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10. Kapitel
ОглавлениеDie Dunkelheit wird plötzlich von einem grellen Licht, das durch einen Spalt fällt, durchbrochen. Als öffnete jemand langsam eine Tür zu einem finsteren Raum, so scheint es jetzt, als mehr und mehr Helligkeit das Dunkel durchströmt. Eine blühende Wiese mit Bäumen bietet sich dem Auge. Vögel streiten sich um die besten Brutplätze, ringen um die Gunst paarungswilliger Weibchen. Bunte Schmetterlinge tanzen fröhlich zwischen den Blumen hin und her, scheinen miteinander zu spielen.
Ich stehe mit meiner neuen hellbraunen Popelinehose und dem Matrosenhemd abmarschbereit am Handwagen, den Tante Hedel und Opa mit allem beladen haben, was für einen langen Sonntag an frischer Gartenluft erforderlich ist. Prüfend tasten sich meine Hände in die prall gefüllte Tasche, die besonders die Neugier erweckt hat. Vielleicht ist etwas für mich darin? Bonbons, Schokolade, Kekse oder ein Stück Kuchen? In die Suche vertieft, merke ich nicht, dass mich Opa schon eine ganze Weile beobachtet. Ein Klaps auf den Hinterkopf erinnert mich daran, dass Opa mir den Platz an der Handwagendeichsel zugewiesen hat. Mit einem kurzen Satz springe ich dorthin, erfasse das Stück Holz und wie ein Pferd, welches eben vor den Wagen gespannt ist, beginne ich loszumarschieren. Tante Hedel und Opa folgen mir mit wenigen Schritten Abstand. Oma, so haben mir beide gesagt, komme später nach, sie räume noch die Wohnung auf und könne später allein und langsamer gehen. Da sie es mit der Hüfte hat, hinkt sie und braucht länger für den Weg.
Nach der Post, als ich rechts in die „Heppe“ einbiege, einem Versorgungsweg, der steil hinaufführt bis zu der großen breiten Straße, die ans Ende der Welt führt, übernimmt Opa das Kommando. Er, als ganz starkes Pferd, zieht mühelos den Wagen hinter sich her. Tante Hedel hat mich an die Hand genommen und findet es lustig, dass ich so ausgelassen neben ihr her hüpfe. Auch sie sieht merkwürdig heiter aus, denke ich und erinnere mich, dass ja heute Sonntag ist. Daran muss es liegen, stelle ich fest.
Im Garten angekommen, bringen wir gemeinsam unsere Schätze in die dunkle Gartenlaube. Heiß ist es darin. Die Sonne hat in der kurzen Zeit, seit sie am Himmel steht, das Innere zu einem Brutkasten für Küken aufgeheizt. Ich ziehe mir meine geliebte Popelinehose und das Matrosenhemd aus und begebe mich auf Entdeckertour.
Opa und Tante Hedel verschwinden in der Gartenlaube. Quietschend schließt sich die Tür hinter ihnen. Das Geräusch ist mir nicht entgangen, weckt jedoch nicht mein Interesse, denn ich bin auf der Suche nach dem Maulwurf, der zwischen den Radieschen einen Erdhaufen aufgeschüttet hat. Ich grabe und grabe, kann ihn aber nicht ausfindig machen. „Hier muss schweres Gerät ran“, denke ich und eile auf die Rückseite der Gartenlaube, wo die Spielgeräte lagern. Genau das, was ich brauche, ist spurlos verschwunden. Die Schaufel ist unauffindbar.
Dafür wecken seltsame Geräusche meine Neugier, die aus dem Inneren der Gartenlaube dringen. Ich höre deutlich Tante Hedel stöhnen, ab und zu schreit sie halblaut auf. Zwischendurch stimmt Opa mit einem Schnaufen ein, als hätte er gerade einen Dauerlauf hinter sich. Erstaunt, was dort wohl geschieht, eile ich zu der Laubentür und öffnete sie einen Spalt.
„Tür zu!“, schreit Opa markerschütternd, sodass ich vor Schreck die Tür zuknalle.
