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2.5 Die Frage der Wertneutralität und das
Abgrenzungsproblem

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Webers Wertfreiheitsforderung

2.5.1 Das Webersche Wertfreiheitspostulat. Die erste detaillierte Ausarbeitung der Wertfreiheitsforderung geht auf einen Hauptbegründer der Soziologie zurück, nämlich auf Max Weber (1864–1920). Weber war in eine Kontroverse mit Schmoller verwickelt, der die Auffassung propagierte, die Sozialwissenschaft solle sittliche Werturteile über die anzustrebende Gesellschaftsordnung erarbeiten. Gegen die Scheinobjektivität von solchen ‚Kathederwertungen‘, d.h. mit der Autorität des Wissenschaftlers verkündeten Werturteilen, trat Weber energisch auf: Objektivität könne in der Wissenschaft nur erreicht werden, wenn der Wissenschaftler sich auf deskriptive Tatsachenaussagen beschränke und diese von seinen Werteinstellungen klar trenne (Weber 1968, Kap. II und X; vgl. Stegmüller 1979b, 177–181).

Die Hauptgründe für diese Selbstbeschränkung der Wissenschaft auf deskriptive Urteile, die auch Max Weber anführt, lassen sich so zusammenfassen: Werte sind keine Eigenschaften, die den Gegenständen selbst innewohnen, sondern beruhen auf subjektiven Interpretationen durch uns Menschen. Ebenso sind Normen keine objektiven Tatsachen, sondern menschengemachte Forderungen, die gewissen Werten zur Realisierung verhelfen sollen. Es gibt bei der Frage der Überprüfung von Wert- und Normsätzen nichts, was einer empirischen Basis gemäß Annahme E4 und Methodenbausteinen M2 und M4 entspricht. Andererseits sind Wert- und Normsätze keineswegs bloß formale Behauptungen, die rein logisch begründbar wären. Daher gibt es im Bereich der Normen und Werte keine Objektivität im erfahrungswissenschaftlichen Sinne. Es liegt letztlich in der Freiheit des Menschen, sich zu gewissen Normen und Werten zu bekennen.

Positivismuskritik

Diese Begründung des Wertfreiheitspostulates ist prima facie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch plausibel. Jedermann weiß aus Erfahrung, dass die Herstellung eines Konsenses in Wertfragen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen viel schwieriger ist als die Herstellung eines Konsenses in Sachfragen. Kein strenger Islamist würde an der westlichen Naturwissenschaft Anstoß finden; das westliche Wertesystem erscheint ihm dagegen abwegig. Dennoch wurde die Wertfreiheitsforderung speziell ab den 1960er Jahren seitens neomarxistischer Richtungen wie die der kritischen Theorie massiv kritisiert, und unter dem Namen „Positivismusstreit“ (Adorno et al. 1969) oder „Werturteilsstreit“ (Albert/Topitsch 1971) flammte die Weber-Schmollersche Diskussion erneut auf. Die Vertreter der kritischen Theorie warfen der empirischen Sozialwissenschaft voralledem vor, eine rein deskriptiv bzw. ‚positivistisch‘ vorgehende Sozialwissenschaft würde den Status Quo der unterdrückerischen Gesellschaftsverhältnisse nur theoretisch reproduzieren und dadurch implizit sanktionieren, während es einer kritischen Wissenschaft um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gehen müsse (vgl. Dahms 1994, 17).

Dieser Vorwurf beruht auf einem fatalen Missverständnis: zur Erforschung des Deskriptiven gehört natürlich auch die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten, und damit die Erforschung des naturgesetzlich, technisch oder praktisch Möglichen und Unmöglichen. Daher ist es gerade auch die empirische Sozialwissenschaft, die aufzeigen kann, wie gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden können, und eben dadurch zu der von den Vertretern der kritischen Theorie geforderten Emanzipation beitragen kann. De fakto waren fast alle ‚Neopositivisten‘ des Wiener Kreises politisch fortschrittlich orientiert und sahen viele ihrer Arbeiten in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen (Dahms 1994, 125). Der Unterschied ist nur, dass die kritisch-empirische Sozialwissenschaft, so wie sie im ‚Positivismusstreit‘ von Popper und Albert gegenüber Horkheimer und Adorno verteidigt wurde, es mit dem Aufzeigen gesellschaftlicher Veränderungsmöglichkeiten belässt, und den werthaften Entschluss der demokratischen Meinungsbildung überlässt, anstatt auch noch diesen quasi-wissenschaftlich begründen zu wollen.

