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8. Kapitel
ОглавлениеEs ist ein unheimlicher Tag. Mama räumt seit Stunden in meinen Kleidungsstücken herum. Nimmt einen Stapel, sortiert einige Teile aus, legt sie in extra Häufchen auf das Bett, den Rest zurück in den Schrank. Ein großer brauner Koffer steht in der Ecke. Ich kann mich erinnern, dass Mama dieses Ungetüm gestern mitbrachte, als sie von oben kam. Ich habe es noch nie gesehen. Papa ist mit dem Großen zum Fußball gegangen. Zuvor hat er mich an der Tür noch kurz an sich gedrückt und mir über die Haare gestrichen. Es war nur ein winziger Moment dessen, was ich mir so sehnlichst immer wünsche, Zärtlichkeit und Geborgenheit. Aber gleichsam durchzuckte mich ein Schlag wie ein Stromstoß am Weidezaun, wenn man dagegen pinkelt. Irgendetwas würde geschehen. Ich fühle es, kann es aber nicht deuten.
Noch immer ist Mama vertieft in ihr Tun. Sie eilt zwischendurch in die Wohnstube, von da in die Küche und wieder zurück. Sie trägt Handtücher, Seife und Butter zusammen. Was will sie mit der Butter, diesem gelben weichen, so lecker Schmeckendem auf frischem Brot? Die brauchen wir doch, die kann sie doch nicht weggeben?
Weggeben, weggeben – hämmert es plötzlich im Kopf. Das ist wegen mir, die wollen mich loswerden.
Wie bei einem ausbrechenden Vulkan schießen Tränen über mein Gesicht, beginnt mein Körper zu beben. Der Rotz läuft den Tränen hinterher und vermischt sich am Kinn zu einem schlierigen Brei, der in Fäden auf das Hemd herabtropft. Mama hat keine Zeit für Sentimentalitäten.
„Hör auf zu flennen, wir fahren zu Oma und Opa, ist doch nur für ein paar Tage“, zischt sie zwischen Kofferdeckel und Kleiderhaufen hervor. „Kannst mir lieber helfen, bring die Sandalen und die braunen Schuhe her, die müssen noch mit“, befiehlt sie.
Wie angewurzelt stehe ich da. Ich will nicht helfen. Ich will doch nicht weg.
„Los, bewege deinen Arsch, sonst gibt es was drauf“, fordert sie energisch. Widerwillig bringe ich die Schuhe und stehe dann da, neben meiner Mama, hilflos, traurig, hoffend auf ein tröstendes Wort.
„Wasch dir das Gesicht und zieh die Popelinehose und das Matrosenhemd an, wir müssen los“, bellt sie.
Mit hängenden Armen, dem Schicksal ergeben, erledige ich die Handgriffe.
Wir stehen abmarschbereit. Mama mit dem großen Koffer und ihrer Handtasche, ich mit einem Beutel voller Spielsachen. Viele sind es nicht. Meinen kleinen zerrupften Teddy erkenne ich, Bauklötze unterschiedlicher Farbe lugen an der Seite hervor, und das Feuerwehrauto. Das hatte Papa mir in die Hand gedrückt, nachdem er zwei Tage weg gewesen war. Stolz drückte ich es damals an meine Brust und stellte es, als wäre das rote Ding der größte Schatz aller Zeiten, bedachtsam neben mein Bett. Jetzt ist das Auto für mich wertlos. Das Band zwischen mir und Papa ist zerrissen.
Mit der Straßenbahn fahren Mama und ich bis zur Zentralhaltestelle. Dort müssen wir umsteigen, Richtung Bernsdorf bis zur Endstelle. Zur anderen Bahn geht es über Gleise, rennend, wenn eine Straßenbahn einfährt, oder wartend, wenn eine andere anrollt zur Weiterfahrt. Ich werde gezerrt und gestoßen. Ich werde fast erdrückt zwischen den hektisch hin und her eilenden Menschen. „Sollen sie mich doch zerdrücken, mich von der Hand meiner Mama wegreißen“, denke ich und spinne in Gedanken die Geschichte weiter. „Ja, da kannst du schauen, Mama, dein Kleiner ist weggerissen, verschwunden zwischen all den Menschen. Du findest ihn nicht mehr. Ja, weine ruhig. Mich kümmert es nicht. Dich hat es auch nicht gekümmert, als ich traurig war, geweint habe, der Schmerz meine Brust zerriss. Jetzt hast du keinen Sohn mehr“, spreche ich in Gedanken den dramatischen Text.
