Читать книгу Angst - Gerhard Klamet - Страница 19

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4.

Theo und Rudloff waren zwei verwahrloste Penner. Beide kannten sich eine halbe Ewigkeit und hatten zu Fuß schon mehr Kilometer hinter sich gelassen, als ein Fahrzeug es jemals vermocht hätte. Sie gingen von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort, bettelten, stahlen und betranken sich regelmäßig.

Theo war ein massiges Ungeheuer von zweieinhalb Zentnern, der überraschend mühelos sein Gewicht durch die Gegend bewegte. Sein Gesicht war aufgedunsen und fleischig, der Körper stieß ununterbrochen übelriechenden Schweiß aus. Das schüttere, grau gewordene Haar hing in fettigen Strähnen in die Stirn.

Rudloff war genau das Gegenteil. Dürr wie eine Zaunlatte, ein Äußeres, das für einen Landstreicher einen ungewöhnlich gepflegten Eindruck erweckte, und ein Gesichtsprofil, mit dem er jederzeit als Totengräber durchging.

Beide verbrachten die letzte Nacht in der Ausnüchterungszelle des Mainauer Gefängnisses. An diese Art Aufenthalt waren sie mittlerweile schon gewohnt. In kalten Tagen legten sie auf derartigen Luxus sogar großen Wert. Wie oft hatten sie schon geklaut oder randaliert, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben. Außerdem ist es dort warm und man bekommt sogar was in den Magen.

An solch heißen Tagen wie diesen aber schliefen sie möglichst im Freien. Sie waren trotz alledem froh, bei dem gestrigen Unwetter sicher untergebracht gewesen zu sein.

Nun liefen sie nebeneinander die Waldstraße nach Stralsfelden entlang, sich gegenseitig immer wieder eine halbvolle Schnapsflasche reichend.

»Mann, ich hab einen Kohldampf«, jammerte Theo und streichelte seinen beachtlichen Bauch. »Wenn ich nicht bald was zu futtern krieg’, geh’ ich vor die Hunde, ich schwör's.«

Rudloff grinste hämisch. »Versprich nicht, was du nicht halten kannst. Bei deinem Vorratsspeicher würde ich es ein ganzes Jahr ohne Fressen aushalten.«

»Altes Lästermaul, du krepierst sowieso einmal an Schwindsucht. Sag mal, hast du nicht irgend eine Kleinigkeit im Rucksack?«

Theo sah seinen Kumpan flehend an. Dieser zuckte mit den Achseln. »Schon möglich, aber das wird nicht billig. 'ne Flasche Schnaps und drei Bier, einverstanden?«

»Verdammter Erpresser, lass mich das Zeug erst mal sehen.«

Sie blieben am Straßenrand stehen, und Rudloff schnallte mit lässigen Bewegungen seinen schäbigen, von Löchern zerfressenen Rucksack ab. Theo fielen fast die Augen aus dem Kopf, als der Kumpan in seiner rechten Hand ein Stück Fleisch baumeln ließ. Dass dieser undefinierbare Fetzen wie erbärmlich stank und optisch keinerlei kulinarischen Anreiz mehr bot, interessierte ihn wenig.

»Au Scheiße, ein Steak. Du verdammter Hurensohn, du sagst mir sofort, wo du das geklaut hast.«

»Das geht dich einen feuchten Dreck an, Mann. Also, wie sieht's aus mit unserem Geschäft?«

»In Ordnung, abgemacht. Wie viel von dem Zeug hast du denn noch einstecken, hä?«

»Eins für mich und eins für dich, alter Fettwanst. Glaubst du vielleicht, ich hab’ 'nen Metzgerladen auf dem Buckel?«

»Also, hauen wir uns die Büsche, und wenn möglich soweit, dass uns keine Bullen aufspüren und blöd rumquatschen. Dann machen wir uns ein schönes Feuerchen ...«

