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2.2 Gemeinsame erkenntnistheoretische Annahmen

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Das minimale erkenntnistheoretische Modell, das allen empirischen Wissenschaftsdisziplinen mehr oder weniger gemeinsam ist, lässt sich durch fünf erkenntnistheoretische Annahmen (E1–E5) beschreiben:

Strukturelle Korrespondenztheorie der Wahrheit

E1 – Minimaler Realismus: Dieser Annahme zufolge gibt es eine Wirklichkeit bzw. Realität, die unabhängig vom (gegebenen) Erkenntnissubjekt existiert. Es wird nicht unterstellt, dass alle Eigenschaften dieser Realität erkennbar sind. Die Möglichkeit grundsätzlicher Erkenntnisgrenzen wird offengelassen und kann nicht apriori, sondern nur angesichts des faktischen Erkenntniserfolges der Wissenschaften beantwortet werden. Wissenschaftliche Disziplinen bezwecken, möglichst wahre und gehaltvolle Aussagen über abgegrenzte Bereiche dieser Realität aufzustellen. Der Begriff der Wahrheit wird dabei im Sinn der strukturellen Korrespondenztheorie verstanden, derzufolge die Wahrheit eines Satzes in einer strukturellen Übereinstimmung zwischen dem Satz und dem von ihm beschriebenen Teil der Realität besteht. Dieser von Alfred Tarski (1936a) präzisierte strukturelle Wahrheitsbegriff unterstellt somit keine direkte Widerspiegelungsbeziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Er ist auch damit verträglich, dass streng genommen falsche Theorien in einem approximativen Sinne wahr bzw. wahrheitsnahe sein können (dazu Kap. 5.6.2).

E2 – Fallibilismus und kritische Einstellung: Es gibt keinen unfehlbaren ‚Königsweg‘ zu korrespondenztheoretischer Wahrheit. Der Annahme des Fallibilismus zufolge ist jede wissenschaftliche Behauptung mehr oder minder fehlbar; wir können uns ihrer Wahrheit daher nie absolut sicher sein, aber wir können ihre Wahrheit als für mehr oder weniger wahrscheinlich befinden. Daher kommt alles darauf an, im Sinne von Annahme E4 unten, durch empirische Überprüfung herauszufinden, wie es um die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer wissenschaftlichen Hypothese bestellt ist. Mit dem Fallibilismus ist somit eine kritische Einstellung verbunden, derzufolge keine Aussage von der Kritik ein- für allemal ausgeschlossen werden darf.

E3 – Objektivität und Intersubjektivität: Die Wahrheit einer Aussage muss dieser Annahme zufolge objektiv gelten, d.h., sie muss unabhängig von den Einstellungen und Wertungen des Erkenntnissubjekts bestehen, da ja gemäß Annahme E1 auch die Realität unabhängig davon besteht, und Wahrheit die Übereinstimmung von Aussage und Realität ist. Die Objektivitätsannahme folgt daher bereits aus Annahme E1. Die Charakterisierung von Objektivität als Subjektunabhängigkeit hilft uns in der Wissenschaftspraxis allerdings nicht weiter, da es immer Subjekte sind, die Aussagen aufstellen und Hypothesen formulieren. Wir haben keinen direkten Zugang zur objektiven Wahrheit, sondern können uns ihr nur indirekt über – nicht sichere, aber wahrscheinliche – Kriterien nähern. Die zweite Teilaussage von Annahme E3 besagt, dass ein zentrales wissenschaftliches Kriterium für Objektivität und indirekt auch für Wahrheit in der Intersubjektivität von Aussagen liegt: wenn sich die Wahrheit einer Aussage überhaupt überzeugend begründen lässt, so muss sich jede kognitiv hinreichend kompetente Person von der Wahrheit dieser Aussage nach hinreichender Kenntnisnahme der Datenlage zumindest ‚im Prinzip‘ überzeugen lassen.

Empirische Überprüfbarkeit

E4 – Minimaler Empirismus: Mit der Ausnahme von Formalwissenschaften wie der Mathematik, auf die wir noch zu sprechen kommen, muss der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft im Prinzip der Erfahrung bzw. der Beobachtung zugänglich sein. Denn letztlich kann nur durch wahrnehmende Beobachtung verlässliche Information über die Realität erlangt werden – nur durch Wahrnehmung stehen wir mit der Realität in informationellem Kontakt. Empirische Beobachtungen sind somit ein zentraler Schiedsrichter für die wissenschaftliche Wahrheitssuche: an ihnen müssen wissenschaftliche Gesetzeshypothesen und Theorien überprüft werden. Dies ist die zentrale Aussage von Annahme E4. Beobachtungen sind zwar nicht infallibel (das wäre ein Widerspruch zur Annahme E2), aber bei ihnen ist Intersubjektivität und praktische Sicherheit am leichtesten und schnellsten erzielbar. Minimal ist diese Art von Empirismus, weil nicht behauptet wird, dass sich alle wissenschaftlichen Begriffe bzw. Sätze durch Definitionsketten auf Beobachtungen zurückführen lassen müssen oder gar durch sie beweisbar sind. Wissenschaftliche Theorien dürfen und sollen auch über das sprechen, was der Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich ist; entscheidend ist nur, dass sie empirische Konsequenzen besitzen, an denen sie sich überprüfen lassen.

