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13. Kapitel
ОглавлениеSusanne hat das Krankenhaus verlassen. Sie hasst den Geruch von Desinfektionsmittel, der im Inneren dominiert. Dieses Sterile, die furchteinflößende Stille, das unheimliche düstere Licht, die unendlichen Gänge, all das legt sich auf Susannes Gemüt. Sie muss auf andere Gedanken kommen, jetzt endlich, da es doch einen Schimmer von Hoffnung gibt. Sie geht nicht direkt Richtung Bahnhof, sondern läuft einen Umweg durch die Stadt mit den Einkaufspassagen, den bunten Läden und schillernden Schaufenstern. Endlich, nach vielen Tagen und Wochen nimmt sie sich Zeit, ihr Umfeld wieder bewusst wahrzunehmen. Bisher war sie wie von Geisterhand gesteuert zwischen Bahnhof und Krankenhaus gependelt, keinen Zentimeter vom Weg abweichend. Sie erschrickt über das schrille Lachen von drei Mädchen, die ausgelassen an ihr vorbeilaufen. Sich nach ihnen umblickend stößt sie unvermittelt gegen eine alte kleine Frau mit Gehstock.
„Kannst nicht aufpassen, rennst mich ja um?“, ruft sie Susanne zu, die erschrickt und wortlos, jetzt den Schritt beschleunigend, weiter eilt. „Nur schnell weg von hier, raus aus dem Trubel, zurück in meine traurige Welt“, denkt sie. Susanne wird plötzlich bewusst, dass sie noch nicht reif ist für diese mit Leben und Freude erfüllte Welt. Es ist noch eine andere ihre Welt, so einsam sie ist, ohne Karl, in der Ungewissheit lebend, ob alles wieder so wird, wie es war.
Abends sitzt sie im großen Sessel, den sie gemeinsam kauften, der aber nur von ihr genutzt werden darf. Sie hat seit Jahren von ihm Besitz ergriffen. Er ist ihr Rückzugspunkt. Jetzt liegt auf dem Schoß ein Ordner mit der Beschriftung „Karl privat“. Ihr ist er hinter der Tür nie so ins Auge gestochen. Aber nun, wo Karl nicht da ist, will sie ein Stück von ihm in den Händen halten. Nie war sie neugierig auf den Inhalt dieses Ordners „Karl privat“, hat ihn wie selbstverständlich über die Jahre wahrgenommen, wie er so dastand in Reih und Glied mit den anderen, die im Inneren akkurat abgeheftet Antworten geben zu Auto, Versicherungen, Energie und Telefon. Sie schlägt den prallen Ordner auf, der, mit Einlegern gekennzeichnet, einen Überblick bietet über die monatlichen Lohn- und Gehaltsabrechnungen der verschiedenen Arbeitsstellen von Karl. Ein Lächeln huscht ihr über das Gesicht und für einen kurzen Moment spürt sie die Wärme im Inneren. Sie denkt an den Seniorchef, den Patriarchen, den liebenswerten aber auch unduldsamen und herrschsüchtigen Mann. Sie hatte ihn gemocht, so wie er war, mit all seinen Ecken und Kanten.
Hinter dem nächsten Einleger kommt das Zeugnis der IHK München und Oberbayern zum Vorschein. Auf dem Prüfungszeugnis steht, dass er mit „Befriedigend“ die Ausbildung zum Industriekaufmann bestanden hat. „Ja, da hat er sich wahrlich nicht angestrengt, hat die drei Jahre auf einer Arschbacke abgesessen“, denkt Susanne und grinst, „aber er hat bestanden.“ Wie doch ein solches Papier eine ganze Lebensgeschichte erzählen kann.
Sie will weiteren Gedanken keine Chance lassen, hat bereits den nächsten Einleger umgeblättert. Ah ja, die Bayerische Staatsgemäldesammlung, auch eine kurze Station im Berufsleben, eigentlich eine Zwischenstation für ein Jahr. Die Stelle hatte er sich aus den Stellenanzeigen der Süddeutschen Zeitung herausgeschnitten, damals, als sie von Sachsen nach Bayern gezogen waren und er den zweiten Monat arbeitslos war. „Von Bildern habe ich keine Ahnung, dort kann ich bestimmt etwas dazulernen“, hatte er seine Bewerbung begründet und war als Aufsichts- und Sicherheitskraft eingestellt worden.
