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1.2 Philosophische Positionen in der
Wissenschaftstheorie

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Das fallibilistische Erkenntnisprogramm

1.2.1 Empirismus und Rationalismus. Obgleich die Bezeichnung „Wissenschaftstheorie“ erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde, ist die Disziplin der Wissenschaftstheorie so alt wie die Wissenschaften selbst und hat sich mit deren Entwicklung kontinuierlich mitentwickelt (s. Losee 1977). Die Geschichte der Wissenschaftstheorie beginnt mit Aristoteles (384–322 v. Chr.), dem großen Wissenssystematisierer der Antike. Aristoteles war wesentlich erfahrungsorientierter als sein Lehrer Platon. Dennoch war auch Aristoteles, so wie die meisten Philosophen nach ihm, ein Anhänger des sogenannten fundamentalistischen Erkenntnisprogramms. In diesem Erkenntnisprogramm geht man davon aus, dass echtes Wissen nur möglich ist, wenn es auf einem Fundament von sicheren und notwendigen Prinzipien ruht, welche nicht durch unsichere Erfahrung, sondern durch rationale Intuition gewonnen werden (vgl. Albert 1980, 11–18). Aristoteles sprach in diesem Zusammenhang von „intuitiver Induktion“ (s. Losee 1977, 16f.). In der gegenwärtigen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hat sich dagegen das fallibilistische Erkenntnisprogramm durchgesetzt, welches davon ausgeht, dass unsere Erkenntnis der Realität grundsätzlich fehlbar ist und wissenschaftliches Wissen zwar mehr oder weniger gut bestätigt, aber niemals irrtumssicher sein kann.

Empirismus versus Rationalismus

Gestützt auf die großartigen Erfolge der naturwissenschaftlichen Methode in der Neuzeit – mit Pionieren wie z.B. Galileo Galilei (1564–1642), Isaac Newton (1642–1727) oder Charles Darwin (1809–1882) – hat sich in der Philosophie die einflussreiche Strömung des Empirismus etabliert, von Francis Bacon (1561–1626) und John Locke (1632–1704) bis zu David Hume (1711–1776) und John Stuart Mill (1806–1873). Zum anderen hat sich das fundamentalistische Erkenntnisprogramm in der Strömung des Rationalismus und verwandten Richtungen weiterentwickelt – von René Descartes (1596–1650) über Gottfried W. Leibniz (1646–1716) bis zu Immanuel Kant (1724–1804). Den grundlegenden Unterschied zwischen den empiristischen und den rationalistischen Strömungen kann man so charakterisieren. Für Empiristen sind jene Sätze, welche sich apriori – also allein durch den Verstand und mit rationaler Gewissheit – begründen lassen, eingeschränkt auf die sogenannten analytischen Sätze, deren Wahrheit auf Logik und begrifflichen Konventionen beruht. Solche Sätze besitzen keinen Realgehalt – sie sagen nichts über die wirkliche Welt aus; dies tun nur synthetische Sätze. Für Rationalisten gibt es dagegen auch apriorisch begründbare Sätze mit Realgehalt, sogenannte synthetische Sätze apriori. Doch sowohl Descartes‘ wie Kants Versuche, apriorische Prinzipien der Erfahrungswissenschaft zu begründen, wurden von der weiteren Entwicklung der Naturwissenschaft widerlegt. Die Entwicklung der modernen Wissenschaftsphilosophie ist auf das engste mit der Einsicht in die Uneinlösbarkeit des fundamentalistischen Erkenntnisprogramms verbunden.

Auch die klassischen Systeme des philosophischen Empirismus trugen lange Zeit reduktionistische und fundamentalistische Züge. Die skeptischen und zur epistemischen Bescheidenheit aufrufenden Konsequenzen des Empirismus wurden erst von Hume konsequent ausformuliert (s. dazu Kap. 2.6.1, 6.5.1.3). Hume zeigte, dass die zwei Kernstücke der wissenschaftlichen Methode, das Kausalitätsprinzip und das Induktionsprinzip, weder logisch noch empirisch begründbar sind, und dieses Problem sollte die Philosophie bis in die heutigen Tage beschäftigen. Die anscheinende Begründungsinsuffizienz des Empirismus gab rationalistischen Nachfolgeströmungen wieder Auftrieb, in welchen das fundamentalistische Erkenntnisprogramm jedoch nach und nach aufgegeben bzw. durch pragmatisierte oder historisierte ‚Rationalismen‘ ersetzt wurde (s. Kap. 1.2.5). Im 20. Jahrhundert haben sich post-empiristische und postrationalistische Ansätze einander beträchtlich genähert, und in diesem Spannungsfeld hat sich auch die gegenwärtige Wissenschaftstheorie entwickelt.

