Читать книгу Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch - Страница 16

11. Kapitel

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Susanne wischt sich das Gesicht ab. Blickt prüfend in die Scheibe vor ihr. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und so kann sie sich deutlich wie in einem Spiegel betrachten. Gealtert ist sie in diesen paar Wochen, hat tiefe Augenringe und eingefallene Wangen bekommen, stellt sie am Ebenbild fest. Sie gibt sich einen Ruck und holt die Gegenwart zurück. Sie will heute keine traurigen Gedanken mehr haben. „Ich will Karl etwas Schönes erzählen, worüber er sich freuen kann.“ Ihre Hände fahren an der Kleidung nach unten, als würde sie den richtigen Sitz prüfen. Sie tritt ans Bett. Karl liegt regungslos und unverändert, umschlungen von der Decke, die sie bis zum Hals hinauf gezogen hat. „Was sollte sich denn verändert haben? Karl ist noch immer im Koma“, erklärt sie sich selbst die Situation.

„Damals die Hausfeten oder die Badeausflügen mit deinem Sohn und meiner Tochter, das waren schon lustige Erlebnisse. Du hattest panische Angst, wenn ich mit dem 500er Trabi die Landstraße zum Baggersee langbretterte. Festgeklammert hast du dich im Sitz, mich ermahnt, langsamer zu fahren. Ich bin meist barfuß gefahren, weil es bequemer war als mit den hohen Absätzen. Warst immer froh, wenn wir heil am See angekommen sind. Ich wäre ja lieber auf die FKK-Seite gegangen, aber das wollte ich dir und deinem Kleinen, dem Detlef, nicht zumuten. Und natürlich deiner Frau, die das sicher erfahren und Tobsuchtsanfälle bekommen hätte. Ihr wart ja immer so prüde. Hab damals gedacht: ‚Da geht der Kerl ständig fremd und hat sich so albern, sich nackt zu zeigen.‘ Später hast du es ja eingesehen, dass am Nacktbaden nichts auszusetzen ist. Einmal hatte ich das lange rote Leinenkleid an mit den großen weißen Punkten. Mann, hast du gestarrt, als ich das Kleid am Strand auszog, weil ich keinen BH drunter trug. Ich habe selten einen BH getragen, so kleine Körbchen gab es kaum. Außerdem fand ich es so viel schöner. Hat dir ja auch gefallen, hast du mir später gesagt. Da warst du eigentlich schon mein heimlicher Favorit, obwohl ich mich noch lange gesträubt habe. Erst als du mit dem Rotwein ‚Rosentaler Kadarka‘ kamst, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Da hat es dann begonnen, da schmolz das Eis zwischen uns. Den Rest hat es mir gegeben, als ich aus eurer Wohnung ‚Milva‘ hörte. Da war ich hin und weg. Hast es ja auch ausgenutzt, als ich mir die Platte ausborgen wollte. Ich musste dich zum Wein einladen, heimlich versteht sich. Tagelang hab ich mich damals darüber geärgert, dass ich dich reinließ. Das war wie ein Freifahrtschein für dich gewesen, hattest gedacht: ‚So bekomm ich die Kleine ins Bett.‘ Zwei Knöpfe hast du mir vom Kleid gerissen, wolltest mich unbedingt ins Bett tragen. Hab dich aber nicht gelassen. Paar Wochen später sind wir dann doch im Bett gelandet miteinander. Im Kinderzimmer, Liesa war bei den Großeltern, hast du mir deine ganze Pracht präsentiert. Ich meine deine rote Turnhose, die Kniestrümpfe mit Sockenhaltern und das gelbe Armeeunterhemd. Toll sahst du aus. Ich hätte mich biegen können vor lachen. Und gestaunt habe ich, denn so prickelnd warst du gar nicht im Bett, zumindest anfangs. Habe dir erst einmal beibringen müssen, dass die Frau auch oben sitzen kann, wenn sie Genuss wünscht. Du kanntest nur das Hausbackene, Frau unten, Mann obendrauf. Aber mit mir nicht. Das hast du schnell gemerkt und dich auch angestrengt. Konntest mich dann richtig wahnsinnig machen, du kleiner Mistkerl“, amüsiert sich Susanne über ihr eigenes Geschwafel. „Es ist schon seltsam. Da liegt der Mann im Koma vor mir und ich erzähle über Sex und diese ganzen Dinge“, denkt sie bei sich und streicht Karl über die Hand, drückt sie und spürt die feuchte, warme Haut. Sie wünscht sich so sehr, dass Karl sie in die Arme nimmt, sie an sich drückt, liebkost. Nur ein wenig Zärtlichkeit, mehr will sie doch gar nicht.

