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TEIL ZWEI FERIEN

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1.

Ein Unwetter zog herauf.

Das Blau des Himmels verwandelte sich zusehends in ein tiefschmutziges, verwaschenes Grau. Titanenkräfte ballten die Wolken zu gewaltigen dunklen Wällen zusammen. Dumpfes Grollen drang aus der schwarzen Wand, welche die Landschaft in ein unwirkliches Licht tauchte. Die Menschen auf den Straßen beeilten sich, in ihre Wohnungen zu gelangen, bevor das Unwetter sie überraschte.

In der Bader-Tanzschule schenkte man dem nahenden Grollen wenig Beachtung. Fräulein Zinkelmann, eine nette junge Frau mit der zierlichen Figur eines Kindes, beendete mit einigen kleinen Tipps und Grüßen an die Eltern den Ballettunterricht.

»Übt gut eure Pirouetten bis zum nächsten Mal, in vier Wochen ist unser großer Auftritt. Ach ja, ist zufällig jemand hier, der mit nach Hause genommen werden möchte?«

Die kleine Susanne meldete sich.

»Gut, Susi, du wartest dann bitte am Ausgang auf mich, in Ordnung?«

Die Kinder verabschiedeten sich und stürmten in ihre Umkleidekabinen. Minuten später klang ein lautes Kreischen und Toben aus den Duschkabinen. Im Nu war der Duschraum überflutet und einige der Mädchen flüchteten mit spitzen Schreien in den Umkleideraum hinaus. Dabei ließ es sich nicht vermeiden, dass sich einige Fontänen ihren Weg in die Umkleide bahnten.

Ein gewaltiger Donnerschlag dämpfte das angeheizte Temperament der Kinder schlagartig. Gespannt lauschten sie auf das immer näher kommende Gewitter. Dann begannen die Spindtüren zu klappern, Reißverschlüsse zu ratschen. Hastig wurden die Sporttaschen zusammengepackt. Jeder wollte das Gewitter aus der Nähe sehen, und vom Glasportal der Tanzschule besaß man einen idealen Rundumblick nach draußen.

Petra Renner saß mit ihrer Freundin Natascha auf der Umkleidebank und zog sich ihre kurzen Jeans über die schlanken Beine. Beide hatten es nicht so eilig, denn heute endete der Unterricht ein paar Minuten früher als für gewöhnlich, und so mussten sie noch auf ihre Eltern warten, die sie abholen kamen.

»Gott sei dank«, meinte Natascha, die mit ihrem lustigen Rundschnitt der Schlagersängerin Mireille Mathieu ähnelte. »Morgen ist der letzte Schultag. Dann endlich Ferien. Wir fliegen nach Venezuela. Zehn Tage. Super, was? Und ihr?«

»Italien, wie jedes Jahr. Freue mich trotzdem schon riesig. Eine Woche keinen spießigen Kernten, keinen Martens, der einen immer so komisch anglotzt. Keine Mathe, keine langweilige Geschichte ... au verdammt.«

Bei diesen Worten stockte Petra. Ihre blauen Augen sahen traurig drein.

»Was ist los?«, wollte Natascha wissen. Sie besuchte die Parallelklasse, wenn auch nur noch wenige Tage, da sie auf das Gymnasium wechselte.

»Ich werde die Theisen vermissen. Wir hatten sie in Geschichte. Ich mochte sie ganz gern, sie war immer sehr nett. Irgend so ein gemeiner Kerl hat sie einfach umgebracht, in ihrem eigenen Haus.«

»Ich kenne die Theisen nur vom sehen her, war mir auch ganz sympathisch. In der Zeitung stand eine ganze Seite voll davon. Hast du den Artikel gelesen?«

Petra schüttelte den Kopf.

»Der Kerl muss sie ganz schön gequält haben, bevor er ihr den Hals durchgeschnitten hat. Außerdem ... weiß man schon wer es war.«

»Mensch«, machte Petra. »Ehrlich? Wer denn?«

»So ein Typ, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, weißt du. In Mainau drüben soll er noch mehr Leute umgebracht haben. Die Polizei glaubt, er hat sich in unsere Gegend geflüchtet.«

»Ja, ich weiß, meine Eltern lassen mich kaum noch aus dem Haus wegen diesem Kerl. Die Nachbarn, alle haben sie Angst. Der soll die Theisen umgebracht haben? Davon hat man mir kein Wort gesagt. Wird Zeit, dass sie den Irren bald schnappen.«

»Da hast du recht«, erwiderte Natascha ihrer Freundin. »Komm, wir gehen nach draußen zu den anderen. Ich guck gern zu, wenn es blitzt und donnert.«

»Na gut«, stöhnte Petra, die Gewitter nicht ausstehen konnte. Sie machten ihr Angst. »Hoffentlich kommen meine Eltern bald, ich bin hundemüde.«

Claudia Renner saß schlechtgelaunt hinter dem Lenkrad ihres VW-Käfers und schimpfte leise vor sich hin.