Wiener Kreis

1.2.2 Logischer Empirismus. Zu den wichtigsten Entstehungsursachen der modernen Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie gehört der logische Empirismus, der insbesondere vom Wiener Kreis (aber auch z.B. vom nahestehenden Berliner Kreis um Hans Reichenbach, u.a.m.) entwickelt wurde. Beim Wiener Kreis handelte es sich um eine Gruppe von Einzelwissenschaftlern und Philosophen in Wien, deren Kern Moritz Schlick (1882–1936), Otto Neurath (1882–1945) und Rudolf Carnap (1891–1970) bildeten. Anknüpfend an Ernst Mach (1838–1916) bemühte sich diese Gruppe um eine Neubegründung des Empirismus und der wissenschaftlichen Philosophie insgesamt (s. Stadler 1997, Schurz 2003). Das Neuartige ihrer Situation war die Entwicklung der modernen Logik, die erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Durch die moderne Logik wurden beliebige sprachliche Erkenntnissysteme mit mathematischer Präzision darstellbar, und so war es die Hoffnung des Wiener Kreises, nun endlich das methodische Rüstzeug für eine wissenschaftlich fortschreitende Philosophie gefunden zu haben (vgl. Schlick 1930/31, 5f.). Mitte der 1930er Jahre musste sich der in politischer Hinsicht linksliberal bis sozialistisch orientierte Wiener Kreis unter dem Druck der Nationalsozialisten auflösen. Die Mehrheit seiner Mitglieder emigrierte teils über Umwege in die USA, wo sich die logisch-empiristische Bewegung in Vereinigung mit verwandten angloamerikanischen Richtungen zur Analytischen Philosophie weiterentwickelte und in der Nachkriegszeit auch in Europa Fuß fasste.

Empirischer Reduktionismus

Was die heutige Wissenschaftstheorie vom logischen Empirismus lernen kann, sind weniger bestimmte Einzelthesen als die hohen Standards begrifflicher und argumentativer Genauigkeit. In ihrer Phase bis 1935 war die Wissenschaftsphilosophie des logischen Empirismus positivistisch und reduktionistisch verengt. In der späteren Phase haben die logischen Empiristen ihre verengten Positionen nach und nach verworfen und durch Thesen ersetzt, auf die die Bezeichnung „Empirismus“ oder „Positivismus“ im üblichen Sinn nicht mehr zutrifft. In einem Punkt hatte sich der logische Empirismus sehr früh von seinen klassischen Vorgängern gelöst: in der Zurückweisung der Infallibilität von Beobachtungssätzen. In der sogenannten Protokollsatzdebatte setzte sich – nicht bei Schlick, wohl aber bei Neurath und Carnap – die Ansicht durch, dass auch Beobachtungssätze wie „dort ist ein Tisch“ prinzipiell fehlbar sind. Der Empirismus besteht in dieser Sicht nur mehr darin, dass Beobachtungssätzen im Gesamtsystem der Erkenntnis eine epistemisch bevorzugte Rolle zukommt (vgl. Carnap 1932/33, Neurath 1934, 113). Am empirischen Reduktionismus wurde dagegen noch lange Zeit festgehalten. Der klassische Empirismus vertrat folgende Reduktionsthese: alle ‚seriösen‘ wissenschaftlichen Begriffe müssen durch Definitionsketten auf Beobachtungsbegriffe zurückführbar sein. Dieses Reduktionsprogramm wurde vom logischen Empirismus in seiner Frühphase übernommen (Carnap 1928). Erst später setzte sich die Ansicht durch, dass theoretische Begriffe wie „Kraft“, „elektrisches Feld“ oder „menschlicher Charakter“ nicht durch Beobachtungsbegriffe definierbar sind, sondern weit über das unmittelbar Beobachtbare hinausgehen (Carnap 1956; Hempel 1951). In der sogenannten Standardwissenschaftstheorie der 1960er Jahre war das klassische empiristische Erkenntnismodell bereits aufgegeben. Übrig blieb ein minimaler Empirismus, der in der Forderung bestand, dass wissenschaftliche Theorien empirische Konsequenzen haben müssen, an denen sie überprüft werden können.