Sie lässt den Gedanken, ihren Gefühlen wieder freien Lauf, macht einen Zeitsprung fast in die Gegenwart. „Die Prostataoperation war der Wendepunkt in unserer Ehe“, gesteht sie sich ein. „Bis dahin war ich mir deiner Treue nie sicher gewesen, habe mehrfach mit dem Gedanken gespielt, mich von dir zu trennen. Aus der Beziehung war die Luft raus. Immer nur Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Für alle warst du erreichbar, versuchtest es jedem recht zu machen und hast mich dabei total vergessen. Die Stunden konnte ich zählen, in denen du bei mir, bei uns warst. – Der Sex war mir nicht mehr wichtig, war froh, dass es nicht mehr sein musste. Irgendwann will die Frau nicht mehr, hat keinen Bock mehr auf diese Sachen“, beschwichtigt sie sich selbst. Fast klingt es wie eine Entschuldigung, dass ihr das Verlangen abhandengekommen ist. „Mit fast 60 Jahren brauch ich keinen Sex mehr, will nur noch zärtlich in den Arm genommen werden, mich abends im Bett vor dem Einschlafen ankuscheln. Mehr nicht“, zieht sie Resümee.

„Für dich war es bis zur OP sehr wichtig gewesen, dich sexuell zu beweisen. Als du die furchtbare Diagnose erhieltest, merkte ich, dass für dich eine Welt zusammenbrach. Trotzdem war es deine größte Hoffnung, vom Krebs befreit zu werden, dein Leben zu verlängern, das nicht auf zwei Drittel des Weges ein Ende haben sollte. Billigend nahmst du in Kauf, impotent zu werden, keine Erektion mehr zu haben, nicht mehr zeugen zu können als Folge des Eingriffs, auch wenn du das aus den Gedanken verdrängt hast. Die Operation verlief erfolgreich, die Reha schlug an und Weihnachten 2010 saßest du, mein Karl, unter dem Weihnachtsbaum, gemeinsam mit den Enkelkindern. Doch kaum hatte das neue Jahr begonnen, ließest du dich gesundschreiben und gingst wieder arbeiten, getreu der Devise: ‚Ohne mich geht nichts.‘ Nur Tage später begann die Bestrahlung. Fast vierzig Mal, immer die gleiche Prozedur: Mal eben kurz vom Büro zum Bestrahlungstermin und genauso fix wieder an den geliebten Schreibtisch zurück und weitergemacht unter Volldampf. Unermüdlich. Lange schon warst du über den Zenit, hattest deine Kraftreserven verbraucht. Du wolltest es nicht wahrhaben. Wie ein Flugzeug, dem der Treibstoff ausgegangen ist, rastest du auf die Katastrophe zu. Anfang April 2011 ging es nicht mehr, du heultest nur noch, zittertest am ganzen Körper. Schluss. Aus. Burnout.“

Susanne blickt versonnen aus dem Fenster. Dr. Meissner betritt das Zimmer, begrüßt sie freudig und kommt sofort auf den Punkt.

„Frau Nebel, es gibt gute Nachricht. Wir haben heute eine Reihe ergänzender Untersuchungen durchgeführt, es spricht nichts dagegen, mit der Frührehabilitation zu beginnen. Ich drücke die Daumen, dass die Maßnahmen Erfolg zeigen und wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute für die Zukunft“, spricht er Susanne Mut zu.

„Das ist doch mal was, Karl. Jetzt aber hopp, wach werden. Hast dich lange genug ausgeruht“, säuselt sie ihm mahnend ins Ohr.

Das Akkordeonspiel

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