Jetzt kommt die wilde Zeit in Sachsen, an die sie sich lieber nicht erinnern will. Flüchtig überblättert sie die einzelnen Abschnitte bis hin zur Armeezeit, die auch so ein Kapitel für sich war. „Während dieser Zeit haben wir uns kennengelernt, haben schöne aber auch schmerzhafte Momente erlebt“, ihr Blick verschwimmt, bevor ihr die Tränen in den Augen schießen, hat sie schnell bis zum letzten Einleger umgeschlagen. Vorn auf sieht sie das Urteil im Namen des Volkes in der Scheidungssache Karl und Ilse Nebel. „Kenne ich“, denkt sie und blättert weiter in den verbleibenden Seiten.
„Das gibt es doch nicht“, ruft Susanne plötzlich aus und ist erschrocken, ihre eigene Stimme zu hören, „die Rede der Standesbeamtin zu unserer Eheschließung“, ergänzt sie etwas leiser. Das Manuskript hatte sie nach der Zeremonie auf Bitten von Karl ihm überlassen. Noch immer überrascht von dem Fund überfliegt sie die vier Seiten und beschließt, sie morgen mitzunehmen zu Karl ins Krankenhaus. „Das wird ihn bestimmt freuen und vielleicht erwacht er vor lauter Freude.“ Susanne lächelt vor sich hin und die Vorfreude auf den morgigen Tag lässt ihre Bauchmuskeln vibrieren. Mit zitternden Händen heftet sie die Seiten aus. Als sie den Spanner des Ordners wieder schließt, entdeckt sie die vergilbten Blätter kleinkarierten Papiers, die sich hinter der Rede verborgen hatten. Die Überschrift auf der ersten Seite in der Handschrift, die eindeutig Karls ist, lässt ihren Atem stocken. „Versuch der Analyse einer gescheiterten Ehe“ datiert vom 2. 4. 1989. Sofort kommen ihr wieder Tränen. Sie wollte nicht mehr an diese verfluchte Zeit erinnert werden, hat sich mit allen Kräften dagegen gewehrt. Und nun hält sie genau das, zu Papier gewordene, Stück schmerzlicher Vergangenheit in den Händen. Ihr Atem wird schwer, ihre Brust presst sich zusammen als lägen tonnenschwere Gewichte auf ihr, das Blut scheint ihr in den Adern zu erstarren. Lange kann sie sich aus dieser Starre nicht befreien. Langsam tief ein- und ausatmend bleibt sie im Sessel sitzen, bis sie sicher ist, dass der Schmerz in ihrem Körper nicht zurückkehrt.
Sie war überzeugt gewesen, dass er das Geschriebene, das seinen alkoholbenebelten Gedanken entsprungen war und von Selbstmitleid zerfressen, beseitigt hatte. Wütend heftet sie die Zettel aus, deren Inhalt sie damals schon mit Entsetzen zur Kenntnis genommen und später lange, sehr lange mit Karl diskutiert hatte. Nein, sie wird sich das nicht noch einmal antun. Sie wird nicht nochmals zweifeln, dass so viel Schuld bei ihr gelegen haben soll. So war es einfach nicht und die Zeit danach hatte es ja bestätigt. Aus beider Blickwinkel, dem von Karl und von ihr, hatten sie die schlimme Zeit analysiert, geklärt, was richtig und was falsch gewesen war. Nur aus der Erkenntnis heraus, dass es ein gemeinsames Vorwärts geben muss und dass Geschehenes eben geschehen war und nicht ungeschehen gemacht werden konnte, war ihnen der Neuanfang gelungen. Sie legt sowohl den Ordner als auch die kleinkarierten Blätter zur Seite, steht auf und geht ins Bad, um Dutzende Hände eiskalten Wassers über ihr Gesicht zu schütten. Ihre Sinne kehren zurück. Behutsam tupft sie die nasse Haut ab, um die wohltuende Kälte weiter zu spüren.
Entschlossen nimmt sie die vergilbten kleinkarierten Blätter, geht ins Arbeitszimmer und lässt sie nacheinander in den Aktenvernichter gleiten. „Es ist, wie es ist“, sagt ihre innere Stimme und ihre Körperhaltung strafft sich. Sie geht zurück zum Sessel, der ihr, so glaubt sie, nun wieder Geborgenheit gibt.
