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TEIL EINS BEGEGNUNGEN
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1.
Juli, 1993
Die Walter-Hochfeld-Schule in Stralsfelden wurde täglich von über 800 Schülern besucht. Sie war eine Hauptschule wie viele andere Hauptschulen auch. So wie es auch ein Tag wie jeder andere zu sein schien an jenem heißen Julimorgen in dem oberfränkischen 1600-Seelen-Dorf, als Ann-Katrin und ihr Freund Sven lustlos das Schulgelände betraten. Die großen Ferien standen vor der Tür und die Erwartung auf die kommenden Wochen wirkte sich dementsprechend auf die Stimmung der Schüler aus. Viele der Kinder und Jugendlichen sahen diesen letzten Schultagen mit gemischten Gefühlen entgegen. In wenigen Stunden würden sie ein Formular mit der Aufschrift “Zeugnis” in den Händen halten. Ann-Katrin zählte zu der Sorte von Schülern, die jener Stunde mit Gelassenheit entgegensahen. Aufgrund ihres Ranges als Klassenbeste konnte sie sich diese Art von Gleichgültigkeit durchaus erlauben, was sie erheblich von ihrem besten Freund unterschied. Dennoch zog das Mädchen eine etwas traurige Miene zur Schau, wusste sie doch, dass diese letzten Tage vor den Ferien ihre letzten auf der Hochfeld-Schule sein sollten. Danach würde sie in ein Gymnasium wechseln, und so manch gute Freundschaft, die sie hier in den letzten Jahren pflegte, zurücklassen. Sie besaß eine Sondergenehmigung, nach der sechsten Klasse auf die höhere Schule wechseln zu dürfen. Der Grund dafür hieß Blutkrebs. Während ihrer vorangegangenen zweijährigen schweren Krankheit bewältigte sie allen Lernstoff, saß an den Tagen der Prüfungen leichenblass im Unterricht und erreichte trotz ihres Zustandes beste Zensuren. Die Leukämie zehrte das Mädchen aus, und die Hoffnung auf Heilung sank von Woche zu Woche. Bis ein geeigneter Spender gefunden und das Knochenmark erfolgreich transplantiert werden konnte. Auch ihr Freund Sven zeigte sich wenig erbaut über Ann-Katrins Schulwechsel. Er würde ihre Anwesenheit vermissen. Der gemeinsame Weg zur Schule und zurück nach Hause. Die Gespräche in den Pausen, das Abschreiben bei schwierigen Schulaufgaben. Ihre Anmut und ihr Lächeln, das ihn oft aufmunternde und alles Trübsal vergessen lies. Das Schulleben würde ohne sie noch unerträglicher werden.
Sven fiel das Lernen deutlich schwerer als dem Mädchen. Das Zeugnis, das er in diesem Jahr erhielt, war sicherlich nicht dazu angetan, seine ohnehin schon schlechte Laune zu verbessern. Sein Vater würde ihn vermutlich wieder mal grün und blau schlagen, wie schon so oft. An die Schmerzen hatte er sich längst gewohnt, sie ließen ihn mit der Zeit kalt. Doch die Schläge, diese fürchterlichen Hiebe, die seine Mutter immer dann einstecken musste, sobald sie für ihn Partei ergriff und zu verhindern suchte, dass der alte Säufer ihn totschlug; diese Schläge, die taten ihm weh, sehr weh, und er nahm sich vor es dem alten Bastard bei Gelegenheit zurückzuzahlen.
Sven konnte sich bildlich ausmalen, was geschehen würde, sobald dieses Scheusal sein Zeugnis in den Händen hielt. Demütigungen waren die Folge. Ausfälligkeiten, primitive und hässliche Schimpfworte, die ihn bis zum tiefsten Punkt erniedrigten. Zum millionstel Mal würde er ihm klarmachen, was für ein Stück Scheiße er nur großgezogen hatte, und dass er es bereute, ihn nicht gleich nach der Geburt erschlagen zu haben usw … usw. Unterdessen würde er wie ein Berserker auf ihn einhämmern und sich einen Dreck darum scheren, es selbst nicht weiter als bis zur städtischen Müllabfuhr gebracht zu haben.
