Читать книгу Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch - Страница 11
6. Kapitel
ОглавлениеIch spüre den festen Griff, die Umklammerung, aus der es kein Entrinnen gibt. Ich beginne meinen Körper hin und her zu drehen, versuche, mich unter dem Leib von Mama herauszudrängen. Keine Chance, je mehr ich mich winde, desto fester wird ihr Griff. Ich will deine Mutterliebe nicht. Sie ist falsch, unaufrichtig. Sie ist erschaffen aus Selbstmitleid. Lass mich los. Ich will nicht von dir, von deiner Seele infiziert werden. Nein, du tust mir weh, es schmerzt so sehr, lass mich, lass mich endlich, ich will nicht, will nicht …
Die Strahlen der frühen Morgensonne spielen mit den aufgewirbelten Staubpartikeln in der Luft, die zwischen Sofa und Fenster schweben. Auf und ab, hin und her fliegen sie, bleiben für Bruchteile eines Momentes still und regungslos in der Luft stehen, um dann umso schneller wieder in Bewegung, zu einem anderen Ort zu hasten. Ich beobachte dieses Schauspiel fasziniert. Das möchte ich auch, einfach dahinschweben, weg von dem einen bösen Ort zu einem nächsten, bunten, warmen, friedlichen Ort. Ich will fliegen. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht. Ich schaffe es zumindest, meine missliche Lage etwas zu verbessern. In einem Augenblick der Unachtsamkeit drehe ich blitzschnell meinen Körper auf die andere Seite, bevor der Würgegriff wieder einsetzt. Jetzt schaue ich Mama ins Gesicht. Sie macht einen so friedlichen, schon fast glücklichen Eindruck. Ihr Atem geht leicht, die Fältchen an den Außenseiten der Augen deuten darauf hin, dass sie einst viel gelacht haben muss. Ich betaste mit meinen Fingern die Lachfältchen, streiche über sie hinweg, um jede einzelne dieser kleinen Rillen zu spüren.
„Lass mich in Ruhe“, raunzt Mama mich an.
Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. „Ich hab es doch lieb gemeint“, protestiere ich tief im Inneren. Ruhig bleibe ich fortan liegen, um sie nicht noch einmal zu stören.
Vor mir tauchen Bäume auf, grüne Hecken. Vögel zwitschern vergnügt, geben sich Signale, versuchen, sich singend gegenseitig zu überbieten. Auf meiner Augenhöhe, direkt über dem Festungsrand mit der geklöppelten Spitze, kann ich durch die eine oder andere Lücke der Hecke schauen. Ich sehe Menschen in bunten Kleidern und Röcken oder graublauen Arbeitshosen, die sich mit all dem beschäftigten, was in und aus der Erde wächst, in Reihen, Zeilen oder Büschen. Ich erspähe Blumen in unendlicher Farbenpracht, hochgewachsen die einen, die sogar die Heckenreihen überragen, kurz gehalten andere, die im Rasen sich verstecken. Alles duftet berauschend. Ich liebe den Garten meiner Großeltern und Tante Hedel, die Schwester von Oma. Hier fühle ich mich wohl, laufe bunten Schmetterlingen hinterher oder krieche auf allen Vieren, das geht schneller. Opa stellt mir eine große Waschschüssel mit Wasser hin, gibt mir Stöckchen in die Hand, die ich als Boote über den riesigen Ozean auf Reisen schicke. Damit kann ich mich stundenlang beschäftigen. Ich glaube, Opa weiß genau, warum er mich öfters damit ausstattet. Ich bin neugierig und liebend gern auf Entdeckungstour zwischen den Beeten. Erdbeeren oder andere an stachligen Sträuchern hängende grüne, gelbe, rote oder schwarze Beeren sind vor mir kaum sicher. Dabei ist es mir einerlei, ob ich noch im Garten der Großeltern bin oder schon in dem des Nachbarn. Schnell habe ich erkannt, dass da, wo ich nicht hin soll, die besten Früchte locken. Die Versuchung ist groß. Meist holt mich Oma aus dem fremden Paradies, gibt mir einen leichten Klaps auf den Hosenboden und winkt mit erhobenem Zeigefinger. Wenig später bekomme ich stets die Belohnung für die Entdeckertour: eine Kompottschüssel voller leckerer, bunter Beeren, überdeckt mit vielen Zuckerkörnchen. Bei so viel Fürsorge braucht sie sich nicht wundern, wenn ich dauernd ausrücke. Ich nutzte es schamlos aus, jedes Mal mit prickelnder Freude im Bauch.