„Komm endlich. Lass dich nicht so ziehen, sonst verlier ich dich noch“, ihre Hand klammert die meine fest wie ein Schraubstock.
Nach einer mir unendlich vorkommenden Fahrt erreichen wir die Endstation. Es beginnt bereits zu dunkeln. Ich habe Not, den großen raschen Schritten meiner Mama zu folgen. Nachdem sie an der Haustür geklingelt hat und wir die ersten Stufen im Treppenhaus hinaufgestiegen sind, kommt Opa uns entgegen. Wortlos nimmt er den großen Koffer aus der Hand von Mama, geht uns voran, die vielen Stufen hinauf bis zum vierten Obergeschoss.
Oma steht zur Begrüßung in der Wohnungstür, breitet die Arme weit aus und ich renne, so schnell ich kann auf die bunte Schürze zu, werfe mich an ihren Leib und klammere mich an, so fest ich kann.
„Ist schon gut, mein Kleiner, kommt rein, wir haben Abendbrot gemacht. Heute gibt es etwas ganz Leckeres. Makkaroni mit Tomatensoße und Jägerschnitzel. Das isst du doch so gerne“, sagt sie ganz ruhig zu mir, streicht mit beiden Händen über den Kopf, wischt, damit es keiner merken soll, meine Tränen mit der einen Hand aus dem Gesicht und mit der anderen berührt sie vorsichtig meine Schulter, um mir die Richtung in die Wohnung zu deuten.
Ohne Widerstand, doch schluchzend, gehe ich neben Oma her bis in die Küche. Da steht Tante Hedel am Herd und rührt bedächtig in einem blau emaillierten Topf, aus dem weißer Dampf aufsteigt. Es riecht lecker nach Tomatensoße und gebratener Wurst. Erst jetzt merke ich, dass mein Magen knurrt, ich habe seit heute früh nichts mehr gegessen. Tante Hedel kommt mit einem großen Schritt auf mich zu, den Kochlöffel mit der Hand fest umschlossen. Es sieht bedrohlich aus, als wollte sie mir eine gehörige Tracht Prügel verabreichen. Ich weiß, dass sie ganz lieb ist, wenn auch mit einer rauen Schale und oft verbittert blickend.
„Na, Kleiner, siehst ja richtig hungrig aus. Da kann es sofort losgehen“, spricht sie und ihr Kopf neigt sich zu meinem.
Ihr Mund gibt mir einen flüchtigen Kuss, der sich in diesem Moment angenehm warm anfühlt.
„Ab mit dir auf die Couch neben Opa und streitet euch nicht“, frotzelt sie liebevoll und widmet sich wieder den Makkaroni.
Ich sause unter dem Küchentisch hindurch auf die andere Seite, drängle mich durch den Spalt zwischen Unterkante Tischplatte und der Sitzfläche dieses Polstermonsters. Stolz nehme ich neben Opa Platz, rücke noch etwas näher an ihn heran, weil ich mich von ihm beschützt fühle.
„Da ist dein Platz. Ich brauche auch einen Fleck zum Essen“, ruft er mir augenzwinkernd zu und schiebt mich samt Sitzkissen ein Stück von sich weg.
Ich lasse die Unterlippe hängen, verschränke aus Protest die Arme über der Brust und ziehe nun auch noch die Mundwinkel nach unten.
„Komm auf meinen Schoß, bis das Essen auf dem Tisch steht“, lädt er mich versöhnend ein.