Abgrenzung Wissenschaft – Metaphysik

Damit wurden zwei Abgrenzungslinien durchlässig, an denen der frühe logische Empirismus festzuhalten versuchte. Erstens wurde die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik durchlässig: denn es stellt sich heraus, dass Prinzipien, die isoliert betrachtet empirisch konsequenzenlos sind, im Verein mit anderen theoretischen Sätzen neue empirische Konsequenzen erzeugen können (vgl. Hempel 1951, §4; Stegmüller 1970, 293–295; s. Kap. 5.4). Auf diese Weise gewann die postpositivistische Wissenschaftstheorie neuen Zugang zur Diskussion metaphysischer Prinzipien wie Realismus und Kausalität. Zweitens wurde die Abgrenzung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen durchlässig, denn die Bedeutung theoretischer Begriffe wird durch die gesamte jeweilige Hintergrundtheorie bestimmt (Carnap 1956; Quine 1951). Verbunden damit brach auch die Einengung der Analytischen Philosophie auf sprachinterne Fragen zusammen, die Carnap (1950a) vertreten hatte. Quine (1960) entwickelte dagegen eine naturalistische Auffassung, derzufolge es einen kontinuierlichen Übergang gibt zwischen Erfahrungswissenschaft und Wissenschaftsphilosophie.

1.2.3 Kritischer Rationalismus. Assoziiert mit dem Wiener Kreis war auch Karl Popper (1902–1994), der Begründer des sogenannten kritischen Rationalismus. Poppers Wissenschaftstheorie trug von Anbeginn an jene anti-reduktionistischen Züge, zu denen sich der logische Empirismus erst nach Jahren der Wandlung durchgerungen hatte. Wissenschaftliche Theorien können nach Popper beliebig weit über die Erfahrung hinausgehen, wenn sie nur an ihr überprüfbar sind. Überprüfung sollte sich nach Popper in Form von möglichst strengen Falsifikationsversuchen vollziehen. Dabei berief sich Popper auf die logische Asymmetrie von Verifikation und Falsifikation bei strikten (ausnahmslosen) Allsätzen wie z.B. „alle Metalle leiten Strom“. Solche Gesetzeshypothesen können durch keine endliche Menge von Beobachtungen verifiziert werden, aber bereits durch ein einziges Gegenbeispiel falsifiziert werden (Popper 1935/76, Kap. I–IV).

Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium

Für Popper war Falsifizierbarkeit das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Spekulation: Wissenschaftliche Theorien sind nicht verifizierbar, aber sie müssen falsifizierbar sein. Wenn sie nur einmal falsifiziert wurden, dann werden sie als falsch ausgeschieden; haben sie aber viele Falsifikationsversuche erfolgreich bestanden, dann gelten sie als bewährt. Auch Poppers Falsifikationismus war in der Folgediskussion mannigfacher Kritik ausgesetzt. Lakatos (1974) zeigte auf, dass wissenschaftliche Theoriensysteme so gut wie nie aufgrund eines einzigen Gegenbeispiels verworfen werden, sondern zunächst durch ad hoc Modifikationen gegenüber widerspenstigen Erfahrungsdaten immunisiert werden (s. Kap. 5.6.1). Ebenfalls harter Kritik ausgesetzt war Poppers Antiinduktivismus – d.h. seine These, Wissenschaft könne gänzlich ohne Induktion auskommen (s. Kap. 2.6.2).

Poppers kritischer Rationalismus ist von einem klassischen Rationalismus weit entfernt. Nirgendwo wird in Poppers Philosophie behauptet, man könne Realerkenntnis durch erfahrungsunabhängige apriori Intuition begründen; im Gegenteil hatte dies Popper immer abgelehnt. Somit ist Poppers Philosophie ebenso postrationalistisch wie der späte logische Empirismus postpositivistisch ist. Stärker als der späte logische Empirismus hat Popper allerdings betont, dass Beobachtungssätze nicht bloß fehlbar sind, sondern auch theoriebeladen sind, sodass die Grenze zwischen Beobachtungs- und theoretischen Begriffen nicht scharf gezogen werden könne (1935/76, 73–76; Neuer Anhang X 374ff.). Mit dieser Argumentation kam der kritische Rationalismus dem Angriff des Relativismus unwillentlich ein Stück weit entgegen.

