Читать книгу Angst - Gerhard Klamet - Страница 11
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Es verblieben noch drei Tage bis zum Ende des Schuljahres. Ob Schüler oder Lehrer, keiner verspürte Lust unter diesen Bedingungen, bei strahlendem Wetter, sechs Stunden lang dem Unterricht zu frönen.
So kam es, dass bereits zwei Stunden vor Schulschluss die Jungen aus Svens Clique frohgelaunt nebeneinander hertrotteten. Ihr gemeinsames Ziel lag zwischen Schule und Kirchplatz. Dort befand sich eine gemütliche Eisdiele, in der man die beste Eiscreme der ganzen Gegend schlecken konnte. Die Mädchen der Gruppe rannten schon voraus. Ungeduldig wie Weiber nun mal sind, so Wannes fachmännische Einschätzung. »Kommst du heute nachmittag mit in den Wald, Sven, wir wollen uns ein neues Baumhaus bauen?«, fragte Robert seinen Freund. »Martin und Peter besorgen die Bretter. Was wir noch brauchen ist Werkzeug und Verpflegung. Letzteres besorgt am besten unser Fressprofi. Vielleicht kannst du ein paar Nägel arrangieren.« »Hm, mein Alter hat so viele in seiner Werkstatt, dass ein paar weniger bestimmt nicht auffallen würden«, antwortete Sven. »Aber ich weiß nicht ob der Kerl zu Hause ist. Ansonsten kann ich vergessen, überhaupt ans Fortgehen zu denken.« »Ich werde um zwei Uhr vor deinem Haus warten, kannst mir dann ja Bescheid sagen«, schlug Martin vor. »Ist gebongt«, entgegnete Sven. Hoffentlich war das Arschloch mal wieder für eine Zeit außer Haus. Er wollte so gerne mit seinen Freunden auf Tour gehen. »Wollen wir die Mädchen mitnehmen?«, fragte Andreas Köhler mit wenig Begeisterung. »Sei unbesorgt«, beruhigte ihn Peter. »Soviel ich weiß, ist heute nachmittag Weiberfete bei Petra. Ihre Eltern sind heute nicht zu Hause und ihre Schwester kommt erst gegen Abend. Die glotzen bestimmt heimlich irgendwelche Schweinevideos.« »Werde Ann-Katrin trotzdem fragen ob sie mit möchte, okay?« »Klar, Sven, ihr zwei seid ja schließlich schon ein richtiges Liebespaar«, witzelte Wanne. »Halts Maul«, entgegnete Sven barsch. Sie hatten inzwischen den Fußgängerüberweg überquert, und stießen schon bald auf eine beträchtliche Anzahl von Schülern, die zum Verkaufsstand der Eisdiele drängten. »Hey, wartet mal«, rief Martin plötzlich. »Der verdammte Schuh ist schon wieder offen.« Die anderen hielten an. Sie wussten, wie schwer sich der gehbehinderte Junge tat, der mit diesem Handikap auf die Welt kam. Er musste sich auf einen Mauervorsprung setzen, da das kaputte Bein ein problemloses Bücken beträchtlich erschwerte. Die Jungen winkten den Mädchen zu, die sich mit Mühe einen freien Platz auf der Terrasse des Geschäfts ergatterten. Zufällig glitt Svens Blick den Gehweg entlang, der zur Schule führte. Abrupt stutzte er. Martin, der soeben wieder im Aufstehen begriffen war, folgte unbewusst Svens Blick. »Wer ist das?«, fragte er. »Wer ist was?«, wollte Robert wissen. Da stutzte er ebenfalls. Nun wurden auch die anderen aufmerksam. Mit gemischten Gefühlen sahen sie auf eine dunkle Gestalt, die ihnen in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Metern gegenüberstand. Trotz der beachtlichen Hitze, die um diese Mittagszeit schon auf 30 Grad anstieg, trug der Fremde einen langen schwarzen Mantel, in dessen Taschen er seine Hände verbarg. Auf dem Kopf saß ein breitkrempiger Hut, der das gesamte Gesicht überschattete. Ebenso wie der Trenchcoat war er von schwarzer Farbe. Es war eine unwirkliche, mysteriöse Situation. Wussten die Kinder doch mit dieser Erscheinung absolut nichts anzufangen. Da nahm der Fremde eine Hand aus der Manteltasche und winkte ihnen zu. Der Kerl schien wie ein Schneider zu frieren, denn er trug Handschuhe. Ebenfalls schwarz. »Kennt einer von euch den Kerl?«, fragte Robert mit einem Seitenblick auf seine Kameraden. Alle verneinten kopfschüttelnd. »Auf jeden Fall ein Spinner«, erklärte Wanne. »Wer bei dieser Affenhitze rumrennt als wäre er in Alaska, kann nicht ganz dicht sein.