Wie ein Wiesel drehe ich mich herum, klettere auf seine Schenkel, kuschele mich an den dicken weichen Bauch. So ist es gut, spüre ich und schließe zufrieden und entzückt die Augen. Ich denke nach über dieses eigenartige Dreiergespann: Oma, Opa und Tante Hedel. Sie waren nach dem Krieg von Breslau geflohen, hatten alles stehen- und liegenlassen müssen. Mit einem Handwagenvoll des Nötigsten waren sie in Chemnitz angekommen, zuerst in einer Villa einquartiert und dann in diese Wohnung eingewiesen worden. Tante Hedel immer als Anhängsel mit. So hatte es mir Oma vor einiger Zeit erklärt. Tante Hedel wohnt in dem großen Zimmer ganz hinten rechts, neben dem Schlafzimmer von Oma und Opa. Das habe ich bei meinen Besuchen hier bereits erkundet. Auch das kleine schmale Zimmer links neben dem Schafzimmer habe ich schon gesehen. Da stehen ein Schrank mit Glasscheiben in den Türen, ein eckiger Tisch mit zwei Stühlen und ein tiefes, etwas durchgesessenes Sofa mit Blümchenstoff und geschnitzten Füßen. Der kleine schwarze Ofen in der Ecke wird nicht geheizt, das hatte Oma mir gesagt, weil sich dort sowieso keiner aufhält. Der lange Flur, für mein Empfinden unendlich lang, lässt sich gut nutzen, um auf der Hitsche sitzend Pferd zu spielen. Dazu halte ich den vorderen Teil des Hockers fest, stoße mich mit den Schenkeln ab und hüpfte, wie beim Sackhüpfen im Kindergarten, nach vorn. Das letzte Mal, als ich auf Ausritt war, steckte mir Tante Hedel eins von ihren selbstgenähten Kissen unter meinen Po.
„Da hast du einen schönen weichen Sattel“, sagte sie, „damit dir dein Porzellanpopochen nicht wehtut.“
Mit dem Polster galoppierte ich noch wilder und lauter den Flur entlang.
„Ein bisschen leiser, du Indianerhäuptling“, hat mich Oma auf Höhe der Küchentür damals gemahnt.
Das Essen ist fertig, Opa braucht jetzt Platz für sich. Bereitwillig gebe ich meinem großen Beschützer den Raum, den er beansprucht. Beide Hände auf der Tischplatte, so hat es mir Tante Hedel gezeigt, die neben mir auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Ich warte ungeduldig auf meinen Teller, der nur für mich ist, denn er zeigt auf dem Tellerboden einen Teddybär mit seinen zwei Kindern. Aber nur, wenn ich aufesse, sonst bleibt das Bild mit dem verdeckt, was sich noch auf dem Teller befindet. Ich will immer diese lustige Teddybärfamilie sehen, die so glücklich aussieht.
Nach dem Essen bereitet Oma Pflaumenkompott vor. Mama sagt sehr deutlich zu allen, sie müsse mal aufs Klo. Ich beobachte, wie sie in den Flur geht. Bevor sie außer Sichtweite am Schrank entlang Richtung Wohnungstür gerät, greift sie blitzschnell nach ihrer Handtasche, die an der Garderobe hängt, und verschwindet augenblicklich aus der Wohnung.
„Mama, bleib hier!“, schreie ich.
Ebenso schnell wie ich auf die Couch gekommen war, bin ich nun runter, durch die Beine derer, die wie erstarrt am Tisch sitzen. Weit komme ich nicht. Geistesgegenwärtig hält mich Oma am Arm fest, drückt mich an sich und sagt beschwörend:
„Mama kommt bald wieder und holt dich ab. Es ist nur für ein paar Tage.“
Ich reiße mich mit aller Kraft frei, werfe mich auf den Boden, trommle mit meinen Fäusten auf den Gummibelag, schreie und quicke. Ich verliere die Beherrschung. „Wie gemein die sind, stecken mit Mama unter einer Decke. Die haben genau gewusst, dass sie mich loswerden will. Die haben dieses böse Spiel mitgespielt!“
„Ich hasse euch“, schreie ich so laut ich nur kann. „Ich hasse euch, ich hasse euch“, schreie ich unaufhörlich.
„Jetzt ist es aber gut“, sagt Oma zornig. „Du hast keinen Grund, hier so ein Theater aufzuführen, schäm dich.“
„Ich hasse euch, ich hasse euch“, tobe ich weiter.
Ein fester Griff um meinen rechten Arm lässt mich kurz innehalten. Oma zieht mich nach oben, stellt mich auf die Füße und schiebt meinen wutbebenden Körper in die dunkle, kalte Speisekammer, die sich neben dem Fenster befindet. Als es dunkel um mich ist, beginne ich, wie wild an die Tür zu trommeln. Ich verstärke noch das Geschrei, brülle mir die Seele aus dem Hals. Es hilft nichts. Ich versuche mit letzter Kraft, nochmals die Lautstärke meines Klagegesangs zu erhöhen. Da höre ich den Schlüssel im Schloss. Es wird hell um mich, obwohl die Tür nur so weit offen steht, dass gerade eine kräftige, beharrte Hand hindurchpasst. Blitzschnell schnappt diese Männerhand zu, direkt an meiner Brust, da, wo der weiße Kragen des Matrosenhemdes am unteren Rand des Ausschnittes endet. So wie die Tür sich weiter öffnet, so entferne ich mich vom Boden, schwebe wie eine Feder an dieser großen behaarten Männerhand. Zwei stechende Augen durchbohren mich. In gleicher Augenhöhe erkenne ich das zornige Gesicht von Opa. All die Freundlichkeit ist aus seinen Gesichtszügen entwichen. Ich spüre den Luftzug im Gesicht, als er mit knirschenden Zähnen ausatmet. Er setzt mich unsanft auf meinem Popo ab.