Wissenschaftliche Paradigmen

1.2.4 Historische Wissenschafstheorie und Relativismus. Ende der 1950er Jahre wurde vom Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn (1967) ein fundamentaler Angriff auf die Standardwissenschaftstheorie vorgetragen, der diese noch weiter verunsichern sollte. Faktische Wissenschaft, so Kuhn, verhält sich anders als es ihr die Wissenschaftstheoretiker ‚vorschreiben‘ wollen. Das von Kuhn entwickelte alternative Wissenschaftsmodell ist eher historisch-soziologisch als logisch-kognitivangelegt. Kuhn zufolge vollzieht sich Wissenschaftsentwicklung auf der Grundlage sogenannter Paradigmen, wie etwa das Paradigma der klassischen (Newtonschen) Physik oder das der (Darwinschen) Evolutionstheorie. Ein Kuhnsches Paradigma enthält zumindest folgende drei Komponenten: (i) sehr allgemeine theoretische Prinzipien oder Modellvorstellungen, (ii) Musterbeispiele erfolgreicher Anwendungen, und (iiii) methodologisch-normative Annahmen (s. Kuhn 1977, Hoyningen-Huene 1989, Schurz 1998a). Das wissenschaftssoziologische Korrelat des Paradigmas ist die Scientific Community, eine Gemeinschaft von Fachexperten, welche an einem Paradigma festhält und an seiner Weiterentwicklung arbeitet. Kuhn zufolge bestimmt ein Paradigma nicht nur die grundlegenden Prinzipien und Problemstellungen, nicht nur die Interpretation der Beobachtungsdaten – nein, es bestimmt sogar die Beobachtungsdaten selbst, denn alle Beobachtung ist theoriegeladen: es gibt nach Kuhn keine theorie-bzw. paradigmenneutrale Beobachtung. Diese starke These übernimmt Kuhn von Hanson (1958).

Wissenschaftliche Revolutionen

Wissenschaftsentwicklung vollzieht sich Kuhn zufolge in zwei sich ablösenden Phasen, einer normalwissenschaftlichen und einer revolutionären Phase. Die gemeinsame Akzeptanz eines Paradigmas ermöglicht in der normalwissenschaftlichen Phase kontinuierlichen Wissensfortschritt. Wenn sich widerspenstige Daten, sogenannte Anomalien, einer kohärenten Erklärung durch das Paradigma widersetzen, werden diese Konflikte durch mehr oder minder ad hoc vorgenommene Modifikationen der aktuellen Theorieversionen innerhalb des akzeptierten Paradigmas bereinigt. Häufen sich jedoch solche Anomalien, so beginnen jüngere Gelehrte nach einem neuen Paradigma zu suchen. Sobald ein solches gefunden ist, tritt die Wissenschaftsentwicklung für eine gewisse Zeit in eine revolutionäre Phase ein, in der zwei Paradigmen um die Vorherrschaft kämpfen. Als Beispiele führt Kuhn (1967) den Übergang von der ptolemäischen zur kopernikanischen Astronomie oder den von der Newtonschen zur Einsteinschen Physik an. Da während eines Wechsels des Paradigmas jedoch alle gemeinsamen Rationalitätsstandards weggefallen sind und alle bisherigen Erfahrungsdaten neu ‚gesehen‘ werden, sind die zwei konkurrierenden Paradigmen, gemäß Kuhns ‚berüchtigter‘ Inkommensurabilitätsthese, rational unvergleichbar, und der Kampf um die Vorherrschaft findet anstatt in Form eines kognitiven Leistungsvergleichs in der Form eines wissenschaftspolitischen Machtkampfes statt, in dem die Anhänger des alten Paradigmas schließlich aussterben, wodurch sich das neue Paradigma durchsetzt und eine neue normalwissenschaftliche Phase einläutet.

Kuhns alternatives Wissenschaftsmodell war in den folgenden Jahrzehnten einer kontroversen Diskussion ausgesetzt. Neben einer Gegnerschaft bildete sich eine eher gemäßigte und eine eher radikale Richtung von Kuhnianern heraus (vgl. Hoyningen-Huene 1989, 207f.). Die radikalere Richtung gab dem Relativismus starken Auftrieb – am deutlichsten ausgeprägt in Feyerabends ‚Anarchistischer Erkenntnistheorie‘ (1976). Dem Argument der Theorieabhängigkeit wissenschaftlicher Beobachtungen und seinen relativistischen Konsequenzen konnte die Standardwissenschaftstheorie nichts Wirksames entgegensetzen. Denn sie hatte ja alle inhaltlichen Fragen über die Natur dessen, was Beobachtung sei, aus der verengten Perspektive der Wissenschaftslogik verbannt. Für Popper war die Frage, was als Beobachtungssatz zugelassen wird, wissenschaftslogisch eine Sache reiner Konvention (1935/76, 71–74), und nicht viel anders sahen es die logischen Empiristen. In Kap. 2.7.2 wird sich zeigen, dass sich ein anderes Bild ergibt, sobald man eine empirisch-kognitive Perspektive einnimmt. Letztendlich: würde es keinen Unterschied geben zwischen dem, was die Erfahrung zeigt, und dem, was man theoriegelenkt vermutet, so wäre Erfahrungswissenschaft eine permanente Selbsttäuschung. Einer Theorie der Erfahrungswissenschaften, welche diesen zentralen Unterschied nicht erklären kann, haftet etwas äußerst Unbefriedigendes an.

Einführung in die Wissenschaftstheorie

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