Etwas habe ich schon gesehen, doch keine Erklärung dafür – nämlich Opas Popo. Tante Hedel stand ganz nah bei ihm. Eingeschüchtert verziehe ich mich zu meinen Spielsachen hinter der Laube. Viel leiser als zuvor dringen Stöhnen und Schreien noch zu mir. Nur das Opas Schnaufen ist verstummt. „Wohl weil er seinen Dauerlauf beendet hat“, rede ich mir selbst ein. Nach einer Weile biegt Opa um die Ecke. Er ist schweißüberströmt, baut sich vor mir auf und belehrt mich.
„Wenn einer von uns, auch Oma, in der Gartenlaube ist und die Tür hinter sich schließt, dann ist das für dich Tabu. Dann ziehen wir uns nämlich um und da hast du nichts zu gaffen. Verstanden?“, knurrt er mich ärgerlich an.
Ich zucke zusammen, blicke reumütig an dem Riesen entlang nach oben und wimmere halb schluchzend:
„Ich mach das nie wieder, Opa, versprochen.“
„Das will ich hoffen. Verstanden? Und zu Oma kein Wort. Ist das klar?“, fragt er noch strenger als zuvor.
Kleinlaut presse ich ein „Ja“ hervor, meine Augen füllen sich mit Tränen.
„Dann ab, geh spielen“, sagt Opa, nun schon versöhnlicher.
Ich flitzte um die Ecke, laufe schnurstracks zum Maulwurfhügel und grabe mit den bloßen Händen weiter, als wenn ich mich selbst eingraben wollte. Ich schäme mich für die Neugierde und das erhöht mein Buddeltempo. Der Maulwurf hat sich längst verkrochen, nach einer Weile gebe ich auf. Ich stelle mich zur Abwechslung auf die Fußbank an der Regentonne, beginne ausgiebig meine schmutzigen Hände zu waschen.
Tante Hedel gesellt sich zu mir. Auch sie war vorhin schweißüberströmt und puterrot im Gesicht. „Das Umziehen muss sie sehr angestrengt haben“, denke ich mit einem mitleidigen Blick.
„Bist doch ein ganz lieber Junge“, lobt sie mich, wieder mit diesem merkwürdig fröhlichen Lächeln.
Im nächsten Moment ist ihr Kopf in der Regentonne bis zum Halsansatz im Wasser verschwunden. Luftblasen blubbern an den Ohren vorbei an die Oberfläche. Kurz bevor sie wieder auftaucht, prustet sie die restliche Luft gluckernd aus ihrer Lunge. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und schüttelt so einen Teil des Wassers ab. Mit den Händen nimmt sie eine Portion kühlende Erfrischung aus dem Fass und bespritzt damit gehörig mein Gesicht.
„So, das war für deine Neugierde, mein Kleiner“, lacht sie.
Ich versuche, sie ebenfalls vollzuspritzen, aber sie ist schon kichernd zwischen den Beeten davon.
Ich vertiefe mich wieder in meine Jagd nach dem Maulwurf. Mit einem Stock bohre ich noch tiefer in den ehemaligen Erdhaufen, an dessen Stelle durch mein Graben ein beachtliches Loch entstanden ist. Ich stochere darin herum, nehme Erde heraus und werfe sie auf die Seite.
„Das machst du gleich wieder zu“, ordnet Opa an, der jetzt plötzlich hinter mir steht.
„Was soll das eigentlich werden, gräbst du nach Gold? Da wirst du hier keines finden“, fragt er neugierig nach.
„Ich suche den Maulwurf. Vorhin war er noch hier, in diesem Haufen war er, wo ich mit dem Stock reinsteche. Ich find ihn aber nicht“, maule ich.
„Pass mal auf, du Maulwurfjäger, du wirst damit keinen Erfolg haben, auch wenn du den ganzen Garten umgräbst“, klärt mich Opa auf. „Maulwürfe sind sehr schlaue Tiere, die haben unter der Erde Gänge gegraben und wenn du hier gräbst, ist er vielleicht schon da oder dort oder dort.“
Opa umschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen, vom Gartentor bis zur Laube.
„Da nützt dir dein Gebuddel gar nichts, mach das Loch wieder zu, sonst lacht er dich noch aus, wenn er dir von da vorne zuschaut.“
Tante Hedel tritt an ihn heran und flüstert, sodass ich es nicht hören soll:
„Maulwürfe sind blind.“
„Das weiß ich, aber er glaubt es“, er nickt in meine Richtung.