»Du meinst wohl, ich mache das Feuer an«, warf Rudloff ein. »Du weißt genau, bis du ein Feuer anbringst, sind wir wahrscheinlich beide verhungert.« Theo lachte laut und wiehernd. Er war voll zufrieden und konnte es kaum erwarten, am Feuer zu sitzen und sich SEIN Stück Fleisch zu grillen. Die beiden Landstreicher verließen die Straße und drangen in den Wald ein. Sie liefen noch ein ganzes Stück, um vor neugierigen Blicken sicher zu sein, bevor sie ihre Rucksäcke abschnallten. Eifrig begannen sie Holz einzusammeln. Auch Rudloff spürte nun den nagenden Hunger in seinem leeren Magen, hütete sich aber, dies vor dem Freund einzugestehen. »Ey, Theo, wo willst du hin? Glaub’ bloß nicht, du kannst dich vor der Arbeit drücken und nachher mein mühsam erworbenes Fleisch fressen.« Theo hatte sich schon einige Meter von ihm entfernt. Er tauchte zwischen den Bäumen unter und verschwand aus seinem Blickfeld. Rudloff hörte ihn rufen. »Leck mich, Mann, mein Geschäft verrichte da, wo es mir passt, oder soll ich dir vor die Füße kacken?« Rudloff musste lachen. Er sparte sich seinen Kommentar. Theo suchte inzwischen einen geeigneten Platz. Er bevorzugte für die Verrichtung seiner menschlichen Bedürfnisse stets solche Stellen, an denen Rhabarber wuchs, weil dieser mit seinen großen Blättern sich am besten dazu eignete, den Allerwertesten abzuwischen. Als er den für ihn günstigsten Platz erspähte, begann er hastig seine Hose zu öffnen. Doch plötzlich hielt er inne. Vor ihm im Gebüsch lag etwas. Im ersten Moment dachte er an ein verendetes Tier, doch als er einen Schritt näher herantrat, konnte er das Ding durch den Blätterbusch hindurch erkennen. Vor ihm lag, eingebettet in den Zweigen des Gewächses, ein menschlicher Arm. Der blutige Stumpf wies genau in seine Richtung. Schlagartig vergaß der alte Herumtreiber sein Bedürfnis. Er hatte schon einige schlimme Sachen gesehen in seinem Leben, den Zweiten Weltkrieg von der schwärzesten Seite miterlebt, doch diese Entdeckung schockierte ihn zutiefst. Der Größe nach gehörte der Arm zweifellos einem Kind. Theo gab sich einen Ruck und ging langsam um den Busch herum. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden Realität. In Abständen von mehreren Metern verteilt lagen weitere Leichenteile des kleinen Körpers. Eine Bestie; dachte Theo erschüttert. Das kann nur eine Bestie getan haben. Dann fand er das Mädchen. Es war unter einem Berg von Blättern und Dreck begraben, nur ein Stück des Beines ragte daraus hervor. Verbissen entfernte der alte Mann das Laub vom Körper der Leiche. Was er sah, erschütterte ihn bis ins Mark. Er vermochte sich aufgrund der umherliegenden Körperteile auszumalen, was er vorfinden würde, aber dennoch fuhr der Schock tiefer und tiefer in seine Glieder. Ein Wesen, das unmöglich ein Mensch gewesen sein konnte, hatte sich auf fürchterlichste Weise an dem Mädchen vergangen. Es hatte ihr die Brüste, einen Arm, ein Bein und die Ohren abgeschnitten. Der Körper war vom Unterleib bis zum Bauchnabel aufgeschlitzt. Theo hörte nicht das Rufen des Freundes, auch nicht dessen nähernde Schritte. Er hatte nur Augen für das unschuldige Geschöpf vor ihm, das so qualvoll sterben musste. »Du verdammter Penner, wenn du denkst, ich mach den ganzen Scheiß alleine, dann behalt’ dein Bier und ich fress mein Zeug selb ...« In dem Moment tauchte Rudloff auf. Sein Gesicht war vor Zorn gerötet. Doch bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte erstarrte er. Rudloff war kein so harter Bursche wie sein Freund. In seinen Schrei hinein folgte das Geräusch des Erbrechens. Er spürte, wie er von hinten am Kragen hochgezogen wurde. »Komm, wir verschwinden von hier. Wir haben was zu erledigen.« Der dicke, schlampig gekleidete Mann zog seinen Kollegen mit sich fort. Gemeinsam verließen sie den Wald. Ihre Rucksäcke mit dem Fleisch und Schnaps blieben zurück. Sie hatten jetzt Wichtigeres zu tun. Schnellen Schrittes liefen sie nach Stralsfelden. Dort suchten sie sofort die kleine Polizeistation auf, wo man ihnen teils ärgerlich, teils belustigt entgegensah. Ihr Bericht allerdings veränderte das Verhalten der Beamten schlagartig. Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein.