Sie empfand den heutigen Tag als extrem mies und hoffte, dass er bald zu Ende sein würde. Dabei hatte sie sich den Verlauf des Abends so ganz anders vorgestellt. Lernte sie doch vor einigen Tagen in der Mensa diesen gutaussehenden, flotten Typ kennen, genau die Art von Jungs, die ihr immer in ihren heißen Träumen begegneten. Und ausgerechnet dieser Traumboy schien es auf sie abgesehen zu haben. Sie hatten noch keine zwei Minuten beisammen gesessen, da lud er sie schon ins Kino ein. Es lief "Sommersby" mit Richard Gere, den sie seit "Atemlos" fast abgöttisch verehrte. Und dann kam dieser Anruf, kurz bevor die Eltern ihre Schwester von der Tanzstunde abholen sollten.

Großmutter lag im Sterben. Es traf ihre Mutter wie ein Schock, obwohl es nicht unerwartet kam. Die Siebzigjährige litt seit langer Zeit an Unterleibskrebs, die Metastasen hatten sich schon überall im Gewebe eingenistet und den Körper unrettbar verseucht. Die alte Frau lag im Mainauer Stadtkrankenhaus und wurde seit sechs Wochen nur noch künstlich am Leben erhalten. Die Familie war sich im klaren darüber, dass es am Ende nur einen Sieger geben würde, und der hieß Tod.

Jetzt musste sie zu dieser dämlichen Tanzschule fahren und die kleine Göre chauffieren, die ausgerechnet heute zu dieser Hopserei musste. Und das alles nur, weil sich irgendwo ein Verrückter versteckte, der es sich zur Mission machte, Leute aufzuschlitzen. Claudia Renner, äußerlich genau das erwachsene Ebenbild ihrer ebenfalls hübschen Schwester, nahm die Angelegenheit nicht ganz so ernst. Sie glaubte nicht, dass der Kerl sich so offen auf der Straße herumtrieb. Dennoch sagte sie ihre Verabredung bitteren Herzens ab und verlegte diese auf den nächsten Abend. Doch so wie die Sache jetzt aussah, würde ihre Schwester wohl noch eine ganze Weile auf sie warten müssen. Hätte sie dies geahnt, wäre es eventuell möglich gewesen, das Kind von der Lehrerin nach Hause bringen zu lassen. Das hätte ihr einigen Ärger erspart, dachte sie wütend. Nun stand sie hier mit ihrem Museumsstück von Fahrzeug und es ging nicht vor und nicht zurück. Die Kolonne der Autos war unmöglich mit einem Blick zu übersehen. Sie sah einen weiteren Löschwagen in ihrem Rückspiegel heranrasen. Waghalsig bahnte er sich einen Weg durch die Straßenlücken. Außer Rauch und Flammen konnte sie nicht viel von dem erkennen, was sich in etwa hundert Metern Entfernung abspielte. Mit Sicherheit war es ein Pkw, der dort vorne wie ein Weihnachtsbaum brannte. Die Straße badete in hellrotem Licht, vermischt mit Blitz, Donner und Regen, der jedoch nicht genügte, den Brandherd auszulöschen. So blieb dem Mädchen nichts anderes übrig als zu warten.

Fräulein Zinkelmann kam mit nassen Haaren aus ihrer Umkleidekabine. Als sie die Vorhalle des Tanzcenters betrat, standen nur noch zwei Mädchen vor dem Eingang. Susanne wartete auf die Lehrerin, die sie wie verabredet nach Hause bringen würde.

»Holt dich niemand ab, Petra? Willst du mit mir fahren? Ich muss den Center leider jetzt zuschließen, da die Oberschüler heute keinen Unterricht mehr haben. Ich nehme dich aber gerne mit.«

»Nein, danke«, antwortete Petra mit schüchternem Lächeln. »Meine Eltern kommen sicher noch, Fräulein Zinkelmann. Ich warte draußen unter dem Vordach.«

»Na gut, das Gewitter lässt ja schon ein wenig nach. Du kannst es dir aber auch gern anders überlegen, deine Eltern wären bestimmt nicht böse. Der Unterricht ist immerhin schon seit fast zwanzig Minuten zu Ende.«

»Das geht schon in Ordnung, sie werden bestimmt gleich kommen. Sie kennen meine Eltern nicht, die würden mich nie vergessen.«

Die Lehrerin lachte.

»Also gut. Lass uns gehen, Susi.«

Kurz darauf verabschiedete sie sich, und Petra stand nun mutterseelenallein unter dem breiten Vordach der Tanzschule. Der Regen nahm wieder an Heftigkeit zu, was die Kleine nicht besonders störte, da sie im Trockenen stand.

Nach weiteren zehn langen Minuten ließen ihre Eltern immer noch auf sich warten. Dabei waren sie sonst mehr als überpünktlich. Das Mädchen konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass etwas Ernstes dazwischengekommen sein könnte. Sie würde noch eine Weile warten, um dann an der Ecke gegenüber zu Hause anzurufen. Möglicherweise war ihre große Schwester ja zufällig mal anwesend. Doch sie glaubte nicht, dass es soweit kam. Bestimmt bogen ihre Eltern bald um die Ecke. Es konnte ja sein, dass sie in einen Stau geraten waren, ein Unfall oder sonst irgendetwas Unverhofftes dazwischenkam. Petra beschloss noch eine Weile zu warten.