E5 – Logik im weiten Sinn: Durch Anwendung präziser logischer Methoden zur Einführung von Begriffen, zur Formulierung von Sätzen sowie zur Bildung korrekter Argumente kann man dem Ziel der Wahrheitssuche (gemäß Annahmen E1–E4) am effektivsten näher kommen. Denn die Bedeutung eines Satzes steht nur dann genau fest, wenn die in ihm vorkommenden Begriffe genau präzisiert wurden. Und nur für Sätze mit präzise formulierter Bedeutung sind deren logische Konsequenzen präzise ermittelbar. Schließlich ist nur dann, wenn die Konsequenzen einer Hypothese genau bekannt sind, diese Hypothese gemäß Annahme E4 präzise empirisch überprüfbar. Das Verfahren der empirischen Überprüfung erfordert also an allen Stellen die Anwendung logischer Methoden – im weiten, nicht auf deduktive Logik eingeschränkten Sinn von Logik.

Empirische Bewährbarkeit des Realismus

Unser minimales Erkenntnismodell macht so wenig Annahmen wie möglich, jedoch soviel wie nötig, um sinnvoll gegenstandsbezogene Wissenschaft betreiben zu können. Einige seiner Annahmen verdienen nähere Erläuterung. Wir nennen den Realismus in Annahme E1 „minimal“, weil er lediglich die objektive Existenz der Wirklichkeit behauptet. Ob und bis zu welchem Grad die Realität auch objektiv erkennbar ist, kann gemäß Annahme E2 nicht apriori beantwortet werden, sondern nur durch den Erfolg der wissenschaftlichen Erkenntnismethode. Dadurch unterscheidet sich der minimale Realismus von allen Spielarten eines metaphysischen Realismus. Wir behaupten in Annahmen E4 und E5 lediglich zwei minimale Ebenen, in denen Erkenntnis einen Ausgangspunkt und Prüfstein hat: einerseits die Beobachtung, die uns einen zwar lückenhaften, aber reliablen und intersubjektiven Zugang zur Wirklichkeit ermöglicht, und andererseits die Logik im weiten Sinn, die ein universelles Denkwerkzeug bereit stellt, aber von sich aus noch nichts über die Wirklichkeit besagt.

Probleme der Intersubjektivität

In unserer Charakterisierung von Intersubjektivität in Annahme E3 haben wir uns auf ‚hinreichend kompetente‘ Personen bei ‚hinreichender Kenntnis der Datenlage‘ beschränkt. Denn Personen, die den Gehalt einer Hypothese nicht verstehen oder die Datenlage nicht kennen, besitzen nicht die Fähigkeit, diese Hypothese auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen. Die Schwierigkeit dieser Einschränkung zeigt uns, dass Intersubjektivität keinesfalls als Definition von Objektivität oder Wahrheit verwendet werden darf (so wie z.B. bei Kamlah und Lorenzen 1973, 119), da Kompetenz ein unsicheres und graduelles Kriterium ist, weshalb sich auch noch so viele als kompetent befundene Personen kollektiv irren können. Charles S. Peirce hat versucht, die Definition von Wahrheit als intersubjektiver Konsens vor solchen Einwänden zu retten, indem er sich auf das fiktive Endresultat einer idealen Forschergemeinschaft bezog (s. Apel 1976, Hg., 1. Teil, Kap. II.7). Aber selbst in dieser kontrafaktischen Version muss intersubjektiver Konsens nicht mit korrespondenztheoretischer Wahrheit übereinstimmen. Es gibt unzählige Propositionen, über die selbst eine ideale Forschergemeinschaft nie Konsens erzielen kann, weil sie keinen evidentiellen Zugang dazu besitzt, obwohl es keinen Grund gibt, anzunehmen, diese Propositionen seien in ihrem Wahrheitswert ontologisch unbestimmt – z.B. „wie viele (bzw. soundsoviele) Viren befanden sich in Cäsars Nase, als er den Rubikon überschritt?“. Zusammengefasst kann Intersubjektivität nur als unsicheres Kriterium für Objektivität dienen.

Beim minimalen Realismus von Annahme E1 handelt es sich um einen hypothetisch-konstruktiven Realismus (s. Kap. 2.7.1). Zugleich trägt dieser Realismus naturalistische Züge, da die philosophische Hypothese der Erkennbarkeit und sogar die der Existenz einer subjektabhängigen Realitätsich letztlich, wie alle anderen Bestandteile des wissenschaftlichen Gesamtsystems, über den Erfolg der Erfahrungserkenntnis bewähren muss, und zwar als beste Erklärung dieses Erfolges (im Sinne des abduktiven Schlusses, s. Kap. 2.6.3). Es sei betont, dass der minimale Realismus auch kompatibel ist mit den berechtigten Zweifeln am ‚vollen‘ Realismus in den philosophischen Interpretationen der Quantenmechanik (hierzu s. Bartels 1986, Kap. 4).

Definition versus Kriterien der Wahrheit

Zu Vermeidung von Missverständnissen ist hinzuzufügen, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit sich zwar vorzüglich als Definition von Wahrheit eignet, jedoch von sich aus keinerlei Kriterien hergibt, um die Wahrheit eines Satzes herauszufinden (vgl. Rescher 1977; Brendel 1999, 123). Den Weg zu solchen Kriterien weisen unsere Annahmen E5 und E4: ermittle die empirischen Konsequenzen deiner Hypothese und überprüfe sie anhand empirischer Beobachtungen oder Experimente. Um beispielsweise die Wahrheit des Satzes „diese Blume ist rot“ herauszufinden, bringt mich die korrespondenztheoretische Einsicht, dass dieser Satz wahr ist, wenn diese Blume rot ist, keinen Schritt weiter; ich muss vielmehr in der Lage sein, das durch den ostensiven Individuenterm „diese Blume“ bezeichnete Objekt sowie die mit „rot“ ausgedrückte Wahrnehmungsqualität visuell zu erfassen, um die Wahrheit dieses Satzes durch einen einfachen Wahrnehmungsakt überprüfen zu können.

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