„Egal, ob er sehen kann“, murre ich lautlos und werfe das Loch enttäuscht wieder zu. Die Jagdlust ist erloschen. Ich versuche es jetzt als Sammler. An den Sträuchern entlang der Grenze zum Nachbarn, wo die Erdbeeren wachsen, hängen jede Menge rote, gelbe, schwarze und weiße Früchte. Nur die Hand ist zu klein oder der Appetit zu riesig. Mit ein paar Beeren in der Hand gehe ich zu Tante Hedel, damit sie mir hilft, am besten mit einer großen Schüssel. Aber ich werde schon wieder gebremst in meinem Tatendrang.
„Bevor du Beeren anfasst, wasch dir die Hände, die sind ja schwarz vor Dreck“, weist mich Tante Hedel an.
Ich mustere sie, finde sie überhaupt nicht dreckig, gehe trotzdem zum Regenfass, stecke aber erst die saftigen Schätze in den Mund. Ich halte beide Arme in das Wasser, schwenke sie ein paar Mal im Kreis und fertig ist die Wascherei. „Die werden sowieso wieder dreckig“, denke ich. Tante Hedel hat ihren Willen, ich bekomme die Schüssel und los geht’s. Von jedem Strauch pflücke ich mir ein paar Beeren. Schnell ist die Schale voll.
„Tante Hedel, wäschst du mir die Früchte und tust Zucker drauf?“, rufe ich in ihre Richtung. Sie reagiert nicht.
„Tante Heeeedel“, rufe ich lauter, „wäschst du mir die Beeren und tust Zucker drauf?“
Wieder keine Reaktion. Sie muss mich doch aber gehört haben?
„Versuch es doch mal mit ‚bitte‘“, flüstert mir Opa im Vorbeigehen zu.
Mit dem Wort „bitte“ voran wiederhole ich das Ganze nun noch einmal.
„Na siehst du, es geht doch“, schmunzelt Tante Hedel und kommt endlich zu mir. Nach so viel Arbeit muss ich mich nun ausruhen. Mit der Schüssel voller Beeren und dem Zucker darüber setze ich mich in den Liegestuhl, den Opa für Oma aufgebaut hat.
„Na, wer futtert denn schon wieder?“, ruft Oma fröhlich und schließt soeben das Gartentor hinter sich.
„Oma, Oma“, freudig springe ich auf, ohne an die Schüssel mit dem Rest Beeren und dem Zucker darüber zu denken. Nun liegt alles im Liegestuhl.
„Das ist ja eine Sauerei, die du da gemacht hast. Da klebe ich ja fest, wenn ich mich reinsetze“, sagt Oma vorwurfsvoll.
„Musst du halt erst abwischen“, gebe ich ihr zur Antwort und klaube die Beeren vom Liegestuhl. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich alle aufgelesen habe. Mit meiner leeren Schüssel gehe ich zu Oma, halte sie ihr stolz hin:
„Alles aufgegessen, und auf deinem Liegestuhl liegt auch nichts mehr.“
„Na, da gehe ich doch lieber erst einmal nachschauen, ob das auch stimmt, was du mir da erzählst“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht und dem Lappen in der Hand.
Ich freue mich, wie schön es hier im Garten ist und dass ich Mama und Papa eigentlich gar nicht vermisse. In diesem Moment stellt sich Traurigkeit ein. Ich laufe ums Gartenhaus, setze mich in die Spielecke, unschlüssig, was ich mit mir und der Welt anfangen soll. Dann nehme ich den kleinen Metalleimer ohne Henkel und fülle Sand hinein. Als er voll ist, klopfe ich mit der Schaufel den Sand fest und stülpte den Eimer um. Oma hat mir gezeigt, wie man Sandkuchen backt. Genauso, wie ich es jetzt mache. Ich ziehe die Form vorsichtig nach oben weg und betrachte mein Kunstwerk, welches keines geworden ist. Wutentbrannt schlage ich auf den Sandberg ein, mache in platt. Immer wieder schlägt die Schaufel auf den kümmerlichen Sandhaufen.
„Der Sand kann aber nichts dafür, wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen ist“, spricht Oma ganz ruhig, tritt an mich heran, kauert sich zu mir.