Die am Wochenende stattfindenden Besuche in der Gartenkolonie sind der Höhepunkt der Woche. Dann vergesse ich sogar, dass sich meine Eltern am Vortag oder direkt vor dem langen Spazierweg oder währenddessen bis zum Ziel mehr oder weniger heftig streiten. Angekommen in dem kleinen Paradies sind sie dann ein Herz und eine Seele. Sie können beide gut schauspielern, aber nicht so gut, dass es Oma nicht durchschauen würde. Als Erstes nach der Begrüßung nimmt sie mich hoch, drückt meinen zierlichen Körper an ihre warme Brust und gibt mir einen langen, lieben Kuss auf die Stirn. Dann werde ich weitergereicht zu Opa, der sofort alles stehen und liegen lässt, um mich unter den Armen zu fassen, in die Höhe zu werfen und mit einem tiefen Knicks kurz vor dem Boden wieder abzubremsen. Das Gefühl im Bauch ist wunderschön und er muss es ein Dutzend Mal wiederholen. Zum Schluss im Begrüßungsreigen ist Tante Hedel dran. Sie nimmt mich meist auf den Schoss, streichelt mir übers Haar und entlässt mich zurück auf den Boden, damit ich Entdecker sein kann. Sie ist etwas eigenartig, das spüre ich an ihren Berührungen. Ich glaube, sie kann mit Kindern nicht so gut, da sie selbst nie welche hatte. Ich würde am liebsten immer hier bleiben. Hier fühle ich mich geborgen, geliebt und wortlos verstanden. Aber mein Wunsch zerplatzt jedes Mal wie eine Seifenblase, wenn es nach einigen Stunden wieder auf den Heimweg geht. Da helfen auch keine Körbe mit leckeren Beeren und verschiedenem Gemüse, auch keine Sträuße aus bunten Blumen. Am liebsten hat Mama Margeriten, und Pfingstrosen, die so gut riechen. Mich macht der Abschied traurig. Oma drückt mich dann nochmals herzlich, blickt mir fest in die Augen und sagt:
„Wird schon, mein Junge.“
Am Tag danach beginnt der graue Alltag. Ich werde von Mama schlafend aus dem Bett gehoben, erschrecke, wenn ich auf Füßen stehend plötzlich erwache. Zeit zum Nachdenken gibt es kaum. Immer wieder wird geschubst, gezogen, gezerrt.
„Beeile dich, ich muss los. Ich darf nicht zu spät kommen“, ermahnt mich Mama ärgerlich.
Der Weg zum betriebseigenen Kindergarten des Schlachthofes scheint unendlich. Oft weine ich aus lauter Verzweiflung, weil ich müde bin, lieber noch schlafen würde, mich wieder nicht von meinem einzigen Freund, dem zerzausten Teddy, verabschieden durfte.
Ich will in keinen blöden Kindergarten, hämmert es in meinem Kopf. Mit Händen und Füßen trete ich um mich, schreie wie am Spieß, spucke den Frauen mit den weißen Schürzen Flecke auf den Stoff. Werfe mich auf den Boden und strampele wie ein Marienkäfer, der auf dem Rücken liegt. Hier in dem grauen, kahlen, kalten Haus will ich nicht bleiben. In meiner Seele brennt ein Feuer, lodert Hoffnung, mit meinem Aufbegehren hier wegzukommen. Ich bin an keinem der trostlosen Tage zu beruhigen. Daheim geht es weiter. Jähzornig stoße ich am Abend meinen Teller vom Tisch. Der Pudding bildet einen kleinen Berg auf dem Dielenboden, der langsam breiter wird.
„Spinnst wohl, du Mistbalg“, ruft Mama erzürnt.
Mit der gleichen Schnelligkeit wie sie sich vom Herd herumdreht saust ihre Hand auch schon in meine Richtung und schlägt schmerzhaft auf den Mund ein. Blut läuft mir aus der Nase, tropft tiefrot auf den gelben Puddingberg. Ich bekomme einen nassen Geschirrlappen ins Gesicht gedrückt. Flüchtig wischt Mama das Blut fort, zieht mich in Windeseile aus und genauso rasch das Schlafzeug an. Ohne Blickkontakt steckt sie mich ins Bett und feuert die Tür vom Schlafzimmer zu. Spät abends, ich kann vor Traurigkeit über mein Schicksal keinen Schlaf finden, höre ich die beiden streiten.