Damit beging das Mädchen unbewusst einen verhängnisvollen Fehler.

Ein Polizist regelte den Verkehr. Die Trümmer des verkohlten Wagens, dessen Fabrikat man nicht mal mehr erahnen konnte, wurden beseitigt. Der Stau begann sich langsam aber sicher aufzulösen.

Eine geschlagene Stunde wartete Claudia Renner, bis sie endlich wieder freie Fahrt bekam. Das zwanzigjährige Mädchen war reichlich entnervt, als sie schließlich in die Wilhelmstraße einbog, die auf kürzesten Weg direkt zum Tanzcenter führte. Ihre Eltern würden toben, wenn sie jemals erfuhren, dass sie ihre Schwester so lange alleine warten ließ. Aber was konnte sie letztendlich dafür. Sie beschloss, die Kleine auf ein großes Eis einzuladen. Andererseits hätte sie sich an Petras Stelle tödlich aufgeregt. Geduld war nie ihre Stärke gewesen. Ihre Schwester aber besaß einige Charakterstärken, die sie bei sich selbst vergeblich suchte. Dies sorgte stets für ein bisschen Neid, was die Streitlust förderte. Doch für heute beschloss sie ausnahmsweise das Vorbild der großen Schwester abzugeben. Trotz allem hing sie sehr an der Kleinen, auch wenn sie es niemals offen zugab.

Da tauchte das Gebäude des Tanzcenters vor ihr auf. Sie hielt an dem nebenliegenden Parkplatz und stieg aus.

Der Regen begann zwar wieder stärker zu werden, doch das beeindruckte sie wenig. Claudia liebte Wasser, und sie genoss den warmen Schauer. Als sie zum Portal der Tanzschule lief, stellte sie fest, dass in dem Gebäude keine Beleuchtung mehr brannte. Die Türen waren verschlossen. Von ihrer Schwester konnte sie keine Spur entdecken. Sie hielt auf der Straße nach allen Seiten Ausschau, um sie vielleicht an irgendeiner Ecke stehen zu sehen.

Nichts.

Für Claudia Renner war dies im ersten Moment kein Grund zur Besorgnis, da sie Ähnliches schon vermutete. Möglicherweise wurde sie von der Lehrerin oder den Eltern einer Freundin mitgenommen. Erneut brauste der Ärger in ihr auf.

So ein Mist, dachte sie. Ich vermiese mir den schönsten Abend meines Lebens, stecke stundenlang im größten Stau fest, mache mir alle möglichen Gedanken, und dann so was.

Heute war tatsächlich ein schwarzer Tag.

Claudia verspürte den dringenden Wunsch, in ihr Auto zu steigen, so schnell wie möglich nach Hause zu rasen und sich in die Falle zu hauen. Sie hatte die Nase gestrichen voll von dem heutigen Tag. Mit großen Schritten rannte sie zu ihrem Wagen zurück. Auf dem Weg dorthin fiel ihr Blick zufällig auf eine Stelle im Rinnstein.

Und mit einem Mal waren sie da: die Sorgen, die Ängste. Eine brutale Faust umschloss das Herz des jungen Mädchens.

Unterhalb des Absatzes lag ein Gegenstand, den Claudia nur zu gut kannte. Er gehörte ihrer Schwester. Zitternd bückte sie sich und nahm ihn auf. Es war das Silberkettchen, das sie Petra zum Geburtstag gekauft hatte. Die Aufschrift "Gott schütze Dich", mit dem undeutlich geprägten "ch" am Ende, lies keinen Zweifel daran aufkommen, dass dies wirklich Petras Kettchen war. Claudia versuchte ruhig zu bleiben. Bestimmt hatte ihre Schwester es nur verloren und es sicher nicht einmal bemerkt. Diese Schauergeschichten aus der Zeitung zeigten nun auch schon bei ihr Wirkung.

Sie beruhigte sich wieder. Kopfschüttelnd über ihr eigenes Verhalten verbarg sie das Kettchen in ihrer Hosentasche. Die Kleine würde nicht schlecht staunen, dachte Claudia belustigt. Da spürte sie zwischen den Fingern etwas Feuchtes, Klebriges. Fast unbewusst warf sie einen Blick auf die Rückseite des Kettchens, dass sie nun wieder aus der engen Hosentasche kramte. Nachfolgend brachen sämtliche Ängste und Alpträume auf einmal über sie herein. Krampfartig unterdrückte sie einen Schrei. Der Regen, der lautstark auf das Dach des Portals hämmerte, schien aus weiter Ferne zu kommen.

Voller Entsetzen starrte sie auf die dunkle Flüssigkeit an ihren Fingern und der Rückseite des Amuletts. Diesmal war jeder Irrtum ausgeschlossen.

Es klebte Blut daran.

Angst

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