Werte in den Wissenschaften

Wenngleich also der Hauptvorwurf der kritischen Theorie ins Leere trifft, wurden in der Folgezeit auch berechtigte Einwände vorgetragen, die einer feineren Diskussion bedürfen. So wurde nicht nur von kritischen Theoretikern (z.B. Habermas 1968, 149f.; s. Dahms 1994, 375), sondern auch von jüngeren analytischen Philosophen eingemahnt, dass Wert- und Normfragen keinesfalls einem Irrationalismus überantwortet werden dürfen. In der Tat ist eine rationale Behandlung von Wertfragen sowohl möglich als auch gesellschaftlich überaus notwendig, und seit den 1970er Jahren hat sich die Disziplin der Analytischen Ethik rasch etabliert (z.B. Frankena 1994). Auch in dieser Hinsicht ist es ratsam, sich Max Weber zuzuwenden, der die Wertfreiheitsforderung angesichts solcher Einwände bereits subtil differenziert hatte. Erstens, so Weber, ist es dem Sozialwissenschaftler durchaus möglich, das faktische Vorliegen von Wert- und Normensystemen deskriptiv zu erforschen, ohne dabei selbst zu werten (Weber 1968, 500–502). Wer die Vielehe im Islam erforscht, muss weder ein Befürworter noch ein Gegner derselben sein. Die Behauptung, dass eine Person oder Gesellschaft an gewisse Werte glaubt, ist selbst keine wertende, sondern eine deskriptive Behauptung, zu deren Bestätigung lediglich empirische Daten benötigt werden. Zweitens, so ebenfalls Weber (1968, 510ff.), kann der Wissenschaftler qua Formalwissenschaftler logische Beziehungen zwischen Wert- und Normsätzen feststellen. Mittlerweile sind die hierfür relevanten Formaldisziplinen der deontischen Logik und der Entscheidungstheorie weit entwickelt (z.B. Aqvist 1984; Raiffa 1973). Drittens kann der Wissenschaftler mithilfe von Zweck-Mittel-Schlüssen aus vorgegebenen Normen und deskriptivem Wissen eine Reihe abgeleiteter Normen gewinnen und diese als Mittelempfehlungen an die Gesellschaft oder Politik weitergeben.

Zweck-Mittel-Schluss

2.5.2 Wertneutralität und Zweck-Mittel-Schlüsse. Die Auffindung geeigneter Mittel für gegebene Zwecke ist ein wichtiger Aufgabenbereich deskriptiver Wissenschaft und gehorcht folgender logischen Form:

(Def. 2.5–1) Das allgemeine Schema des Zweck-Mittel-Schlusses:

Deskriptive Zweck-Mittel-Hypothese: M ist unter den gegebenen Umständen U ein notwendiges – oder alternativ: ein optimales – Mittel für die Realisierung von Z.

Daher: Gegeben (fundamentale Norm:) Zweck Z soll realisiert werden, dann (abgeleitete Norm:) soll auch Mittel M realisiert werden.

Notwendige, hinreichende und optimale Mittel

Dieser Zweck-Mittel-Schluss wird in den meisten ethischen Theorien als analytisch gültig akzeptiert (s. Schurz 1997a, Kap. 11.4). Dabei wird im Zweck-Mittel-Schluss vorausgesetzt, dass es sich bei M entweder um ein notwendiges oder ein optimales Mittel für Z handelt. Ist M dagegen ein bloß hinreichendes Mittel M für einen Zweck Z, dann ist der Zweck-Mittel-Schluss nicht gültig, denn ein und derselbe Zweck Z besitzt im allgemeinen verschiedene hinreichende Realisierungsmittel, und bei vielen dieser hinreichenden Mittel überwiegt der Schaden ihrer Nebenfolgen den Nutzen der Zweckerreichung. Für den Zweck, frische Luft ins Zimmer zu lassen, ist beispielsweise auch das Aufbrechen der Wand ein hinreichendes Mittel; ein optimales Mittel hierfür ist dagegen das Öffnen eines Fensters, und ein notwendiges Mittel hierfür ist irgendeine Öffnung ins Freie.

