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2.7.3 Zum Unterschied zwischen Erfahrungssätzen und Werturteilen

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Die Wertneutralitätsforderung beruht auf der These, dass fundamentale Norm- und Wertsätze keiner erfahrungswissenschaftlichen Begründung fähig sind. Diese These wird nicht von allen Wissenschaftstheoretikern und Ethikern geteilt. Daher wollen wir sie im folgenden gegen die wichtigsten Einwände verteidigen. Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen metaethischen Positionen zur Frage der Begründbarkeit von fundamentalen Norm- und Wertsätzen, die hier nicht erläutert werden können (vgl. Schurz 1997a, Kap. 11.3). Die entscheidende Herausforderung für unsere Begründung der Wertneutralitätsthese sind die Ansätze des sogenannten Wertempirismus, welche eine besondere Art von ‚Werterfahrung‘ als Überprüfungsbasis für die Ethik annehmen, in Analogie zur gewöhnlichen Erfahrung als Überprüfungsbasis für Erfahrungswissenschaften (s. Czaniera 2001, Kap.1–2). In der Wissenschaftstheorie wurde diese Position von Weingartner (1978, Kap. 7.15ff.) vertreten, der annimmt, ethische Hypothesen werden durch Basiswertsätze und Basisnormen überprüft. Ein Beispiel für einen Basiswertsatz wäre etwa: ich sehe einen Menschen, der einem Armen Geld gibt, und empfinde dies spontan als gute Tat. Im folgenden möchte ich anhand von zwei Argumenten zeigen, dass sich solche ‚Werterfahrungen‘ ganz anders verhalten als echte Sinneserfahrungen: das Normalbedingungsargument und das Unabhängigkeitsargument.

Das Normalbedingungsargument

Das Normalbedingungsargument besagt folgendes: Intersubjektiv abweichende Wahrnehmungsurteile können nahezu immer auf Defekte in den Normalbedingungen der Beobachtung zurückgeführt werden. Auf intersubjektiv abweichende Werturteile trifft dies im allgemeinen nicht zu. Betrachten wir als Beispiel den angenommen wahren Beobachtungssatz dort brennt ein Feuer. Die These der Intersubjektivität eines solchen Beobachtungssatzes besagt, dass diesem Satz jeder oder nahezu jeder Mensch zustimmen würde, sofern die in Kap. 2.7.2 erläuterten Normalbedingungen der Beobachtung erfüllt sind. Würde eine Person tatsächlich hartnäckig und wiederholt in visueller Nähe des Feuers behaupten „ich sehe aber kein Feuer“, so hätten wir allen Grund, einen Defekt in diesen Normalbedingungen anzunehmen, und wir würden diesen Defekt durch einen unabhängigen Test nachweisen können. Eine solche Person wäre höchstwahrscheinlich blind, oder gehirngeschädigt, oder sie befände sich in einem Halluzinationsstadium. Aus diesem Grund wären wir auch dazu berechtigt, einen solchen Menschen von seinem Beobachtungsdefekt heilen zu wollen.

Der Umgang mit abweichenden Werthaltungen

Doch nehmen wir an, unter denselben Normalbedingungen der Beobachtung würde eine erwachsene Person einem Basiswertsatz wie z.B. „dass diese Person vor dem Sterben bewahrt wird, ist gut“ systematisch nicht zustimmen, obwohl ihm angenommen 99 % aller Personen zustimmen. Dann wären wir nicht berechtigt anzunehmen, dass ein Defekt in den moralischen Normalbedingungen‘ dieser Person vorliegt, d.h., dass diese Person z.B. moralisch minderwertig sei und davon geheilt werden sollte, genauso wie ein Blinder von seiner Blindheit geheilt werden sollte. Vielmehr müssen wir die Haltung dieser Person als abweichende Werthaltung prima facie achten und – sofern dadurch die Interessen anderer Personen nicht geschädigt werden – auch zulassen. Bei den Eskimos ist es zum Beispiel üblich, eine Person, die so altersschwach geworden ist, dass sie sich nicht mehr selbst ernähren kann, nicht zu füttern, sondern sterben zu lassen, weil man darin das natürliche Anzeichen dafür sieht, dass ihr Geist die irdische Welt verlassen will: sollen wir deshalb die Ethik der Eskimos als ‚moralisch defektiv‘ erklären und von ihren Defekten zu ‚heilen‘ versuchen? Würden wir mit moralischen Basiswertsätzen genauso verfahren wie mit Beobachtungssätzen, so könnten wir in gefährliche Nähe zu mittelalterlich-religiösen Moralpraktiken geraten.

