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9. Kapitel
ОглавлениеMir ist warm. Ich schwitze. Nehmt mir die Decken weg. Was ist das? Ich bin getrennt vom Körper, sehe mich aus dieser Hülle von Fleisch und Blut treten. Ich schwebe durch das Zimmer. Es ist dunkel, ganz dunkel. Aber ich kann alles erkennen. Die vielen Menschen um mich herum, die mit ihren nassen heißen Händen nach mir greifen. „Fasst mich nicht an!“, schreie ich, ohne dass der Schall an mein Ohr dringt. Lautlos brülle ich: „Lasst mich los, fasst mich nicht an!“ Näher kommen mir diese vielen Hände. Sie werden immer mehr. Von überall tasten sie nach mir. Hände, die aus der Zimmerdecke heraushängen, mit knochigen Fingern und Fingernägeln, die sich vor Länge kringeln. Kräftige behaarte Pranken, schnellen wie aus dem Nichts plötzlich aus dem Fußboden – wie die Hand, die mich in der Speisekammer griff –, umklammern Füße und Beine. Nach allen Seiten ziehen und zerren diese schrecklichen Hände. Immer neue versuchen, noch ein Stückchen meines Ichs zu erhaschen. Jeder Zipfel an mir schmerzt. Das auf dem Bett, aus dem ich herausgetreten bin, haben die Monsterpfoten schon in kleine Fetzen gerissen. Nur ein winziges Stück Schwarte bleibt unangerührt auf der ausgestreckten Handfläche eines der vielen Monsterhände liegen. Verzweifelt versuche ich dahin zu gelangen. Aber Hunderte von ihnen zerren und ziehen an mir.
Es wird ganz dunkel. Langsam verschwindet alles um mich herum. Auch die grässlichen Hände. Nur der unsagbare Schmerz bleibt.
Im Zimmer von Karl Nebel hat sich Aufregung breitgemacht. Der Stationsarzt, Krankenschwestern und nun auch der herbeigerufene Oberarzt, Dr. Meissner, hantieren mit Routine, trotzdem hektisch und sich hin und wieder Order zurufend. Einige der Geräte, die um das Bett gruppiert sind, gaben alarmierende Signale ab. Ein Halbdutzend Lampen blinkten rot.
Auf den angespannten Gesichtern der Beteiligten ist deutlich zu erkennen, dass sie um Karl Nebels Leben ringen. Sie haben sich, stellvertretend für Karl, dem Kampf gegen Gevatter Tod gestellt. Unerbittlich wird an der alles entscheidenden Front gekämpft. Kein noch so kleines Stückchen Leben ist man gewillt, sich entreißen zu lassen. Lange dauert der Kampf, das Ringen der gegensätzlichen Kräfte. Der feste Wille, der Macht des Todes die Stirn zu bieten, gibt den Ausschlag.
Langsam, ganz langsam wird die Gegenwehr des Sensenmannes schwächer, lässt er ab vom Auserwählten. Aber er wird wiederkommen, sobald sich auch nur ein kleines Fünkchen Hoffnung auf Erfolg für sein Ansinnen zeigt.
Susanne hat aus der Ferne dieses hektische Treiben beobachten müssen. Die Stationsschwester ließ sie auf der Bank des langen Flurs Platz nehmen, weit genug entfernt, um nicht in das Geschehen eingreifen zu können, ihrem Karl zu Hilfe zu eilen.
Jetzt zieht wieder Ruhe ein. Ärzte und Krankenschwestern verlassen nach und nach das Krankenzimmer. Als letzter tritt Dr. Meissner auf den Flur und kommt direkt auf Susanne zu.
„Heute war es sehr ernst. Er hatte einen Epilepsieanfall“, teilt er ihr bereits im Herantreten mit.
Schweißperlen stehen auf seiner Stirn, die er, vielleicht auch symbolisch für die hinter ihm liegende Anstrengung, schwungvoll mit dem Ärmel abwischt.
„Wir haben ihn stabilisieren können. Die Werte sind fast wieder normal. Es könnte durchaus ein gutes Zeichen gewesen sein, er hat sehr starke körperliche Reaktionen gezeigt, als würde er mit jemandem kämpfen. Möglicherweise ein letzte Aufbäumen gegen den Sensenmann?“, lächelt er zuversichtlich.