Die fundamentale Norm übernimmt der Wissenschaftler z.B. vom Politiker oder von der Gesellschaft, und die mithilfe seines deskriptiven Wissens daraus abgeleitete Norm gibt er als Mittelempfehlung an die selbigen zurück. Dabei ist wesentlich, dass der Wissenschaftler seine Empfehlung explizit relativiert auf die jeweils vorausgesetzte fundamentale Norm. Illustrieren wir dies an einem Beispiel von Unterrichtstheorien aus der Erziehungswissenschaft (für das folgende vgl. Dubs 1982; Patry 1991). Angenommen, als anzustrebender Fundamentalwert sei kognitiver Lernerfolg (Beherrschung des Lernstoffs) vorgegeben. Aufgrund seiner Lerntheorie gelangt ein Unterrichtstheoretiker zu der deskriptiven Hypothese, dass kognitiver Lernerfolg genau dann maximiert wird, wenn zwischen 70 und 80 % der Unterrichtszeit lehrergesteuert (‚gelenkt‘) abläuft. Der Unterrichtstheoretiker gibt diese Konklusion als abgeleitete Wert- bzw. Normaussage an die Lehrer weiter. Er befindet sich allerdings nur dann im Einklang mit der Wertneutralitätsthese, wenn er seine Mittelempfehlung hypothetisch formuliert: wenn ihr maximalen kognitiven Lernerfolg wollt, dann solltet ihr zwischen 70 und 80 % der Unterrichtszeit lehrergesteuert unterrichten.

Emanzipatorische Funktion der Wertneutralität

Wird die Explizitmachung vorausgesetzter Werte unterlassen, dann kann dies ideologisch bedenkliche Folgen haben. Angenommen, in unserem Beispiel hätten die Lehrer andere Fundamentalzwecke als der Wissenschaftler; sie sehen soziales Lernen als gleichrangiges Unterrichtsziel neben kognitivem Lernerfolg an. Es sei nun deskriptiv erwiesen, eventuell sogar vom selben Wissenschaftler, dass für eine solche Zwecksetzung lediglich 60 % lehrergesteuerter Unterricht neben 40 % Eigen- und Gruppenaktivität die optimale Unterrichtsform sei. Angenommen aber, in unserem Beispiel gäbe unser Wissenschaftler seine Mittelkonklusion nicht hypothetisch sondern kategorisch weiter: 80 % des Schulunterrichts soll lehrergesteuert sein, und die Lehrer glauben ihm. Dann manipuliert der Wissenschaftler die Lehrer, denn er verschweigt, dass seine Mittelaussage nur unter seiner Wertannahme gilt, welche die Lehrer nicht teilen, und daher gemessen an ihren Zwecken vom Wissenschaftler schlecht beraten werden. Analoges gilt für viele andere Anwendungsfälle, von der Medizin (ein Arzt berät einen Patienten) über die geographische Raumplanung (Raumplaner beraten Politiker) bis hin zur Rechtswissenschaft (der Rechtsanwalt berät das vor der Scheidung stehende Ehepaar). In allen solchen Fällen ist es höchst bedeutsam, dass der wissenschaftliche ‚Experte‘ die in seinen Mittelempfehlungen vorausgesetzten Wertannahmen explizit macht, denn nur so kann der beratene ‚Kunde‘ herausfinden, ob dies auch wirklich seine eigenen Werte sind.