Ich starre ihn mit aufgerissenen Augen an. Kein einziger Pips entweicht aus mir. Wie versteinert sitze ich da und weiß nicht, wie mir geschieht. Oma nimmt mich Häufchen Unglück vom Boden auf, drückt meinen zitternden Körper an ihre weiche Brust, an der ich mich sofort vor Scham verberge. Ich zittere noch immer. Das tränennasse Gesicht mit dem Rotz an der Backe bis runter zum Kinn vergrabe ich fest im Blusenstoff. Ich habe nur noch ein Bedürfnis – das Bett. Oma hat auch ohne Worte den Wunsch verstanden, sie knöpft mir die Hosenträger ab auf dem Weg ins kleine Zimmer, wo nie einer ist und wo jetzt die Couch mit Bettwäsche überzogen ist. Meiner Sachen entledigt und in den frisch gewaschenen, nach Kernseife riechenden Schlafanzug gesteckt, lasse ich mich in das neue Nest betten, welches die liebe Oma hergerichtet hat.
„Schlaf gut, morgen ist wieder ein schöner Tag, versprochen“, sagt sie und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, der sich auf meiner Haut warm anfühlt.
„Guten Morgen, du Langschläfer. Aufgewacht, die Sonne lacht“, ruft Oma mit verhaltener Stimme.
Sie will mich nicht erschrecken. Mit dem Zeigefinger tippt sie mehrfach auf meine Nasenspitze.
„Schau, die warmen Strahlen kitzeln dich auf der Haut“, lächelt sie.
Langsam öffne ich die Augen. Blinzelnd, mit verklebten Wimpern vom vielen Schlafsand, blicke ich in ihr gütiges Gesicht. Ihre grauen, streng nach hinten zum Zopf geflochtenen Haare verstärken den Ausdruck der typischen Oma, der Märchenerzählerin, der Eierkuchenbäckerin, der Frau, die die Betten schüttelt, damit es auf der Erde schneit. Ich werfe die Decke von mir und springe hoch, klammere mich Oma fest um den Hals. Ganz eng sind wir aneinander geschweißt, eins geworden. Mit mir als Halskette steht sie auf, verschränkt die Arme um mich und trägt mich in die Küche. Es duftet angenehm mit einem Hauch von Weihnachten, obwohl erst Herbst ist.
Ich darf wieder auf meinen Thron auf der Couch neben Opa steigen, der aber längst zur Arbeit ist. Auch Tante Hedels Platz am Fenster vor der Speisekammer, an deren Inneres ich mich nicht gern erinnere, ist frei geblieben. Oma muss meinen suchenden Blick erkannt haben, denn sie klärt mich auf.
„Hedel ist in der Näherei, sie sitzt an einer ganz großen Nähmaschine und näht Überzüge für Polstermöbel, so wie hier bei der Couch der Stoff. Opa arbeitet in einer Fabrik, fast ganz am anderen Ende der Stadt. Er fährt jeden Tag fast über eine Stunde mit dem Fahrrad auf Arbeit. Er ist Spitzenbohrer. Er bohrt Löcher in Platten. Winzige, in unzähligen Reihen und genau ausgerichtet. Er muss sehr gut aufpassen, dass er alles richtig macht. In der Woche sind die beiden sehr fleißig und können sich nur an ihrem freien Tag ausruhen. Das ist der Sonntag. Da arbeitet niemand, da kann man all die Dinge machen, zu denen sonst keine Zeit ist.“
„Und was macht man da, Oma?“, frage ich neugierig.