Kommissar Timm Hartung traf fast der Schlag. Von vielen Einsätzen innerhalb der Mordkommission geprägt, bekam man mit der Zeit eine schreckliche Art von Gelassenheit mit, die einen die Dinge erträglicher werden ließ. Doch Timm Hartung empfand angesichts des Kindes vor seinen Füßen nicht mehr das Geringste dieser Gelassenheit. Sein Assistent Marcus Gärtner stand leichenblass und würgend neben ihm. In Hartungs Hand befand sich ein Bild des Mädchens. Es handelte sich hier zweifellos um die vermisste Petra Renner. Er hatte es sich als schwere Aufgabe gesetzt, die Eltern des Kindes zu informieren. Ihm wurde unwohl bei diesen Gedanken. Er selbst hatte keine Kinder, konnte sich aber recht gut vorstellen, wie er auf so eine Nachricht reagieren würde.

Die Leute von der Spurensicherung durchforsteten das ganze Waldstück mehrere Male, ohne einen Hinweis auf den Täter zu entdecken. Näheres konnte nur die Obduktion der Leiche erbringen. Für Hartung waren angesichts dieses gräulichen Anblicks sämtliche Zweifel beseitigt. Es gab nur einen Menschen, der zu einer solchen bestialischen Tat fähig war: Armin Boczkowsky. Niemand sonst war für dieses Verbrechen verantwortlich, da war sich der Kommissar sicher. Die ganze Gegend musste durchkämmt werden, und zwar so lange, bis man eine Spur von dem Kerl entdeckte. Hartung hatte bereits die entsprechenden Befehle erteilt, und er wusste, dass jeder einzelne Polizist sein Bestes geben würde. Die meisten von ihnen waren Familienväter.

Dieses Mal würde er, Timm Hartung, koste es, was es wolle, dafür Sorge tragen, Boczkowsky ein für alle Mal auszuschalten. Für immer.

Nur wenige Sekunden nachdem der Kommissar ihr Haus verlassen hatte, brach Waltraud Renner zusammen. Ein Streifenwagen befand sich mit ihr auf dem Weg ins Krankenhaus. Stefan Renner saß mit in den Händen verborgenen Gesicht auf der Couch des Wohnzimmers. Vom Flur hörte er das laute Schluchzen seiner Tochter Claudia. Der Tod war in ihr Haus eingekehrt und hatte ihr Kind auf bestialischste Weise aus dem Leben gerissen. Ihr fröhliches Lachen würde nie mehr durch die Zimmer schallen, ihr Platz am Mittagstisch für immer leer bleiben.

Eine Bestie hatte ihre Familie zerstört.

Noch am selben Tag verbreitete sich die tragische Geschichte wie ein Lauffeuer. In Stralsfelden ging die Angst um. Einer der ersten, der es erfuhr, hieß Robert Müller.

Dieser bastelte im Keller an der Gangschaltung seines Rennrades herum, die ihn schon seit Wochen zum Verzweifeln trieb. Das Radio, das auf der Werkbank seines Vaters stand, lief auf Hochtouren.