Den Ausdruck Sensenmann benutzt er dann und wann, denn das Gleichnis „noch mal von der Schippe gesprungen“ findet er recht dumm. Jetzt ergreift er die schon entgegengestreckte Hand von Susanne und drückt sie kräftig.
„Entschuldigung, erst einmal guten Tag. Ich war mit den Gedanken noch da drin“, er macht eine leichte Kopfbewegung in Richtung des Kampfplatzes.
Mit einer Handbewegung deutet er an, sie möge sich doch wieder setzen. Er nimmt ebenfalls Platz.
„Manchmal wehrt sich der Körper auch gegen das Weiterleben, weil es ihm zu beschwerlich ist, die Schmerzen zu ertragen oder die Erinnerung an das Ereignis selbst, welches dazu geführt hat. Die Wissenschaft steht erst am Anfang herauszufinden, ob und wenn ja, was ein Mensch im Koma denkt und fühlt. Patienten, die länger das Koma erlebt haben, berichten oft von einer Zeitreise durch die Vergangenheit, oder einer Reise zu einem früheren Sein, falls es so etwas geben sollte. Ich glaube zwar nicht daran, aber einige Komapatienten erzählten davon, dass sie mehrere Leben hätten und sich nunmehr in einem dieser befänden, genauso gut aber auch als Schmetterling, Löwe, Fisch oder Vogel leben könnten oder bereits gelebt hätten oder später leben würden. Dies und vieles andere, was Komapatienten berichten, klingt zumindest plausibel. Sei es, wie es sei, da liegt noch ein langer Weg der Forschung vor uns. Auf jeden Fall, Frau Nebel, ist es sehr wichtig, dass Sie immer wieder mit Ihrem Mann reden. Ihm erzählen, was er, Sie oder beide erlebt haben. Ich bin überzeugt, dass die Worte Reaktionen im Bewusstsein auslösen können, im Unterbewusstsein Prozesse in Gang gesetzt werden, die vielleicht nichts, oder nur wenig, mit dem Gesagten gemeinsam haben, aber Gehirnströme aktivieren, die für den Genesungsverlauf positiv sind. Lassen Sie es mich etwas salopp sagen: Es ist egal, ob Sie ihm von Ihrer ersten gemeinsamen Begegnung erzählen, vom letzten Urlaub oder eine lustige Geschichte. Wenn er währenddessen etwas völlig anderes erlebt – und seien es Momente mit irgendeiner nackten Frau –, was aber sein Gehirn aktiviert, dann ist es gut. Wichtig ist, dass er die Zeit unbeschadet übersteht und zurück ins Leben findet“, schließt der Arzt.
„Na ja, es muss nicht gerade irgendeine nackte Frau sein. Es wäre schön, wenn er mich vor Augen hätte. Aber ich verstehe Sie schon, Hauptsache er findet zurück und wird gesund“, erwidert sie und ist sich ziemlich sicher, dass das mit der nackten Frau ziemlich weit hergeholt ist und der Arzt nicht weiß, was Karl für ein Luftikus war.
Dr. Meissner steht auf und verabschiedet sich von ihr. Susanne bleibt, rutscht unruhig auf der Bank hin und her, blickt unaufhörlich in Richtung des Schwesternbereiches, wartet auf das erlösende „Sie können zu Ihrem Mann“. Die Stationsschwester hatte ausdrücklich gesagt, sie müsse warten, bis der Besuch gestattet wird. Sie hält sich daran, mit der Krankenschwester darf man es sich nicht verderben, ist ihr noch aus eigenen Krankenhausaufenthalten bewusst. Nach einer unendlich erscheinenden Zeit, die sie auf der Bank sitzt, kommt das erlösende Signal. Sie darf zu ihrem Karl, endlich.
„Hast mir ja einen gehörigen Schreck eingejagt. Das könnte dir so gefallen, dich einfach davonzustehlen. Du bleibst schön hier, bei mir“, appelliert sie zur Begrüßung an Karl.
Ganz vorsichtig, als sei er sehr zerbrechlich, gibt sie ihm einen Begrüßungskuss auf den Mund, fährt mit den Lippen Kuss an Kuss setzend auf seiner Wange entlang. Sie spürt die salzige Haut, in der Leben steckt.
„Dr. Meissner hat mir empfohlen, dir von fremden nackten Frauen zu erzählen, dann würdest du mit Sicherheit an mich denken. Machst du doch, oder? Oder war es genau andersherum? Ich erzähle von mir und du denkst an fremde nackte Frauen? Egal, von mir aus denk ruhig an alle deine vielen Weiber, wegen mir können sie auch alle splitternackt sein. Hauptsache das Gehirn arbeitet und es hilf. Nicht war, mein Schatz?“, flunkert sie.
