Читать книгу Angst - Gerhard Klamet - Страница 9
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Die Schüler der Klasse 6a glaubten einen Zombie zu sehen. Sie erschraken ebenso wie Ann-Katrin, die ihn von zu Hause abholte. Niemand wagte ihn nach der Ursache zu fragen, die meisten wussten ohnehin Bescheid.
Als Herr Kernten eintrat, fiel dessen Blick zufällig zuerst auf Sven. Er stutzte leicht, nahm dann jedoch Platz ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Feiger Arsch; dachte Robert. Deine Aufgabe wäre es, dich um Sven zu kümmern; ihn fragen, was geschehen ist, entsprechende Maßnahmen ergreifen, zu denen dich deine Verantwortung zwingen müsste. Stattdessen hatte er nichts anderes zu tun als sie über die letzte Biologiestunde auszuquetschen. Alle haben sie Angst vor ihm; dachte im selben Moment Andreas Köhler, der zwei Reihen weiter vorne saß. Er wusste von Sven, dass man seinen Vater eindringlich zur letzten Elternstunde gebeten hatte. Was damals dort ablief, erfuhr keine Menschenseele, nicht einmal Sven selbst. Tatsache war, dass seit jenem Tage etwaige blaue Flecken oder Schwellungen an Svens Äußeren geflissentlich übersehen wurden. Dies hatte zur Folge, dass die Angst vor Karl Weidner die Abneigung der Lehrkräfte gegenüber den Jungen verstärkte. Schöne Pädagogen gaben sie ab, diese Weichbirnen! So kam es, dass Herr Kernten auch heute den Unterricht durchzog, ohne bei Svens Anblick nur eine Miene zu verziehen. Er schien gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass es diesmal besonders schlimm aussah. Wäre der Lehrer seiner Verantwortung nachgekommen, hätte das Geschehen womöglich eine andere Wendung bekommen. Aber leider schlägt das Schicksal oft grausam und mit unerbittlicher Härte zu.
»Verflixt, wir müssen etwas tun, Sven. So geht es nicht weiter, er schlägt dich sonst tot. Heute mittags gehen wir gemeinsam zur Polizei.«
Roberts Worte wurden von der Clique lautstark begrüßt.
»Wenn ihr das tut, wird er mich wirklich totschlagen und meine Mutter dazu. Haltet euch da raus, bevor ihr alles noch schlimmer macht.« Sven fühlte sich in die Enge getrieben und zeigte sich ungewohnt aggressiv.
»Freunde sind dafür da, um einander zu helfen. Wir können doch nicht zusehen, wie er ein Stück nach dem anderen aus dir herausschlägt.«
»Da hat Wanne vollkommen recht«, stimmte Martin Stolz zu. »Wie lange soll das denn noch so weitergehen, bis du endlich vernünftig wirst? Wir wollen dir helfen und du machst uns noch blöde an.«
»Lass es gut sein, Andy«, beschwichtigte Peter. »Sven hat es nicht so gemeint.«
»Warum gehen wir nicht zum Jugendamt anstatt zur Polizei?«
Sven warf Marion, Peters Schwester, einen mitleidigen Blick zu.
»Und was meinst du, an wen die sich wenden, wenn alles auf den Tisch kommt?«
Marion zuckte resignierend die Achseln.
»Wenn ihr mir helfen wollt, dann haltet euch raus, bitte«, beschwor Sven. »Wenn ihr meinen Alten kennen würdet, dann könntet ihr mich verstehen. Selbst wenn sie ihn einsperren, irgendwann kommt er wieder raus und macht er mich alle in seiner Wut. Ihr habt keine Ahnung, was mich und meine Mutter in diesem Fall erwartet. Tut nichts Unüberlegtes oder ihr werdet es bereuen. Seid mir nicht böse, aber ... wir könnten dann keine Freunde mehr sein.«
»Spinnst du jetzt?«, fragte Petra Renner bestürzt.
»Ich glaube, Sven meint es ernst«, erwiderte Robert. Er legte seinen Freund die Hand auf die Schulter. »Also gut, Sven, wir werden vorläufig nichts unternehmen … dir zuliebe. Aber wenn du noch einmal so in der Schule erscheinst wie heute, dann werde ich mit meinen Vater darüber sprechen.«
Roberts Vater arbeitete auf dem Sozialamt und hatte mit allen Schichten der Gesellschaft Umgang. Zudem war er für Robert nicht nur Vater, sondern auch Kumpel. Einer, mit dem man über alles reden konnte. Sven beneidete ihn sehr darum.
»Wir werden sehen«, antwortete er dem Freund. Plötzlich fiel etwas Schweres um seinen Hals. Es ging so schnell, dass Sven sich vor Schreck kaum zu rühren vermochte. Verlegen erkannte er seine Freundin Ann-Katrin, die ihn fest umschlang und an sich drückte. Der Junge verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als das kleine Mädchen ihren Kopf von seinen Schultern löste und ihn mit tränenerfüllten Augen ansah. Mit ihren zarten Fingerchen strich sie sanft über sein Gesicht.
Hätte ihr Klassenlehrer, Kernten, die Gespräche und Reaktionen der Kinder mitverfolgen können, er würde sämtliche seiner Ansichten über die Jugend dieser Zeit revidieren.
»Ich will nicht, dass er dir immer mehr weh tut. Bitte, lass zu, dass wir dir helfen. Bitte, Sven, ich bin deine beste Freundin und ich ... habe dich sehr lieb. Mir zuliebe, lass es nicht noch mal zu, dass dir so weh getan wird.«
Daraufhin gab sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange, der Sven bis ins Tiefste erröten ließ. Allerdings fiel dies bei seinem aufgedunsenen Gesicht niemanden auf.
Die Worte seiner Freundin trafen ihn bis in den Kern seiner Seele. Fest drückte er sie an sich. In seinem Inneren herrschte heilloser Aufruhr.
Die anderen sahen peinlich berührt zu Boden. Die Szene ergriff sie alle zutiefst.