Glory days, well they'll pass you by, glory days, in the wink of an young girls eye, glory days, glory days. Robert mochte »The Boss« ganz gern und summte begeistert mit. Der neue Mainauer Sender brachte genau die Art von Musik, auf die er stand. Sometimes on a Friday night, I'll stop by and have a few drinks, (Robert summte während seiner Arbeit laut mit) after she put her kids to bed....tü..tüü...tüüüt Ärgerlich registrierte Robert die Störung. Wir unterbrechen für eine wichtige Mitteilung. Dann beeil dich; dachte Robert, sonst ist der Song um. »Vor wenigen Stunden wurde in einem nahegelegenen Waldstück in der Nähe Stralsfeldens die Leiche eines jungen Mädchens entdeckt. Laut Polizeibericht handelt es sich dabei um die seit vorgestern Abend vermisste Petra Renner. Der Körper des Mädchens wies entsetzliche Verstümmelungen auf. Ob sexueller Missbrauch stattfand, steht bisher noch nicht fest. Bei dem Mörder handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den entflohenen Häftling Armin Boczkowsky, der letzten Jahres wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden war. Es ist anzunehmen, dass sich der Gesuchte in den Wäldern Stralsfeldens oder deren unmittelbarer Umgebung versteckt hält. Die Polizei hat eine großangelegte Suchaktion gestartet. Lassen Sie ihre Kinder nicht alleine im Freien spielen und gehen Sie nachts nicht ohne Begleitung auf die Straße. Die Polizei hält es für sehr wahrscheinlich, den Täter binnen kürzester Zeit gefasst zu haben. Soweit die aktuellen Meldungen, wir machen weiter mit Musik.« Diesmal war es nicht The Boss, sondern Bryan Adams mit seinem Run to you, der aus den Lautsprechern schallte. Doch darauf achtete Robert nicht. Wie erstarrt stand er da, seinen Schraubenzieher in der rechten Hand, unfähig sich zu rühren. Man hatte Petra gefunden. Tot. Verstümmelt. Mit kraftvoller Wucht knallte Robert das Werkzeug in die Ecke und stieß sein Fahrrad um. Er war voll ohnmächtigen Zorns. Das Wasser floss aus seinen Augen, während er immer wieder schrie: »Scheiße, Scheiße, Scheiße ...« Dann rannte er wie ein Wahnsinniger die Kellertreppe hoch, riss die Haustür fast aus den Angeln und stürmte ins Freie. Er musste es unbedingt den anderen sagen, wenn sie es nicht schon wussten. Er beschloss, Sven zuerst aufzusuchen, auch auf die Gefahr hin, dass sein Vater zu Hause sein sollte. Diesmal war es ihm egal. Petra war tot. Ermordet. Verstümmelt.

Kommissar Hartung stand mit dem Chefarzt der Gerichtsmedizin Dr. Felden vor der Bahre des ermordeten Mädchens. Durch das weiße Laken sah man undeutlich die Umrisse des kleinen Körpers.

Der Arzt streifte die Gummihandschuhe ab und schritt zum Waschbecken, wo er seine Hände mit einer seltsamen grünlichen Flüssigkeit einrieb.

»Hartung, Sie können mir glauben, dass mir in meiner fast dreißigjährigen Berufspraxis schon allerlei grausame Dinge untergekommen sind. Aber hier bin selbst ich noch schockiert. Noch nie habe ich derartige Verstümmelungen erlebt, wie an diesem armen kleinen Geschöpf. Was muss dieses Mädchen nur erlitten haben, bis der Tod sie erlöste. Ich wage gar nicht, es mir vorzustellen. Hartung, der Kerl hat das kleine Ding vorher mehrere Male vergewaltigt, auf die verschiedenste Weise, ersparen Sie mir Details, sie bekommen den Bericht. Wir konnten noch eine relativ große Anzahl von Spermen ausmachen. Dieser Mensch muss ein echtes Monster sein, Kommissar.«

Ernst blickte Hartung dem hageren Mann in die Augen.

»Er ist ein Monster, Felden. Ein Monster in Menschengestalt.« Seine Augen richteten sich auf die Bahre.

»Bei Gott, ich werde ihn finden. Ich bin es diesem Kind schuldig.«

Karl Weidner war nicht zu Hause. Sven bekam ihn in den letzten Tagen nur selten zu Gesicht, was seine Laune erheblich verbesserte. Doch im Augenblick befand sich jegliche Stimmung auf dem absoluten Nullpunkt.

Sven Weidner saß zusammen mit seinem Freund Robert Müller auf der Veranda des Hauses. Seine Mutter war ebenfalls unterwegs, und so konnten sich die beiden Kinder ungestört unterhalten.