„So geht das nicht weiter, der Balg ist eine rechte Plage. Ich weiß mir keinen Rat, was ich mit ihm noch anstellen soll“, schimpft Mama lautstark auf das Gegenüber ein.
Papa, nach Tagen seines Wegbleibens wieder da, saugt hilflos am Bier und faucht zurück:
„Das ist doch nicht meine Aufgabe, dem Kleinen Manieren beizubringen. Dafür bist du zuständig. Ich schufte von früh bis abends, mache noch Überstunden, damit Geld ins Haus kommt. Und du, statt dich um die Gören zu kümmern, gehst du schwofen. Kein Wunder, wenn ich mal einen übern Durst trinke und nach einer anderen Frau schiele. Hab ja sonst kein Vergnügen.“
„Mit mir kannst du vögeln, nicht mit der Eva. Hattest leichtes Spiel bei der, was? Bei mir hättest du dich schon anstrengen müssen. Dafür ist der Herr sich aber zu bequem. Liebt die schnelle Nummer. Was hast du denn gemacht, die zwei Tage, als du weg warst? Hast dir anderswo dein Vergnügen geholt. Und womöglich noch eine Menge Geld auf den Kopf gehauen mit irgendeinem Flittchen. Gib’s doch zu, du geiler Bock“, schreit Mama aus vollem Halse.
Weitere Worte bleiben ihr dort stecken. Dem Geräusch nach bekommt Mama nun eine Tracht Prügel, wie so oft in letzter Zeit.
„Du Schwein, lass mich in Ruhe. Ich schlag zurück, wenn du nicht aufhörst“, stößt sie hervor.
„Versuchs doch, du Schlampe, wenn du das Echo verträgst“, höhnt er.
Mama setzt sich, dem Geräusch nach, festen Willens zur Wehr. Es dringen nur noch Wortfetzen durch die geschlossene Tür. Immer wieder knallen Schläge auf schwitzende, nasse Körper ein, klatschen Handflächen auf blanke Haut. Mama schreit um Hilfe, spuckt um sich, beschimpft ihren überlegenen Gegner, handelt sich dafür weitere Prügel ein.
Ich ziehe mir die Zudecke bis über die Ohren. Will nichts mehr hören. Die Neugierde ist erloschen. Leise, damit keiner es hört, weine ich vor mich hin. Meine Decke wird mit einem Schwung heruntergezogen.
„Halt die Schnauze und schlaf endlich“, faucht mich mein Bruder an, der im Bett hinter mir schläft.
Warum ist er nicht hinausgegangen, er, der ältere und größere? Warum hat er die beiden Streithähne nicht auseinandergebracht? Ich bin dazu noch zu klein. Aber, das nehme ich mir ganz fest vor, wenn ich groß bin, dann gehe ich dazwischen. Die sollen sich nicht mehr streiten. Ich will das nicht.
Mein täglicher Kampf gegen den Kindergarten hat keinen Sinn. Ich füge mich einmal mehr dem unausweichlichen Schicksal und gehe Hand in Hand jeden Morgen mit Mama zum verhassten Kindergarten. Das Handhalten ist eine wohlbedachte Sicherheitsmaßnahme von Mama. Sie traut dem Braten nicht. Irgendetwas muss dieser kleine Knopf doch im Schilde führen. Nichts habe ich im Sinn. Mir ist es einfach langweilig geworden, jeden früh das gleiche Spiel zu spielen. So zieht langsam Ruhe ein. Ab und an gefällt mir sogar der Kindergarten. Immer dann, wenn wir auf die kleine Wiese gehen, oberhalb vom Schlachtbereich, dort kann ich Kühe und Schweine hören, wie sie brüllen, quicken, und dann den letzten Schuss erhalten. Einmal ist ein Bulle mit dem ganzen Gitter auf den Hörnern losmarschiert, hat einen Mann an die Hauswand gedrückt, bis er brüllend vor Schmerz zu Boden fiel und von anderen Leuten weggezogen wurde. Ich bewunderte den Bullen, der hatte sich gewehrt, hatte nicht das Schlimme mit sich machen lassen. „Ich will auch mal so werden wie der Bulle und mir nichts gefallen lassen“, präge ich mir ein.
