicht gesehen. Nach meinem Bruder verlangt mich nicht so sehr. Er ärgert mich sowieso immer und prügelt mich bei jeder Gelegenheit. Darauf kann ich getrost verzichten.

Am Montag gehen Oma und ich gleich nach dem Frühstück hinunter in den Konsumladen und Oma telefoniert von dort mit meinem Papa. Ganz aufgelöst kommt sie von hinten wieder vor und zieht mich hinaus ins Freie.

„Zu Hause ist etwas Schlimmes passiert. Der Ofen im Wohnzimmer ist durchgebrannt. Die Feuerwehr musste ihn löschen und abtragen, er wäre fast nach unten durchgefallen. Nun ist alles verrußt und ihr bekommt eine andere Wohnung. Die müssen Mama und Papa jetzt herrichten“, erklärt mir Oma.

Schade, finde ich, das war bestimmt spannend, die Feuerwehr und der Brand und so. Aber eine neue Wohnung ist auch nicht übel. Vielleicht bekomme ich ein eigenes Kinderzimmer, weg von meinem Bruder, dem Ekel. „Dann baue ich die Tür zu mit dem Bett und er erwischt mich nicht mehr“, schmiede ich Pläne, meine Festung gegen den Feind zu verteidigen.

Zum Trost werde ich am Abend von Tante Hedel mit besonders leckeren Eierkuchen belohnt. Zu den Eiern, immer zwei mehr als bei Oma, gießt sie zum Schluss, wenn sie alles verrührt hat, noch einen Schluck Selterswasser dazu. „Das macht sie ganz luftig“, hat sie mir ins Ohr geflüstert, damit es Oma und Opa nicht hören sollen. Ich bleibe verschwiegen wie ein Grab und verrate keinem das Geheimnis, auch nicht, als Opa mich auskitzelt.

Wochen vergehen ohne Lebenszeichen von Mama und Papa. Aber dann ist es so weit. Papa holt mich ab, mit Handwagen. Opa hat von Herrn Schuster, von der Wohnung gegenüber, ein fast neues Bett für mich bekommen, geschenkt, und einen Metallbaukasten. Mit dem spiele er sowieso nicht mehr, er sei aus dem Alter raus, hatte Herr Schuster gesagt.

Stolz trage ich den Schatz mit den unzähligen Metallstreben, Schrauben und Muttern nach unten. Oma hat um den Pappkarton einen großen Gummi gemacht, damit ich unterwegs nichts verliere. Das Bett auf dem Handwagen festgezurrt, meinen Karton sicher verstaut, ich als Kutscher obenauf und Papa als Zugpferd an der Deichsel, so geht es durch die ganze Stadt. Endlich kommen wir an dem Haus mit der neuen Wohnung an.

„Hurra“, freue ich mich, als Mama von dem extra Kinderzimmer berichtet.

Als ich drin bin, in dem vermeintlich eigenen Raum, ist die Freude vorbei. Am Fenster steht schon das Bett vom Ekel, das mich, auf dem Kopfkissen sitzend, angrinst und mir die geballte Faust zeigt. Ich begrabe alle meine Pläne und beschließe, mich für seine Gemeinheiten zu revanchieren. Stolz trage ich den Metallbaukasten in die neue Wohnung, stelle ihn auf das gerade errichtete Bett, welches meines ist, und zeige überschwänglich auf die Errungenschaft.

„Das blöde Bett kannst du behalten. Aber für den Baukasten bist du noch viel zu klein und zu doof. Kannst noch nicht mal mit Schraubenzieher und Mutterschlüssel umgehen“, erklärt er großkotzig und greift nach dem Schatz.

Für nichts in der Welt gebe ich den her. Ich trete dem Ekel kräftig gegen das Schienbein, so wie er es schon öfters bei mir gemacht hat. Schmerzverzerrt zieht sich sein Gesicht in Falten. Mit dem Karton im Arm nehme ich Reißaus, komme aber nur bis zur Kinderzimmertür. Wolfgang, dieses Ekel, ergreift meine Haare und zieht mich daran zu Boden. Ich beginne zu schreien, mit Händen und Füßen zu schlagen und zu treten. Der Baukasten hat bereits den Besitzer gewechselt. So schnell gebe ich aber nicht auf. Ich springe ihn von hinten an, klammere mich mit aller Kraft um seinen Hals und beiße ihm wutentbrannt in die Schulter und danach ins Ohr. Jetzt schreit auch er. Ich will gerade zum zweiten Angriff übergehen und ihm das Ohr einfach abbeißen, da reißt mich Mama von ihm weg, gibt mir links und rechts eine Ohrfeige und stößt mich auf das Bett. Mein Bruder wird von ihr begutachtet, beruhigt und über den Kopf gestreichelt, nur ich liege weggestoßen und verachtet auf dem Bett, keiner tröstete mich, im Gegenteil.

„Der Baukasten gehört ab jetzt Wolfgang. Für so etwas bist du noch zu klein. Außerdem seid ihr Brüder und sollt teilen. Also: Du bekommst das neue Bett und er den Metallbaukasten. Kein Wort will ich mehr hören. Aus!“, schreit sie mich an und zerstört das letzte kleine Stück heile Welt.

Ich vergrabe das Gesicht im Kopfkissen, Tränen durchtränken den Bezug. „Ich will tot sein und begraben in der Erde. Mama ist nie mehr meine Mama. Sie ist nun die Mutter, die mich nicht verdient hat. Sie wird am Grab sitzen und weinen, wie ich jetzt, und niemand wird sie trösten. Ihr Karl liegt da unten und kommt nie wieder, nie mehr“, denke ich voller ohnmächtiger Wut. – Nur, wie ist man tot? Darauf finde ich keine Antwort.

Das Akkordeonspiel

Подняться наверх