Wir weisen damit nachdrücklich darauf hin, dass die Wertneutralitätsforderung keine dogmatisch-szientistische, sondern eine kritisch-emanzipatorische Funktion besitzt. Dies steht in Gegensatz zu der einflussreichen Dreiteilung von wissenschaftsphilosophischen Paradigmen nach ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse, die auf Habermas zurückgeht. Dieser unterscheidet nämlich wie folgt (vgl. Habermas 1968, 155ff.; Konegen und Sondergeld 1985, 139, u.a.m.):

Erkenntnisparadigmen nach Habermas

1.) empirisch-analytisches Paradigma – technisch-instrumentelles Erkenntnisinteresse

2.) hermeneutisches Paradigma – praktisches Erkenntnisinteresse

3.) kritisch-dialektisches Paradigma – emanzipatorisches Erkenntnisinteresse.

Kritik der Positivismuskritik

Doch diese Zuordnung ist unrichtig. Wissenschaft in dem hier vertretenen, von Habermas vermutlich als empirisch-analytisch klassifiziertem Sinn, ist gar keinem bestimmten wissenschaftsexternen Erkenntnisinteresse zugeordnet, sondern dient unmittelbar nur dem wissenschaftsinternem Erkenntnisziel, der Suche nach möglichst allgemeinen und gehaltvollen Wahrheiten. Diese lassen sich ebenso gut für technische Zwecke wie für praktische Interpretationszwecke oder politische Reformzwecke auswerten. Dem empirischanalytischen Programm das Fehlen praktisch-emanzipatorischer Interessen zu unterstellen, ist schlichte Demagogie. Sich zur Wertneutralität zu bekennen, heißt für den Wissenschaftler eben nicht, auf werthaftes Engagement zu verzichten (vgl. Prim/Tilman 1979, 139), oder sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung nicht bewusst zu sein. Wesentlich dafür ist nur, dass der Wissenschaftler seine fundamentalen Wertannahmen explizit macht und seine Zweck-Mittel-Schlüsse hypothetisch relativiert. Es sind nicht unterschiedliche Erkenntnisinteressen, sondern es ist der unterschiedliche Umgang mit der Wertneutralitätsfrage, worin sich die drei Habermasschen Methodenparadigmen eigentlich unterscheiden (s. Schurz 1998a). Um eine klare Trennung von Deskription und Wertung sind (leider!) nur die Vertreter des empirisch-analytischen Methodenprogramms bemüht, wogegen in hermeneutischen Ansätzen beschreibende Aussagen und Wertungen oft bewusst nicht unterschieden werden (vgl. Hilgendorf 2000, 39ff.), und in kritisch-dialektischen Ansätzen gewisse emanzipatorische Normen in quasi-wissenschaftlicher Tarnung vorausgesetzt werden (vgl. Kriz et al. 1990, 151f.).

Die Schlussfolgerungen aus unseren bisherigen Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen. Die Forderung, Wissenschaft müsse gänzlich frei von Wertaussagen sein, ist sicherlich zu stark. Wert- und Normaussagen dürfen in dreierlei Form in den Wissenschaften auftreten, ohne den Geist des Weberschen Wertfreiheitspostulates zu verletzen: (1.) Wissenschaften können das empirische Vorliegen von Wertsystemen untersuchen; dann handelt es sich bei den diesbezüglichen Hypothesen nicht mehr um Wertoder Normsätze, sondern um deskriptive Sätze; (2.) Wissenschaften können logische Beziehungen zwischen Wert- und Normsätzen untersuchen, und (3.) sie können mithilfe von Zweck-Mittel-Schlüssen abgeleitete Werte relativ zu vorausgesetzten Fundamentalwerten empfehlen. Lediglich die Begründung von Fundamentalwerten liegt außerhalb des Bereichs deskriptiver Wissenschaft. Wir nennen diese These von nun an die Wertneutralitätsthese und kürzen sie mit (W) ab.