Einige Wochen später holt mich Mama wie immer vom Kindergarten ab und geht aber nicht durch das Werktor an der Freibank, sondern läuft mit mir quer durch den Gebäudekomplex zum Haupteingang.
„Heute fahren wir mit dem Auto nach Hause. Es steht da vorn. Das ist aber unser Geheimnis. Versprichst du mir das?“, fragt sie und wartet auf die richtige Antwort.
„Ja“, gebe ich brav zurück.
Ich darf hinten einsteigen, Mama neben dem Fahrer, einem jungen braungebrannten Mann mit lockigen schwarzen Haaren. Mama ermahnt mich, artig sitzen zu bleiben und nicht in die Mitte der Sitzbank zu rutschen. Wir fahren die Straßen entlang, bis wir an einen leeren Platz kommen, wo weit und breit kein Mensch zu sehen ist, und halten dort an. Von Anfang an habe ich mich nicht angefreundet mit der Position ohne Aussicht hinter dem Vordersitz. Ich suche im vorderen Teil des Wagens etwas zu erspähen, was interessanter ist als der Stoffbezug vor mir mit den kleinen gelben Blumen. Das, was ich sehe, ist die Hand des Fahrers unter dem Rock von Mama und ihre Hand auf seiner Hose. Sie knetet den Hosenstoff, als wollte sie mit Teig Brot backen. Ihre Gesichter treffen sich und ihre Zungen lecken an den Lippen. Gerade will ich noch etwas in die Mitte rücken, um besser schauen zu können, da hat Mama mein Treiben erkannt und gibt mir mit der flachen Hand eine Backpfeife. Ich schnelle zurück, verkrieche mich auf den Platz, den sie mir zugewiesen hat.
„Ach nein, das wird nichts. Der Junge ist mir zu neugierig. Wir machen demnächst was Gescheites aus, versprochen“, höre ich sie flüstern.
Der Motor springt an, wir fahren auf direktem Wege nach Hause und steigen etwas oberhalb unseres Einganges aus.
„Wehe dem, du verpetzt mich bei Papa. Du hast es versprochen“, ermahnt mich Mama nochmals ausdrücklich.
Ich nicke. Vor dem Haus steht die mit den prallen Brüsten und der rauchigen Stimme. Sie hat ein knallrotes Kleid mit einem breiten, glänzenden schwarzen Gürtel an.
„Ich will mich bei dir entschuldigen, Annemarie. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Der viele Alkohol, unsere kleinen Spielchen mit deinem Mann, als ich dann mit ihm allein war, ging es einfach durch mit mir. Ich mache mir seitdem solche Vorwürfe. Du bist doch meine beste Freundin. Sei wieder lieb mit mir, Anni, ich tue das nicht mehr, versprochen“, fleht Eva mit einem übertriebenen Augenaufschlag, den Kopf demütig zur Seite geneigt.
Das Spiel zeigt Wirkung. Eigentlich hat Annemarie den Vorfall schon abgehakt. Es interessiert sie nicht mehr. Mit Paul hat sie abgeschlossen. „Wegen mir“, denkt sie für sich, „kann sie sich den Paul auf ihre großen Brüste schnallen. Mir egal.“ Der Akt des Verzeihens ist kurz und bündig.
„Schon gut, vergessen die Geschichte. Das wird unsere Freundschaft auf keinen Fall zerstören“, sagt sie mit geschwellter Brust, die sie nicht hat, und gibt Eva einen versöhnenden Kuss auf die Wange.
„Kannst dich ja gelegentlich revanchieren bei mir“, schießt sie noch nach.
„Verstehe! Der mit dem Auto und den lockigen schwarzen Haaren. Kannst nicht lassen von ihm, gell? Sag Bescheid, wenn du meine sturmfreie Bude brachst. Mach ich doch gern für dich, Anni“, haucht Eva verschwörerisch.
„Und du halt mir bloß deinen Schnabel. Hast du mich verstanden?!“, trichtert mir Mama nochmals ein.
Wieder nicke ich brav und steige mit ihr die Stufen hinauf bis nach ganz oben. Falsch! Ganz oben ist es ja nicht. Über uns wohnen die mit dem großen Hund. Meine Mama ist öfters bei denen. Ich bin froh, wenn ich nicht mit muss, der Hund flößt mir Angst ein.