Ich will mit dieser These nicht leugnen, dass es tatsächlich Fälle von psychopathologischer Gewissensblindheit gibt, die einer psychologischen Heilung bedürfen: aber diese Fälle sind nicht der Regelfall. So dürfte eine extreme Behauptung wie „ich liebe es, andere Menschen zu töten“ bei jedermann die berechtigte Reaktion auslösen „dieser Mensch hat einen Defekt“ – aber diese Situation trifft nur auf die wenigsten abweichenden Wertbasissätze zu, wogegen die analoge Situation im Falle abweichender Wahrnehmungsurteile der Regelfall ist. Ganz in diesem Sinn beschreiben Prim und Tilman (1979, 93f.) ein Experiment zur Objektivität des Beobachtungssatzes „vor mir liegt ein Stück Kreide“, das sie an ihren Studenten durchführten: die Studenten reagierten äußerst unwillig und erklärten, ein Dissens in solchen Fragen sei ein Problem für den Augenarzt, und keines der Philosophie.

Das Unabhängigkeitsargument

Das Unabhängigkeitsargument geht auf Toulmin (1950, 127) zurück und besagt folgendes: die Art und Weise, wie wir unsere Wahrnehmungen emotiv-werthaft empfinden bzw. interpretieren, ist von unseren ethischen Hintergrundannahmen abhängig. Unsere Wahrnehmungseindrücke bleiben dagegen auch dann gleich, wenn sich unsere deskriptiven Hintergrundannahmen radikal verändern. Beispielsweise sehen wir tagtäglich die Sonne über das Himmelsgewölbe wandern. Nehmen wir an, bislang seien wir Geozentriker gewesen (die Sonne dreht sich um die ruhende Erde); doch nun werden wir, nach gründlicher Lektüre von Kepler und Newton, zu Heliozentrikern (die Erde dreht sich um die ruhende Sonne). Dann haben wir unsere Hintergrundtheorie radikal gewechselt – doch wie schon in Kap. 2.7.2 erläutert, wird unser Seherlebnis dadurch in keiner Weise beeinflusst: nach wie vor sehen wir die Sonne tagtäglich in einem Bogen über den Himmel wandern. Das Seherlebnis ist unabhängig von erworbenen Hintergrundannahmen.

Ganz anders im Falle werthaft-moralischer Empfindungen. Wenn ich einen Menschen sehe, der eine Menge Geld den Armen spendet, dann habe ich spontan die moralische Empfindung: dies war eine gute Tat. Wenn ich jedoch erfahre, dass es sich bei dem Spender um einen Politiker kurz vor seiner Wahl handelt, der diese Spende zum kalkulierten Zwecke der Gewinnung von Wählerstimmen investierte und sich ansonsten mehr um das Wohl der Reichen als um das der Armen kümmert, so stellt sich bei mir angesichts desselben Wahrnehmungserlebnisses eine ganz andere moralische Empfindung ein: nun ich empfinde den Politiker als heuchlerisch.

Das Normalbedingungs- und das Unabhängigkeitsargument bekräftigen unsere These, dass Wert- und Normurteile nicht auf Sinneserfahrungen beruhen, sondern subjektive Interpretationen sind, weswegen eine fundamentale Begründung von Wert- und Normsätzen nicht möglich ist.

Einführung in die Wissenschaftstheorie

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