2.5.3 Das Abgrenzungsproblem. In der skizzierten Linie können wir nun alle Disziplinen analysieren und damit auch die Grenzen des Wissenschaftlichen bestimmen. Solange beispielsweise die Rechtswissenschaft empirisch vorliegende Rechtssysteme analysiert, oder logische und Zweck-Mittel-Beziehungen zwischen Normen feststellt, bleibt sie deskriptive Wissenschaft. Die logische Analyse von ethischen Werten und Normen betreibt nicht nur die juristische Dogmatik, sondern auch die analytische Ethik, insbesondere ihre Teildisziplin der sogenannten Metaethik, die sich ebenfalls zwanglos in das logisch-deskriptive Wissenschaftsprogramm einfügt. Literatur- und Kunstwissenschaften, die sich mit der ästhetischen Wirkung verschiedener Literatur- und Kunstgattungen befassen, fügen sich in den Rahmen empirisch-deskriptiver Wissenschaft ein, solange unter ästhetischer Wirkung eine faktische Wirkung auf den Menschen gemeint ist. Lediglich wenn absolute, nicht auf einem faktisch gegebenen Kunststil relativierte Aussagen über ästhetische Werte gemacht werden, wird der Rahmen deskriptiver Wissenschaften gesprengt. Dasselbe trifft auch auf die Richtungen der humanistischen Psychologie und Pädagogik zu, welche Werte wie Selbstentfaltung und Würde an die Stelle von objektiver Analyse setzen (Bühler und Allen 1982; Schiefeleetal. 1979). Religionswissenschaften, sofern sie faktisch vorliegende Religionssysteme historisch oder logisch rekonstruieren, gehören zum deskriptiven Wissenschaftsprogramm, während Theologien, die gewisse religiöse Annahmen, die das „Credo“ der Religion ausmachen, dogmatisch voraussetzen, in doppelter Weise die Grenzen der Wissenschaft verlassen: erstens dort, wo sie spekulative Annahmen über Wesen und Existenz Gottes voraussetzen, und zweitens dort, wo sie fundamentale Wertannahmen voraussetzen.

Abgrenzung von Wissenschaft

Zusammenfassend grenzen wir den Bereich der Wissenschaften wie folgt ein: Wissenschaften im hier verwendeten Sinn sind alle im weiten Sinne empirischen Disziplinen (gemäß E1–5, M1–4 und W) inklusive ihrer formalen Hilfswissenschaften und Zweck-Mittel-basierten Anwendungsdisziplinen.

Diese Charakterisierung von „Wissenschaft“ liefert uns eine Abgrenzung der Wissenschaften von nichtwissenschaftlichen Disziplinen bzw. geistigen Betätigungsfeldern. Sie fungiert damit als Vorschlag zur Lösung des Abgrenzungsproblems. Dabei verstehen wir dieses Abgrenzungsproblem in einem anderen Sinne, als es der logische Empirismus oder der kritische Rationalismus verstand. Erstens identifizieren wir das Nichtwissenschaftliche nicht mit dem kognitiv Sinnlosen (wiez.B. Carnap 1961). Diese Identifikation ist inakzeptabel, weil empirisch gehaltlose Sätze wie „Gott existiert“ oder fundamentale Normsätze wie „Helfe deinem Nächsten“ dennoch verstanden werden können, also eine kommunizierbare Bedeutung haben. Zweitens stehen wir solchen Sätzen keineswegs abwertend gegenüber; wir bezeichnen sie lediglich deshalb als nichtwissenschaftliche Sätze, weil ihnen jegliche Möglichkeit einer empirischen Überprüfung fehlt. Drittens sehen wir die praktische Bedeutung des Abgrenzungsproblems anders als Carnap. Mit der Lösung des Abgrenzungsproblems verfolgen wir kein Eliminationsanliegen, sondern ein Erklärungsanliegen. Die faktischen Unterschiede in der evolutionären Erfolgs- bzw. Wirkungsbilanz der empirische Wissenschaften im Vergleich zu Ethik, Religion oder Kunst sind derartig markant, dass sie geradezu nach einer Erklärung rufen. Wer die machtvolle Eigendynamik von Wissenschaft und Technik auch nur im Ansatz verstehen will, muss herausfinden, was es ist, das Wissenschaft von nichtwissenschaftlichen Ideensystemen derart stark unterscheidet. Kurzum: Wissenschaftstheorie, die praktische Bedeutung erlangen will, muss sich dem Abgrenzungsproblem stellen.