Einen Moment schaut sie mir ins Gesicht, nimmt mich dann kurz entschlossen auf den Schenkel und drückt meinen bebenden Körper an ihre weiche warme Brust.
„Weine ruhig, das erleichtert, das vertreibt die bösen Gedanken“, flüstert sie mir ins Ohr und streichelt mir über den Kopf.
Sie hat den Kummer, der mich so fest gepackt hat, erahnt. Nach einer Weile beruhige ich mich. Sie dreht mein Gesicht zu ihrem Mund und ein dicker Kuss landet auf der Stirn.
„Musst nicht traurig sein, Mama und Papa sind doch immer für dich da. Sie haben nur gerade so viel zu tun, müssen lange arbeiten und Geld verdienen, deshalb dachten sie, dass du eine Weile bei uns wohnst. Dir gefällt es doch bei uns. Brauchst in keinen Kindergarten mehr, musst nicht so zeitig aufstehen, kannst in Ruhe frühstücken. Das ist doch fein. Oder?“, fragt sie, obwohl sie die Antwort kennt.
„Hab dich lieb, ich hab euch alle lieb. Bei euch ist es so schön“, schluchze ich und drücke Oma so fest ich kann.
„Weiß ich doch, wir dich auch“, sie gibt mir nochmals einen Kuss.
„Jetzt muss ich aber hoch, mir tut das Bein weh“, stöhnt sie und rubbelt meine Haare, aus denen ein paar Sandkörner rieseln.
„Kannst mir helfen beim Mittagessen machen“, bietet sie mir an.
Bereitwillig folge ich ihr in die Gartenlaube. Dort steht bereits Tante Hedel, prüft die Kartoffel im Topf, ob sie schon weich sind.
„Müssen noch ein Weilchen“, sagt sie laut zu sich selbst.
Ich darf das Kompottglas aus der Tasche herausnehmen. „Mm, Pflaumen, lecker“, stelle ich für mich fest. Oma setzt das Eisen des Glasöffners am Gummiring an und ich darf ganz sachte den großen Hebel nach unten drücken. Der Ring gibt nach und der Deckel springt vom Glas. Zur Belohnung, weil ich das so gut gemacht habe, fischt mir Oma eine Pflaume aus dem Glas.
„Mund auf“, befiehlt sie und lässt das Stück im großen Bogen in meinen weit geöffneten Mund fliegen.
Dann helfe ich, die gefüllten Kompottschüsseln zum Tisch zu tragen und zu verteilen, wobei ich sehr genau darauf achte, dass die vollste Schüssel bei mir steht. Wieder komme ich in die Küche und nehme die Kartoffelschüssel. Vorsichtig, als würde ich rohe Eier auf Löffeln tragen, bringe ich die gute Porzellanschale hinaus. Oma hat derweil das Fleisch geschnitten und auf eine Platte gelegt, Tante Hedel gießt die Soße in ein Kännchen.
„Ab auf deinen Platz und Füße stillhalten“, kommandiert Oma.
Also sause ich los, rutsche auf der Bank bis zu meinem Ende und nehme dort eine erwartungsvolle Position ein. Nachdem wir alle sitzen, geht das große Essen los. Ich bekomme natürlich die besten Stücke, danach Opa und den Rest teilen sich die beiden Frauen. So ist es immer, wenn wir gemeinsam speisen. Noch besser ist es allerdings, wenn Tante Hedel ihr Eigenes gekocht oder Salat anders zubereitet hat. Dann bekomme ich von sowohl Oma als auch von Tante Hedel das beste Stück und noch eine doppelte Portion vom Salat. Schließlich muss ich von allem kosten. Ich bin der Verkoster. Nach dem Essen, wenn ich alles in mich hineingestopft habe, machen Opa und ich Bauchmessen, wer den größten und dicksten Bauch hat. Ich drücke meinen raus, halte ihn stolz Opa entgegen, der seinen ebenfalls anspannt. Gewinnen tue ich nie, Opas Bauch ist immer größer und dicker. Heimlich schwöre ich mir jedes Mal, dass ich, wenn ich groß bin, Opa mit meinem noch viel größeren Bauch besiegen werde. Als wenn Opa die Gedanken erraten hätte, streicht er über die kleine Kugel und meint spöttisch:
„Da musst du dich schon noch ein bisschen anstrengen.“