« »Vielleicht hat er irgendeine Krankheit, wer weiß«, erwiderte Sven. »Auf jeden Fall scheint er irgendwas von uns zu wollen. Fragt sich nur was.« »Lasst uns lieber abhauen, Mann«, schlug Andy vor. »Der Kerl ist mir unheimlich. Da stimmt was nicht.« »Da«, rief Martin erschrocken. »Er kommt auf uns zu.« Die Kinder sahen die Gestalt - beide Hände nun wieder in den Taschen verborgen - sich in ihre Richtung bewegen. »Verdammte Scheiße, der Kerl wird durchsichtig«, rief Robert, der nur selten fluchte, entsetzt. Just in diesem Moment sahen es die anderen ebenfalls. Mit jedem Schritt, den der Fremde sich ihnen näherte, wurden dessen Körperformen zunehmend transparenter. Die Sonnenstrahlen fielen durch seinen Körper hindurch, als wäre er nicht vorhanden. Die sechs Jungs lösten sich aus ihrer Erstarrung. Wie auf ein Kommando rannten sie plötzlich los. Auch der gehbehinderte Martin legte ein Tempo vor, dem manch gesunder Körper Respekt zollen musste. Ohne nach rechts oder links zu schauen, stürmten sie über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite. Autoreifen quietschten, Seitenfenster wurden heruntergekurbelt, wütende Stimmen schrien ihnen nach, aber die Jungen nahmen diese Geschehnisse nur am Rande wahr. Sie rannten geradewegs an der Eisdiele und den verblüfft dreinschauenden Mädchen vorbei, bis sie einige Straßenecken weiter erschöpft in einer Busstation innehielten. »Oh Gott, ich kann nicht mehr«, stöhnte Martin. »Ich auch nicht«, setzte Wanne ächzend hinzu. Erschlagen fielen sie auf die breite Holzbank. »Sind wir jetzt alle durchgedreht oder was haben wir gesehen?«, fragte Robert nach Minuten des Schweigens. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte«, erwiderte Sven. Aus heiterem Himmel fing Andy laut zu lachen an, wobei er sich an die Stirn schlug. »Den hat's erwischt, armer Kerl.« Wanne tippte sich dabei mit eindeutiger Geste an den Kopf. »Uns hat es alle erwischt«, erklärte Andy, der auf einmal wieder bei Sinnen schien. »Habt ihr schon mal was von einer Fata Morgana gehört? Die sehen auch immer mehrere Leute gleichzeitig. Die verdammte Hitze ist dran schuld, sage ich euch. Halluzination sagt man dazu, glaub’ ich.« »Stimmt, mein Vater hat mir mal Ähnliches erzählt«, erklärte Robert. »Ich glaube, Andy hat vollkommen recht. Das war so eine verflixte Luftspiegelung. Ist zwar bestimmt selten bei uns, aber warum nicht.« »Ihr glaubt gar nicht, wie beruhigt ich jetzt bin«, atmete Martin erleichtert auf. »Ich war wirklich nah dran an Gespenster zu glauben.« »Jetzt haben wir nur noch ein Problem«, warf Peter ein. »Und das wäre?«, fragte Wanne gespannt. Die anderen sahen den untersetzten Jungen ebenfalls fragend an. »Wie erklären wir unsere Hasenfüßigkeit den Mädchen? Ich wette die lachen sich kaputt, wenn wir ihnen unsere Story reindrücken.« SAGT IHNEN, DASS SIE IN GEFAHR SIND. Die Stimme endete so abrupt, wie sie gekommen war. Niemand befand sich in ihrer Nähe, sie kam scheinbar aus dem Nichts. Die Angst stürmte erneut über die Jungen herein. Hatten sie doch nicht geträumt? Minuten vergingen ohne ein Wort. Nichts geschah. »Haben wir das jetzt auch geträumt?«, fragte Sven ängstlich. Keiner wusste darauf eine Antwort. Eine gespannte Atmosphäre machte sich breit. Schlagartig wollten alle nach Hause, nur fort von der Bushaltestelle, der Straße und dieser unheimlichen Gegend. Niemand dachte mehr an ihre Verabredung am Nachmittag. Sie trennten sich ohne viel Worte. Die schleichende Furcht überkam sie stärker, als sie sich eingestanden. Die mysteriöse Erscheinung trat in den Hintergrund ihrer Gedanken. Es schien da noch etwas anderes zu existierten. Unsichtbar, unerklärlich, aber es schwebte unheilvoll über ihnen. Auf dem Weg nach Hause gingen Sven immer wieder dieselben Worte durch den Kopf. Sie brannten sich unauslöschlich in die Gehirnwindungen des Jungen. SAGT IHNEN, DASS SIE IN GEFAHR SIND!