Einheitswissenschaft

Aus unserer Abgrenzung des Wissenschaftsbegriffs ergibt sich auch ein Beitrag zur Frage der Einheitswissenschaften. Die Versuche, das Programm der Einheitswissenschaft auf dem Weg einer empirischen oder ontologischen Reduktion von höheren Wissenschaften auf die Physik zu leisten (Oppenheim/Putnam 1958; Causey 1977), können als kaum aussichtsreich gelten. Die Einheitlichkeit der Wissenschaften, wenn es sie gibt, ist vielmehr im Aufweis von epistemisch-methodologischen Gemeinsamkeiten zu suchen. Unsere Ausführungen zeigen, dass die Idee der Einheitlichkeit von Wissenschaften in bescheidenerer, aber umso nachhaltigerer Version weiterlebt: mit den erkenntnistheoretischen Annahmen E1–5, den Methodenbausteinen M1–4 und der Wertneutralitätsthese W haben wir jene Eigenschaften zu formulieren versucht, die allen empirischen Disziplinen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten gemeinsam sind.

2.5.4 Präzisierung der Wertneutralitätsforderung. Um zur endgültigen Formulierung zu gelangen, bedarf es zwei weiterer Präzisierungsschritte.

Wissenschaftsinterne vs. - externe Werte

(1.) Eine Reihe von Autoren hat argumentiert, dass Wissenschaft schon deshalb nicht in einem absoluten Sinn wertfrei bzw. wertneutral sein kann, weil das Unternehmen „Wissenschaft“ ja selbst auf gewissen Werten bzw. Zielsetzungen beruht: den wissenschaftsinternen Werten (z.B. Schmidt 1971, 359ff.; Sober 2007, 110). Wir haben in Kap. 2.1 die Suche nach möglichst allgemeinen und gehaltvollen Wahrheiten als das übergeordnete Erkenntnisziel aller Wissenschaften angeführt. Dieser fundamentale wissenschaftsinterne Wert wird in wissenschaftlichen Begründungen implizit vorausgesetzt und kommt insofern in allen Wissenschaften vor. Die Wertneutralitätsthese muss daher auf fundamentale wissenschaftsexterne Wertannahmen eingeschränkt werden. Man beachte, dass diese Einschränkung nicht impliziert, dass auch unsere These von der erfahrungswissenschaftlichen Unbegründbarkeit fundamentaler Wertsätze auf wissenschaftsexterne Werte einzuschränken wäre. Auch der wissenschaftsinterne Grundwert ist nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar; er ist vielmehr per definitionem das oberste Ziel von Wissenschaft.

Drei Phasen des Forschungsprozesses

(2.) Genügt die Einschränkung auf fundamentale wissenschaftsinterne Wert- bzw. Normsätze für eine haltbare Fassung der Wertneutralitätsforderung? Nein – sofern man Wissenschaft nicht lediglich als Begründungsprozess, sondern als gesellschaftlichen Prozess im Auge hat. Denn obwohl Werte nicht wissenschaftlich begründbar sind, so fließen doch an unzähligen Stellen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses Wertungen notgedrungen mit ein, so dass wir zeigen müssen, in welcher Phase dieses Prozesses die Wertneutralitätsforderung relevant wird. Gehen wir aus von der üblichen Einteilung des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in drei Phasen, nämlich dem Entstehungszusammenhang(EZ), in dem die wissenschaftlich relevanten Probleme zuallererst konzipiert werden, dem Begründungszusammenhang (BZ), in dem Daten erhoben und Hypothesensysteme generiert und überprüft werden, sowie dem Verwertungszusammenhang (VZ), in dem gut gesicherte Erkenntnisse zu verschiedensten gesellschaftlichen Zwecken verwertet werden. In (EZ) wird unter anderem der Untersuchungsgegenstand festgelegt und nach Relevanzgesichtspunkten selektiert. Dieser Prozess ist auch von wissenschaftsexternen Werten abhängig: welches Problem wichtig ist, entscheiden unter anderem wirtschaftliche oder politische Auftragsinteressen, oder die subjektiven Interessen der Einzelforscher. In (VZ) kommen wissenschaftsexterne Werte massiv ins Spiel: ob physikalische Hypothesen zu friedlichen oder zu Kriegszwecken, ob psychologische Erkenntnisse zur gesteigerter Arbeitseffizienz oder zur Förderung der Familienbeziehung eingesetzt werden, hängt davon ab, wer sie verwendet bzw. verwenden darf, weil er sie finanziert hat. Was die Wertneutralitätsthese fordert, bezieht sich ausschließlich auf den Begründungszusammenhang: in (BZ) dürfen wissenschaftsexterne Werte keine Rolle spielen. Damit können wir die Wertneutralitätsthese abschließend wie folgt formulieren und schematisch darstellen:

(Ms. 2.5–1) Wertneutralitätsthese (bzw. -forderung): Ein bestimmter Bereich der Wissenschaften, nämlich ihr Begründungszusammenhang, soll frei sein von fundamentalen wissenschaftsexternen Wertannahmen


Abb. 2.5–1: Schematische Darstellung der Wertneutralitätsforderung

Legende: EZ – Entstehungszusammenhang, BZ – Begründungszusammenhang, VZ -Verwertungszusammenhang; IW – wissenschaftsinterne Werte, EW – wissenschaftsexterne Werte

Korrektiver Rückbezug des BZ auf den EZ

Eine wichtige Konsequenz dieses Schemas der Wertneutralität ist die korrektive Rückbezüglichkeit des Begründungszusammenhanges auf die Problemselektion im Entstehungszusammenhang. Die in (EZ) vorgenommene Selektion der untersuchten Parameter bzw. Merkmale ist nämlich keinesfalls erkenntnisneutral, sondern wirkt sich auf den Begründungszusammenhang aus, insofern sie das, was sich als Resultat der wissenschaftlichen Analyse ergeben kann, einschränkt. Es kann sich im Verlauf der wissenschaftlichen Forschung herausstellen, dass zur Erfassung der relevanten Ursachen die Berücksichtigung von Parametern nötig ist, von denen in (EZ) bereits abstrahiert wurde. Daher darf die in (EZ) vorgenommene Selektion nur vorläufig sein und muss einer späteren Kritik und Korrektur durch Erkenntnisse in (BZ) zugänglich sein, und zwar auch dann, wenn dies den externen Ausgangswerten, also den Ursprungszielen des Forschungsprojekts, zuwiderläuft. Andernfalls könnte man nicht von einer Unabhängigkeit des (BZ) von externen Wertentscheidungen sprechen. Wir illustrieren dies an einem Beispiel: die klassische Schulmedizin war lange Zeit rein biologisch-physiologisch orientiert; zu einem gewissen Teil ist sie dies auch noch heute. Eine solche Schulmedizin abstrahiert also bereits im Entstehungszusammenhang medizinischer Forschung von psychischen Parametern. Mittlerweile kennt man viele organische Krankheiten mit psychischen Ursachen, und die Bedeutung der psychosomatischen Interaktion ist nicht von der Hand zu weisen. Ideologische Kämpfe von Befürwortern und Gegnern psychosomatischer Medizin mögen entbrennen. Doch wissenschaftstheoretisch gesehen ist die Frage des psychosomatischen Zusammenhangs keine ideologische, sondern eine theoretische Frage: um sie überhaupt sachlich untersuchen zu können, muss die Einschränkung auf biologisch-physiologische Faktoren in medizinischen Modellen aufgegeben und der Bereich psychischer Phänomene miteingeschlossen werden. Mit anderen Worten, die ursprüngliche und extern motivierte Einschränkung im (EZ) muss aufgrund von im (BZ) gewonnenen Erkenntnissen aufgegeben werden.

Einführung in die Wissenschaftstheorie

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