An diesem Tag verschwindet Mama auch wieder nach oben, als sie mich in der Wohnung eingeparkt und meinen Bruder zum Aufpassen verdonnert hat. Kaum ist die Wohnungstür hinter ihr geschlossen, bekomme ich ein Buch an den Kopf. Der Große, so wird er von den Eltern genannt, hat überhaupt keine Lust, auf mich aufzupassen und seine eigene Art, mir das zu demonstrieren. Natürlich schreie ich sofort wie am Spieß, werfe mich auf den Boden und halte den Kopf. Damit habe ich ihn noch mehr aus der Reserve gelockt. Er zerrt mich hoch, schleift mich am Arm ins Schlafzimmer und gibt mir noch einen kräftigen Tritt mit dem Fuß, sodass ich auf Knien bis zum Schrank rutsche.
„Halts Maul und geh mir nicht auf die Nerven“, zischt er böse. Ich sitze da wie ein Häufchen Unglück und schwöre mir, ihm alles irgendwann, wenn ich groß bin, heimzuzahlen. Mein Gefängnis verlasse ich, als die Stimme von Papa ertönt.
„Wo ist Mutter?“, fragt er schroff meinen Bruder.
„Weiß ich doch nicht, wo sie abgeblieben ist“, versucht der genauso zu antworten.
Klatsch, hat er eine sitzen. Danach folgt die Erklärung.
„So redest du nicht mit mir, merk dir das“, belehrt er den Großen, der genau sieht, wie ich ihn schadenfroh angrinse.
„Weißt du, wo Mutti ist?“, kommt nun die Frage an mich.
„Ja, weiß ich, Papa. Da oben ist sie“, antworte ich besonders lieb und zeige mit dem Finger zur Decke.
Aus den Augenwinkeln heraus blicke ich zu meinem Bruder, der mir mit erhobener, geballter Faust Prügel ankündigt.
„Wolfgang hat mir sein Buch an den Kopf geworfen und mich danach auch noch gehauen“, petze ich.
„Warum machst du das?“, geht die Frage an den Übeltäter. Der zuckt mit den Schultern. Ihm fällt dazu nichts ein. Papa allerdings schon. Klatsch, gibt es die nächste Kopfnuss. „Das haste davon“, denke ich ketzerisch.
„Hol die runter“, befiehlt er Wolfgang, der auch gleich losrennt.
Nach einer Weile erscheint der Rest der Familie aus der oberen Wohnung. Mama hat einen leicht gläsernen Blick, die Wangen sind tiefrot eingefärbt und mit der Sprache holpert es.
„Hast wieder gesoffen bei Meiers?“, schnauzt Papa vorwurfsvoll.
„Na und, wenn schon, du machst auch, was du willst.“
„Hast dich um die Kinder zu kümmern. Wann begreifst du das endlich? Ich rackere mich ab und du säufst am hellerlichten Tag rum, statt die Familie zu versorgen. Und wie es in der Bude aussieht. Kannst auch mal wieder den Wischlappen schwingen!“, steigert sich Papa immer weiter hinein.
„Den Wischlappen hau ich dir gleich in deine dämliche Fresse. Du denkst wohl, ich dreh den ganzen Tag Däumchen?“, wirft sie erregt zurück. „Ich gehe auch arbeiten, solltest du das vergessen haben. Die ganze Woche von sechs bis drei. Ich steck mit den Händen im kalten Wasser, wasche Därme aus, damit du am Abend Wurst fressen kannst, so sieht es aus, du Blödmann. Kannst ja auch mal etwas im Haushalt machen. Warum muss das alles auf meinen Schultern lasten?“, keift sie und weiter: „Hast du deine Mutter nun endlich gefragt, ob sie den Kleinen nehmen? Die sitzt den ganzen Tag zu Hause und könnte uns mal helfen. Der ist doch sowieso lieber bei denen.“
Ein kurzer Blick von ihr trifft mich wie ein Blitz. „Die wollen mich weggeben, einfach so“, hämmert es in meinem Kopf. „Was hab ich denn getan? Der Große haut mich doch immer. Warum geben sie den nicht weg? Ist doch auch nicht der Sohn vom Papa“, schießt es mir durch mein Gehirn. Verzweifelt schaue ich abwechselnd zu den beiden. Mein Blick schwenkt im Raum wie das Licht vom „dicken gelben Leuchtturm“ aus meinem Lieblingsbuch. Ich bekomme keine Antworten. Traurig kauere ich mich auf dem Sofa zusammen. Ich habe mit der Welt abgeschlossen, denn niemand mag mich.