»Mein Gott, Petra. Wenn ich diesen Schuft in die Finger kriege, dann ...«

Sven bebte vor verzweifelter Wut. Er hatte das hübsche Mädchen aus der Clique gut leiden mögen. Der Gedanke, nie mehr mit ihr zusammensein zu können, war einfach unvorstellbar. Sie gehörte doch zu ihnen. Normalerweise war der Tod eine Sache, die Kindern nichts anging. Jetzt war alles auf einmal so anders.

Für gewöhnlich unterschied sich die Gefühlswelt eines Zwölfjährigen beträchtlich von der eines Erwachsenen, vor allem in Sachen Sterben und Tod. Für ältere Menschen bedeutete der Tod in der Regel etwas Fürchterliches, Entsetzliches. Sie vermochten die Endgültigkeit dieser Phase verstehen und begreifen, Kinder nicht. Für sie war dieser Mensch einfach nicht mehr da, warum und weshalb stand außerhalb ihres kindlichen Auffassungsvermögens. Doch die Umstände, die zum Tod der Freundin der beiden Jungen führte, trug mit dazu bei, den Fall in seiner ganzen grausamen Wahrheit zu erkennen. Laut Roberts Schilderung wurde Petra verstümmelt, was nichts anderes hieß, als dass man ihr Körperteile abgetrennt hatte. Was für grausame Schmerzen mochten es sein, bekam man bei lebendigen Leib einen Arm oder irgendein anderes Körperteil abgeschnitten. Gegen diese Qualen mussten sich die Schmerzen, die Sven auszustehen hatte, wenn er Prügel bezog, wie Streicheleinheiten ausmachen.

Gemeinsam berieten die beiden Freunde, was zu tun sei. Als sie soeben beschlossen, die Clique zusammenzutrommeln, kam diese schon um die Ecke. Mit hängenden Köpfen trotteten sie an, sogar Wanne hatte ausnahmsweise mal nichts zu Futtern in den Händen.

»Ihr wisst's schon, was?«, fragte Martin.

»Leider«, erwiderte Sven niedergeschlagen. »Wo sind Marion und Ann-Katrin?«

»Dreimal darfst du raten«, antwortete Peter, Marions Bruder. »Die Eltern machen einen Riesenaufstand. Ich hab mich einfach davongemacht. Die wollen uns nicht mehr aus dem Haus lassen, vor allen Dingen die Mädchen. Ann-Katrins Mutter wäre uns beinahe ins Gesicht gesprungen, als wir sie abholen wollten.«

»Ich hoffe nur, dass die Bullen den Kerl kriegen und ihn umlegen«, stieß Andy hervor.

»Ich würde freiwillig in den Hungerstreik treten, wenn Petra wieder bei uns sein könnte«, flennte Wanne, der als der Sensibelste der Clique galt. Doch ihnen allen erging es nicht besser.

»Was ist, wenn die Bullen ihn nicht kriegen?«, fragte Sven verbittert. Robert legte seinem Freund den Arm auf die Schultern.

»Die ganze Gegend, der Wald, alles wird durchkämmt. Man wird ihn bestimmt finden.«

»Und wenn Sven zurecht zweifelt, und er sich irgendwo im letzten Winkel des Waldes versteckt hält?«

Wanne ging auf Martins Argument ein.

»Der verdammte Wald zieht sich von hier bis nach Mainau. Der Typ hatte außerdem Zeit genug, sich ein ideales Versteck zu basteln.«

Langsam erhob sich Robert von der Veranda. Die anderen sahen ihren Anführer erwartungsvoll an.

»Wir werden alles tun, damit man Petras Mörder schnappt. Falls die Polizei den Kerl nicht findet, werden wir weitersuchen. Alle zusammen.«

Mit gemischten Gefühlen, aber vom Sinn der Sache überzeugt stimmten sie ein. Vor allem die Jungs sahen sich kurz an und nickten sich unbemerkt zu.

Sie hatten die Warnung des Unheimlichen nicht vergessen.

Bernhard Brenner stand gedankenversunken am Grab seiner Freundin Sybille Theisen. Sein Innerstes war in größten Aufruhr. Von schweren Gewissensnöten geplagt, fragte er sich, ob er der Polizei von ihrem nächtlichen Erlebnis doch noch berichten sollte. Dieser Kommissar Hartung machte auf ihn einen recht offenen und sympathischen Eindruck.