Svens Gedanken wurden abgelenkt. Vor ihrem Klassenzimmer trat ihnen ein großer, schlanker, elegant gekleideter Herr entgegen. Sein strenger Blick wurde noch finsterer als er die Kinder erblickte. Mit der hakenförmigen Nase, den schütteren Haaren und dem markanten Gesichtsprofil erinnerte er Sven immer wieder an einen Typen namens Peter Cushing, den er von alten Horrorstreifen her kannte.
»Ihr seid reichlich knapp dran, Kinder«, rügte Kernten, der Unpünktlichkeit bei seinen Schülern zutiefst missbilligte. »Alle anderen sind schon auf ihren Plätzen.«
»Der Unterricht beginnt aber erst in zwei Minuten«, entgegnete Sven trotzig. »Werde bloß nicht übermütig, Weidner. Ich glaube, du hast es heute am allerwenigsten nötig ein freches Mundwerk zu riskieren«, entgegnete der Lehrer wütend. »Schaut, dass ihr reinkommt.«
Wichser; dachte Sven. Er wusste nur zu genau, dass dieser arrogante Kerl ihn nicht leiden konnte. Die ersten beiden Stunden – Mathematik - Svens größter Alptraum, zogen sich dahin wie ein ausgelutschter Kaugummi. Sein Notendurchschnitt in dem ungeliebten Fach lag bei fünf. Dies verdankte er aber auch nur dem Umstand, dass Robert, sein Banknachbar, sowie Ann-Katrin, die vor ihm saß, ihn regelmäßig abschauen ließen. Somit verhinderte ein weiteres Abrutschen. Doch selbst das Abschreiben fiel ihm reichlich schwer. Sie hatten alle ihre Aufgaben meist schon abgegeben, bevor er richtig beginnen konnte. Endlich! Das Pausenzeichen! Gelobt sei Jesus Christus! Dieser Mistkerl von Kernten wollte ihn doch jetzt tatsächlich noch einmal abfragen. Sven genoss den enttäuschten Blick des Paukers, packte sein Wurstbrot sowie die Flasche Limonade, und rannte seinen Kumpels Robert und Stefan hinterher. »Auf ein anderes Mal, Weidner«, hörte er Kernten rufen. Zum Glück hielt dieser Snob die Pausenzeiten so exakt ein, wie sein perfektes Gehabe es von ihm abverlangte. Draußen auf dem Hof versammelte sich die Clique wie immer auf den obersten Absätzen der breiten Schultreppe. Direkt unterhalb lag das Häuschen des Hausmeisters, der innerhalb der Pausenzeiten dort Getränke verkaufte. Beiläufig musterte Sven seine Freunde, von denen er wusste, dass er sich keine besseren wünschen konnte. Da war einmal sein Banknachbar Robert Müller, der auch nun neben ihm saß und ein meterlanges Sandwich hinunterschlang. Für einen Jungen der sechsten Klasse wirkte er bereits sehr erwachsen, schon alleine, weil er sie alle um einige Längen überragte. Roberts Vater maß sogar knapp über zwei Meter, und besaß die dürre Figur einer Spindel. Ebenso wie sein Sohn. Der blonde Junge aus der Kilianstraße verkörperte, was man unter einem echten Freund verstand. Mit Robert konnte man über alles reden. Er zeigte stets gute Laune und vertrug sich mit jeden. Sven bewunderte seinen Freund heimlich. Oft wünschte er sich, er könne so sein wie er. Von allen in seiner Clique, einmal abgesehen von Ann-Katrin, verstand er sich mit Robert am besten. Was lange nicht hieß, dass er zu den anderen kein gutes Verhältnis hatte. Es war nur ganz einfach ... anders. Der Junge zu seiner linken, welcher sich soeben anschickte, den Inhalt einer Cola-Dose auf seinem T-Shirt zu entleeren, hörte auf den Namen Peter Steiner. Peter, ein wenig untersetzt, trug pechschwarzes dichtes Haar und schaute finster aus kalten kastanienbraunen Augen. Nie hatte ihn jemals einer lachen gesehen und alle bisherigen Versuche, ihn dazu zu bewegen, scheiterten