„Man geht in den Garten oder wandert irgendwohin, wo es schön ist. Und wenn es regnet oder das Wetter nicht so schön, dass man rausgehen kann, dann bleibt man zu Hause, macht es sich gemütlich und spielt Karten oder hört Musik. Man kann sich auch unterhalten, erzählen, was es Neues gibt.“
„Muss man sich dann auch anschreien?“
„Natürlich nicht. Jeder soll ganz normal mit dem anderen reden, so wie wir beide. Wie kommst du darauf?“
„Na ja, zu Hause schreien sich Mama und Papa immer an und sagen lauter böse Dinge zueinander.“
„Nein, so ist das nicht bei uns. Musst einfach drauf achten, wie man richtig miteinander spricht. Das ist für dich, wenn du mal groß bist, auch sehr wichtig“, teilt Oma mir ihre erste Lebensregel mit.
Das Frühstück in meiner neuen bekannten Umgebung ist lecker. Oma ist eine richtige Zauberin. Aus Schalen von Kakaobohnen hat sie Tee gekocht und ganz viel Milch reingetan. Das Brot bestreicht sie mit Quark und obenauf selbstgemachter Marmelade. Oma hat die Scheibe in kleine Stücke geschnitten. Ich schaufle eins nach dem anderen in mich hinein. Danach schält sie extra für mich einen Apfel, schneidet ihn auf und entfernt das Kerngehäuse. Er schmeckt genau so lecker wie alles, was ich schon in mich hineingestopft habe.
„Der ist noch von der letzten Ernte, vom vorigen Jahr. Wir legen die Äpfel im Keller in Stiegen, da bleiben sie lange frisch und man kann welche essen, wenn noch keine neuen am Baum reif sind“, teilt Oma mir ihre zweite Lebensregel mit.
Mit halb geöffnetem Mund strahle ich sie an. „Toll, was sie alles weiß“, denke ich.
Der Tag vergeht wie im Fluge. Mittags kocht Oma, wieder extra für mich, Vanillepudding mit einem kleinen Stückchen gute Butter drin. Das verfeinert den Geschmack, flüstert sie geheimnisvoll und hält den Zeigefinger an den Mund, so als dürfte das keiner erfahren, unser großes Geheimnis.
Den Mittagsschlaf finde ich doof. Jetzt, wo es so viel Neues zu entdecken gibt, kann ich doch keinesfalls die Zeit mit Schlafen verbringen. Da habe ich allerdings nicht mit meiner schlauen Oma gerechnet. Sie setzt sich in den großen Sessel, der in Tante Hedels Zimmer steht, nimmt sich die „Wochenpost“, die Lesestoff für viele Tage bietet. Da sitzt sie nun, wieder streng wie Frau Holle, und wacht über meinen Schlaf. Bei jeder kleinen Bewegung und wenn es nur die Finger sind, die mit der Decke spielen wollen, kommt ihr ermahnendes „Pss“. Schon liege ich wieder ganz ruhig und traue mich nicht, mich zu rühren. Natürlich schlafe ich fest ein und werde von Oma wachgeküsst, so wie Dornröschen vom Prinzen.
Gegen fünf Uhr kommt Tante Hedel. Ich stehe mit Oma vor der Haustür und sehe sie von Weitem langsam näherkommen. Als sie an der Post vorbei ist und keine einmündende Straße mehr eine Gefahr für mich darstellt, darf ich ihr entgegen rennen. Ich renne so schnell ich nur kann, stolpere fast über meine eigenen Füße. Tante Hedel setzt ihre Tasche und den dicken Beutel ab, die sie beide in der rechten Hand trägt. Auf dem letzten kleinen Stück, welches uns noch trennt, gibt sie mit ausgebreiteten Armen die Richtung meiner Landung an. Ich bremse kurz ab, laufe aber trotzdem ziemlich ungestüm in sie hinein. Durch den Aufprall macht sie einen Schritt rückwärts und hat zu tun, die Balance zu halten.
„Nicht so wild, kleiner Mann. Wirfst mich ja um“, sagt sie scheinbar vorwurfsvoll, beugt sich aber gleichzeitig zu mir herunter, um ein Küsschen auf meine Wange zu setzen.
Hand in Hand gehen wir die letzten Meter zur Haustür gemeinsam. Ich darf den dicken Beutel tragen. Schwer ist er nicht, denn es befindet sich nur ein Kopfkissen für mich darin, wie Tante Hedel mir verriet. Leider sind die Henkel fast so lang wie ich, sodass ich meine Mühe beim Tragen habe. „Ich bin kräftig und ich werde diesen Riesen besiegen“, denke ich voller Heldenmut.