In Gedanken ließ er die Vergangenheit Revue passieren und versuchte sich die Folgen eines Geständnisses auszumalen. Geschlaucht vom heißen Liebesakt stand da plötzlich diese Gestalt mitten auf der Straße. Dann die Vollbremsung, die Suche nach dem Fremden, die erfolglos blieb. Das erneute Zusammentreffen, die Warnung des Geistes, oder was immer es auch gewesen sein mochte.

DIE KINDER SIND IN GEFAHR.

Dann das rätselhafte Verschwinden des Spukes, der Aufbruch nach Hause. Deutlich erinnerte er sich an das nagende Gefühl des Unbehagens, als er versuchte, seine Geliebte telefonisch zu erreichen. Der Kampf mit dem Kerl in Sybilles Wohnung, der Anblick ihrer blutüberströmten Leiche; es schien ihm, alles erst jetzt erlebt zu haben, vor einigen Minuten.

Wie würde die Polizei reagieren, wenn er ihr von einer unheimlichen Gestalt, die vor einem Kindermörder warnt, berichtete. Trotz allem hatte er sich fest entschlossen mit den Beamten über diese Sache zu reden. Dann geschah der Mord an Petra Renner.

Womöglich wäre der Verdacht auf ihn gefallen, einen Mann, den die Ermordung seiner Geliebten den Verstand gekostet hatte. Oder Moment ... vielleicht war er schizophren, eine gespaltene Persönlichkeit. Am nächsten Morgen dann die Schlagzeile in der Morgenpost:

SCHULREKTOR EIGENE GELIEBTE ERMORDET?

SCHIZOPHRENIE ODER ANGST VOR SKANDAL?

Der Mainauer Kurier:

BERNHARD BRENNER EIN KINDERMÖRDER?

SCHULREKTOR UNTER MORDVERDACHT!

Was konnte diese Story anrichten, würde er sie Hartung oder einem anderen Beamten anvertrauen. Selbst wenn ihm jemand diese Geschichte abnahm, was für einen Nutzen konnte man daraus ziehen? Gar keinen. Die Gefahr blieb nach wie vor bestehen.

Bernhard Brenner hoffte inbrünstig, man würde dieses Schwein schnappen. Vor ihm, unter feuchter Erde begraben, lag die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte, eine Familie gründen, glücklich sein. Der Traum war ausgeträumt, die nackte Realität hatte von ihrer erbarmungslosesten Seite zugeschlagen.

Erneut dachte er an den Spuk.

ICH BIN DAS BÖSE, DASS IN IHM STECKT.

Was für eine Bedeutung lag hinter dieser rätselhaften Aussage?

Während er den Kiesweg entlang auf das Friedhofstor zulief, schüttelte er immer wieder gedankenversunken mit dem Kopf. Nein, er würde niemanden etwas davon erzählen. Er schwor sich, dass dies immer sein Geheimnis bleiben sollte.

Zu jenem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass Schwüre zuweilen dazu da sind, gebrochen zu werden.

Die Tage vergingen und Timm Hartung verfiel immer mehr in Ratlosigkeit. Dabei begann man sich schon die ersten Hoffnungen zu machen, als der Polizeiwagen, mit dem Boczkowsky flüchtete, unverhofft auftauchte. Der Mörder hatte den Wagen geschickt im dichten Gestrüpp des Waldes verborgen. Nun schien das Ziel nicht mehr weit. Die Beamten betrieben ihre Suche eifriger denn zuvor. Doch der Wald bot viele Verstecke, und Armin Boczkowsky war alles, nur kein Amateur. Dann – eineinhalb Wochen der Sommerferien waren bereits verstrichen – stellte die Polizei die Suche ein. Es wurde vermutet, der Mörder habe das Weite gesucht und schon längst diese, für ihn mittlerweile zu heiße Gegend, verlassen. Der einzige, der ernsthafte Zweifel an dieser Vermutung äußerte, hieß Timm Hartung. Niemand kannte den Schlitzer besser.

Angst

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