kläglich. Neben Peter saß Andreas Köhler, das Fußballass und größter Fan des 1. FC Bayern München. Sein dunkler, südländisch angehauchter Touch machte ihn zum Frauenhelden seiner Klasse. Zu dessen linken saßen kauend Martin Stolz, der leicht gehbehinderte Junge aus Svens Nachbarschaft, sowie Liberious Reuter, genannt Wanne, was seinem über alle Maßen beträchtlichen Bauchumfang zuzuschreiben war. Zu guter Letzt waren da noch die Mädchen der Truppe, die es lieber vorzogen mit den Jungs tolle Sachen auszuhecken, als mit ihren ach so kindischen Klassenkameradinnen Gummihüpfen oder ähnlich blödes Zeug zu betreiben. Eine Stufe tiefer, unter Roberts Füßen, saß Marion Steiner, Peters Zwillingsschwester, die ihm nicht im Geringsten ähnlich sah und auch sonst keine Schönheit abgab. Was Sven besonders hässlich fand, war zum einen der Pferdeschwanz - er hasste Pferdeschwänze - und diese meterdicke, entsetzlich altmodische Froschaugenbrille. Bei Petra Renner allerdings lag der Fall gänzlich anders. Selbst für die Augen elf- bis zwölfjähriger Jungs bot dieses Mädchen mit ihren hellblonden Haaren und den himmelblauen Augen eine kleine Sensation. Dennoch, so nahm sich Sven vor, würde er später einmal Ann-Katrin heiraten. Zum einen, da er es ihr versprochen hatte, zum anderen weil sie klug und obendrein sehr lieb war. Fand Sven. Sehr lieb. Sie besaß zwar dunkle Haare und grüne Augen, aber doch ein mindestens so hübsches Gesicht wie Petra. Zudem war sie seine beste Freundin, ohne deren Anwesenheit er sich in der Clique bestimmt nicht so wohl gefühlt hätte. »Na, schon Muffe wegen des Zeugnisses?«, fragte Wanne schmatzend, der sich eifrig durch einen Berg von belegten Brötchen hindurchfraß. »'n bisschen«, gab Sven zu. »In Mathe hab ich diesmal bestimmt einen Sechser, Deutsch und Geschichte unter Garantie eine Fünf.« »Au warte, das gibt Senge«, meinte Andy. »Ach weißt du, mit der Zeit kriegst du Hornhaut auf dem Hintern. Werde mal so oft verdroschen wie ich, nach 'ner Zeit merkst du es nicht mehr.« »Trotzdem finde ich gemein, was dein Vater tut«, empörte sich Ann-Katrin. »Warum gehst du nicht zur Polizei und zeigst ihn an?«, schlug Peter vor. »Vielleicht würden sie ihn einsperren und du hättest deine Ruhe.« »Und ob ich meine Ruhe hätte, dann wäre ich nämlich tot«, antwortete Sven. »Reden wir mal was Vernünftiges«, unterbrach Wanne, der einen Streit zu verhindern suchte. »Was wollen wir heute nachmittag unternehmen? Hat jemand eine Idee?« »Klar«, rief Robert, der Wannes Taktik sofort durchschaute. »Wir können doch ein bisschen schwimmen gehen. Wie wär's mit einem Wettschwimmen, möglicherweise kann ich meinen Rekord vom letzten Mal noch verbessern.« »Dann viel Spaß«, entgegnete Sven niedergeschlagen. »Die nächsten zwei Wochen könnt ihr mich wahrscheinlich vergessen. Mein Alter lässt mich unter Garantie so schnell nicht mehr aus dem Haus, schon gar nicht heute.« »Ich kann dich ja abholen kommen und deinen Vater fragen, ob du mitdarfst«, schlug Martin vor, der nur wenige Häuser weiter wohnte. »Oder wir kommen alle zusammen«, meinte Petra. Die anderen nickten zustimmend. Sven bemerkte Ann-Katrins skeptischen Blick. Sie kannte seinen Vater besser als ihre Freunde. Die meiste Freizeit verbrachte der Junge mit ihr und Robert, wobei letzterer es stets vermied, über die Türschwelle zu treten. »Es hat keinen Sinn, glaubt mir, es würde höchstens noch schlimmer.« Und es wurde schlimm. Sehr schlimm sogar.