Als Opa von der Arbeit kommt, sitzen wir drei schon in der Küche. Es klingelt und Oma schickt mich, die Tür zu öffnen. Ich flitze um die Ecke. In dem Moment, als ich zur Türklinke greife, stoppt plötzlich die Hand. Dort hinter der Tür steht der, der mich auf meinen Popo gesetzt hat. Soll ich ihn wirklich hereinlassen? Was, wenn er es wieder tut? Die Hand wartet nicht auf Antworten. Die Finger drücken die Klinke herunter und die Tür springt auf. Erschrocken will ich zurückweichen. Aber zu spät. Diesmal haben mich zwei große behaarte Hände fest unter den Achseln gefasst und in die Höhe katapultiert. Fast waagerecht hänge ich in der Luft, bin plötzlich über Opa hinausgewachsen, denn er hält mich mit ausgestreckten Armen über seinem Kopf.
„Na, Hosenscheißerchen, alles wieder in Ordnung? Warst du lieb?“, fragt er und lässt mich noch immer in der Luft zappeln.
Ich nicke nur heftig mit dem Kopf. Mir hat es in dieser luftigen Höhe die Sprache verschlagen. Ganz geheuer ist es mir auch nicht. Opa lässt mich ein Stück herab, klemmt mich wie eine Zeitung unter den Arm, schließt mit der freien Hand hinter sich die Tür und marschiert mit mir in die Küche ein.
„Guten Abend, miteinander. Ich hab euch ein kleines Hosenscheißerchen mitgebracht. Da ist es“, und zeigt mich den beiden Damen in voller Pracht.
„Lass ihn sofort runter“, schimpft Oma und nimmt mich vorsichtshalber selbst aus den Fängen dieses kräftigen Bären.
Mit der frei gewordenen Hand zerzaust er mir noch die Haare, die jetzt wild nach allen Seiten stehen.
„Nicht doch, habe ihn extra hübsch gemacht für dich“, murrt Oma.
„Bist auch so schmuck genug, stimmt’s?“, fragt mich Opa schmunzelnd.
Wieder nicke ich mehrfach und quetsche mir ein undeutliches „Ja“ heraus. Ich husche unter der Tischplatte hindurch, drängele mich durch den Spalt zwischen Unterkante Tisch und der Sofasitzfläche und gelange so auf meinen Thron, gebaut aus einem extra dicken Sofakissen. Vorsichtshalber halte ich respektvoll Abstand zu dem Platz neben mir. Sicher ist sicher.
Es gibt Suppe mit grünen Bohnen, Kartoffelstücken und Rauchfleisch, das wir erst nach dem Mittagsschlaf beim Fleischer geholt haben.
„Bitte mit Schwarte“, hatte meine Oma der Verkäuferin gesagt.
Ich sah, dass sie nach dem Wiegen, bevor sie das Stück in Papier einwickelte, noch einen Streifen dazu legte.
„Danke schön“, hatte Oma freudig dazu gesagt.
Jetzt war das Rauchfleisch in kleine Happen geschnitten, wie auch ein Teil der Schwarte. Nur der Extrastreifen ist ganz geblieben und wird feierlich auf Opas Teller gelegt.
Nach dem Essen fragt mich Opa, ob ich „Händehaschen“ kenne. Er zeigt mir, wie mit der flachen Hand dem anderen auf die Handfläche geschlagen wird, wenn der seine nicht schnell genug vor dem Schlag wegzieht. Es macht einen Heidenspaß. Vielmehr treffe ich Opas Handteller als er meine. Ich schaffe es immer wieder, rechtzeitig wegzuziehen. Oder schlägt Opa etwa absichtlich langsamer? Da bin ich am Zweifeln. Egal, ich bin der Sieger.
Heute war ein guter Tag, denke ich, als mich alle drei ans Bett begleiten. Tante Hedel und Opa winken mir von der Tür aus zu, denn alle drei haben ja nicht Platz an meinem Bett. Oma singt „Schlaf, Kindchen, schlaf …“ Mir wird warm ums Herz.
„Morgen wird wieder ein schöner Tag“, flüstert mir Oma ins Ohr, bevor sie mir die Zudecke bis ans Kinn zieht, die Seiten unter die Beine steckt und prüfend schaut, dass auch meine Füße fest mit der Decke umschlossen sind.