Am nächsten Tag steht Susanne zeitiger auf als sonst. Sie will sich heute besonders schön machen, nicht nur weil die Sonne scheint und der Himmel wolkenlos im tiefen Blau erstrahlt, sondern weil sie ihren Karl mitnehmen will auf eine Zeitreise zurück zu dem Tag der Eheschließung. Doch nichts wird sie sagen zu dem Anderen, den vergilbten kleinkarierten Blättern.
Sie erkundigt sich wie jeden Tag bei Dr. Meissner, ob es Neuigkeiten gibt, ob der Zustand von Karl sich verbessert hat, ob er vielleicht schon zu Bewusstsein gekommen ist, genau wissend, dass sie nicht die so sehnlichst gewünschte Antwort erhalten wird. Karl sieht zufrieden aus, im frischen Nachthemd, rasiert und leicht duftend nach einer milden Gesichtscreme. Susanne streicht ihm über das Haar, senkt sich herab und küsst, diesmal zärtlicher und inniger als sonst, das Gesicht, die Lippen, die Stirn. Doch will sie sich nicht lange aufhalten, sie hat heute eine wichtige Mission, Karl mitzunehmen auf eine Zeitreise zum Beginn ihrer Ehe.
Susanne zieht den Stuhl ans Bett, setzt sich so weit wie möglich in die Nähe von Karls Ohr, damit er es auch richtig hören kann. Sie hat die Situation heute Morgen förmlich einstudiert, genau festgelegt, wie sie ihn auf der Reise begleiten will. Ganz wichtig erscheint ihr, dass sie seine Hand hält, genauso wie damals, als sie vor Aufregung und Freude zitterte, ihre kalte Handfläche auf Karls Handrücken wärmte. Ja, nicht er hatte ihre Hand gehalten, sondern sie die seine, das weiß sie noch ganz genau.
„Lieber Karl“, begann sie, „ich habe gestern zufällig in dem privaten Ordner von dir unsere Hochzeitsrede gefunden. Die hattest du der Standesbeamtin abgeschwatzt. Erst wollte sie nicht, aber dein Charme war stärker, wie immer bei Frauen. Ich habe die Rede mitgebracht und möchte uns zurückversetzen zu dem Tag, an dem das gemeinsame, amtliche Leben begann, frei von Heimlichkeiten, frei vom Versteckspiel und Notlügen. Ich werde deine Hand halten, wie damals, und den Text vortragen, wie es die Standesbeamtin tat.“
Susanne rutscht nochmals auf dem Stuhl, um die beste Sitzhaltung zu finden, ergreift die Hand von Karl, umschließt seinen Handrücken kräftig, damit er spüren soll, wie schön es ist. Langsam beginnt sie ihren Vortrag.
Sie liest über Beruf, Freizeit, Weiterbildung, Haushaltführung und Erziehungder Kinder. Es ist die Rede von Vertrauen, Liebe, Kameradschaft. Susanne liest über die Vorzüge der Gesellschaft, in der das Brautpaar eingebettet ist, aus der es Kraft schöpfen kann. Susanne bringt es zu Ende, merkt, dass vieles davon Floskeln sind, Bausteine, aus denen die Rede einer damaligen Eheschließung bestand.
Dann blickt sie Karl lange ins Gesicht, hoffend, dort eine winzige Reaktion auf das von ihr Vorgetragene zu entdecken. Aber er liegt ruhig auf dem Kissen, die Geräte pulsieren gleichmäßig. Trotzdem, so redet sie sich ein, hat er bestimmt diesen glücklichen Moment, der vor vielen Jahren stattgefunden hat, in sich wahrgenommen.
„Sehr schön und so persönlich hat sie das gemacht. Findest du nicht auch?“
Als sie keine Antwort erhält, wandert ihr Blick wehmütig zum Fenster, wo am Himmel schwarze Wolken aufziehen.
Ihre Verabschiedung von Karl gestaltet sich heute sehr kurz und bündig. Vielleicht liegt es an dem heranziehenden Gewitter, eventuell aber auch an der Enttäuschung, dass das bis ins Detail eingeübte Szenario keine Wirkung bei Karl gezeigt hat.