Sie spürt die sich lösende Verspannung der letzten Stunden. Ein riesiger Stein ist von ihrer Brust gefallen. Sie zieht sich den Stuhl neben das Bett, legt die Hand, die noch immer etwas zittrig und eiskalt ist, auf die Fingerspitzen von Karl. Sie befürchtet, dass er sich erschrecken könnte, wenn sie mit der kalten Hand ihn berührt. Im Moment, als sie den Gedanken zu Ende gebracht hat, bemerkt sie dessen Unsinnigkeit. Korrigierend umfasst sie nun seine gesamte Hand, presst sie sachte und vereint sie zu einem Ganzen. Angenehme Wärme strömt durch die Handfläche. Ihr scheint, sie könne den Puls spüren, den das Herz von Karl als Signal sendet. Sie verbessert ihre Sitzposition, zieht den Stuhl noch etwas näher an das Bett heran und legt den Kopf auf seine Brust. Den Atem anhaltend hört sie auf die regelmäßigen Schläge unter ihr. „Gut so“, denkt sie, „immer zu, klopf laut, dass dich jeder hören kann, du liebes Herz. Hör bitte nie auf zu schlagen. Bitte versprich es mir.“
Sie kann nicht einschätzen, wie lange sie regungslos auf der Brust von Karl verharrt. Sie merkt nur, dass ihr Rücken schmerzt und die linke Hand eingeschlafen ist. Sie hat in ihr kein Gefühl mehr. Von unzähligen Nadeln gepiekt erwacht die Haut zögerlich. Sie muss aufstehen, ihre Glieder ausschütteln und sich wieder in Form bringen. Langsam geht sie zum Fenster, ordnet die Haare. Sie schaut tief in das reflektierende Glas, um sich besser sehen zu können. „Soweit alles in Ordnung“, versichert sie sich und kehrt ans Bett zurück. Bevor sie sich wieder setzt, betrachtet sie Karl eine Weile.
Bilder ziehen vor ihren Augen auf. Sie hat ihn schon einmal so liegen sehen. Das war 1988 nach seiner Bandscheibenoperation. Sie studierte damals in Dresden, war beschäftigt mit Vorlesungen, Seminaren und Paul, der verbotenen Liebe, die sie damals förmlich überrollt hat. War sie ihr wichtiger gewesen als die gemeinsamen Stunden vor der Operation und unmittelbar danach? Sie hatte Karl ohne Beistand unter das Messer gegeben, hatte ihn in dem Moment, wo er sie nötig gebraucht hätte, alleingelassen mit seinem Schicksal. Sie machte sich noch Jahre später immer wieder Vorwürfe.
Tränen rinnen ihr am Kinn entlang, tropfen auf den Pullover, durchnässen den Rand vom Ausschnitt. Ihr ist es egal, denn sie sind unaufhaltbar. Das hat sie über Wochen einsehen müssen. Sie dreht sich von Karl weg, geht ans Fenster und schaut in die Dunkelheit hinter dem Glas. Sie braucht Zeit, um sich zu fangen. Es ist plötzlich in ihr wieder hochgestiegen, was sie über Jahre geflissentlich vergraben hatte, als ihr Geheimnis zu verbergen suchte. Sie erinnert sich, dass sie später noch zwei Mal sich bemühte, mit Liesa über das Geschehene zu sprechen. Jedes Mal hatte die abgeblockt.
„Hättest damals reagieren müssen und mich nicht über zwei Jahre in dieser beschissenen Wohnung gemeinsam mit Karl zurücklassen sollen. Jetzt gibt es kein Verzeihen mehr, niemandem gegenüber. Ihr beide habt mich um einen Teil meiner Jugend gebracht. Du hast mich für deine Karriere geopfert. Karl hat meine Seele getötet. Auch wenn ihr euch nun gut versteht, ich kann und werde euch nicht verzeihen. Leben muss ich damit, so gut ich kann.“
So war es von Liesa fast wörtlich ihr vorgeworfen worden.
„Sie hat durch uns beide gelitten. Ich habe es zu spät begriffen“, gesteht sich Susanne ein, wie schon so viele Male, wenn sie an dieses schwarze Kapitel der Ehejahre mit Karl zurückdachte.