Читать книгу Einführung in die Wissenschaftstheorie - Gerhard Schurz - Страница 9

1.2.5 Weitere Positionen in Kürze

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Interne versus externe Pragmatik

1.2.5.1 Pragmatische Wissenschaftstheorie. In den 1980er Jahren sprachen mehrere Autoren von einer pragmatischen Wende der Wissenschaftstheorie (Stegmüller 1983, Kap. XI). Leider aber zerfällt die pragmatische Philosophie und die Begriffsverwendung von „Pragmatik“ insgesamt in zwei entgegengesetzte Lager. Während das eine Lager (z.B. Ch. S. Peirce, Rescher 1998, van Fraassen 1980, Schurz 1983) Pragmatik im erkenntnisinternen Sinne versteht, fasst das andere Lager (z.B. W. James, Rorty 1982, Stich 1990, evtl. Putnam 1995) Pragmatik in einem erkenntnisexternen Sinn auf. Für das erkenntnisexterne Lager haben die pragmatischen Komponenten von Erkenntnis nichts mit ihrer Wahrheit zu tun. Für das erkenntnisinterne Lager sind es dagegen gerade diese pragmatischen Komponenten, welche den Begriff der Wahrheit in einem nicht-zirkulären Sinn etablieren sollen. Während das erkenntnisexterne Lager Erkenntnis in Abhängigkeit von beliebigen Interessen setzt und darin ein zwingendes Argument für die subjektive Relativität von Erkenntnis erblickt, liefert für das interne Lager der Bezug auf erkenntnisinterne Zwecke erst die Möglichkeit eines zirkelfreien Erkenntnisaufbaus. Die beiden Lager sind derart verschieden in ihrem Pragmatikverständnis, dass man sie nicht unter einen Begriff subsumieren sollte. Aus diesem Grund vermeide ich heutzutage, im Gegensatz zu früheren Arbeiten, die Bezeichnung „pragmatisch“.

Theorieabhängigkeit der Bedeutung und Referenz

1.2.5.2 Metaphysischer Realismus. Als Reaktion auf die Probleme des logischempiristischen Wissenschaftsmodells haben etliche Wissenschaftsphilosophen vorgeschlagen, wieder zu jenen metaphysischen Ansätzen des Realismus und der Notwendigkeit zurückzukehren, von denen sich die Wissenschaftstheorie des frühen 20. Jahrhunderts eigentlich befreien wollte. Beispielsweise ist es eine Konsequenz der postpositivistischen Wissenschaftstheorie, dass der Begriff „Masse“ in der Newtonschen und in der Einsteinschen Physik etwas verschiedenes bedeutet. Diese Theorieabhängigkeit war auch eine Hauptstütze für Kuhns Inkommensurabilitätsthese. Gegen diese Konsequenz hat der frühere Putnam (z.B. 1979, 27ff., 55f.), zusammen mit Kripke (1972, 55–59), folgende Argumentation entwickelt: Wissenschaftsfortschritt im Sinn einer realistischen Wahrheitsannäherung sei überhaupt nur möglich, wenn die Referenz wissenschaftlicher Begriffe, d.h. ihr Bezug zur Realität, starr fixiert sei, so dass diese Referenz in allen möglichen Theorien bzw. möglichen Welten mit metaphysischer Notwendigkeit immer dieselbe bleibt. Wie aber eine Reihe von Argumenten zeigt, reicht das erfahrungsbezogene Wissen oft nicht aus, um eine Fixierung der Referenz theoretischer Begriffe zu garantieren (vgl. Bird 1998, 108–120; Ladyman et al. 2007). Klassifikationssysteme für wissenschaftliche (z.B. chemische oder biologische) Arten sind vom wissenschaftlichen Hintergrundwissen abhängig. Die Vorstellung, eine notwendige Beziehung zwischen Sprache und Realität könne erfahrungsunabhängig etabliert werden, ist letztlich ein Rückfall in ein fundamentalistisches Erkenntnismodell. Der spätere Putnam (1977, 1990) hat übrigens seine frühere metaphysischrealistische Position wieder aufgegeben.

1.2.5.3 Strukturalistische Wissenschaftstheorie. In der Hoffnung, der Kuhnschen Herausforderung besser begegnen zu können, hat Stegmüller (1973a) vorgeschlagen, den bisherigen „statement view“ der Standardwis senschaftstheorie durch einen sogenannten „non statement view“ zu erset zen. Dahinter verbirgt sich die auf Suppes (1957, 246ff.) und Sneed (1971) zurückgehende Idee, wissenschaftliche Theorien besser als mengentheoreti sche Modellsysteme anstatt als Aussagensysteme einer formalen Sprache zu rekonstruieren. Solche Modellsysteme werden auch Strukturen genannt: daher die Bezeichnung „strukturalistische“ Wissenschaftstheorie. Während Stegmüller in (1973a, z.B. 119, 134) darin eine radikale Umwälzung erblickt, sieht er später im Übergang von logischen zu mengentheoretischen Formalisierungsmethoden nur mehr einen „pragmatisch-psychologischen Grund“ (1986, 25). Denn auch mengentheoretische Modelle werden durch Aussagen einer mengentheoretischen Sprache dargestellt, weshalb zwischen dem ‚statement view‘ und dem ‚non statement view‘ einfache Übersetzungsmöglichkeiten bestehen (s. French 2008; Schurz 2013b). In der Detailrekonstruktion einzelwissenschaftlicher Theorien hat die strukturalistische Wissenschaftstheorie eindrucksvolle Leistungen erbracht.

Kognitive Wende

1.2.5.4 Naturalismus und kognitive Wende. Für Quine wird naturalisierte Erkenntnistheorie zu einer empirischen Disziplin, die „wissenschaftlich untersucht, wie der Mensch zur Wissenschaft kommt“ (Quine 1976, 17). Von einer Reihe jüngerer Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker wurde das naturalistische Programm emphatisch aufgegriffen (vgl. Papineau 1993; Kornblith 1994). Eine erste Konkretisierung des Naturalismus ist die evolutionäre Erkenntnistheorie (z.B. Campbell 1984): eine Reihe von Aspekten unserer Erkenntnis konnten durch evolutionäre Betrachtungen aufgeklärt werden. Kritisch ist anzumerken, dass naturalistische Ansätze selbst gewisse begründungsbedürftige erkenntnistheoretische Voraussetzungen machen, z.B. bzgl. Realismus und Induktion, und daher die klassische Erkenntnistheorie nicht zur Gänze ersetzen können. Eine zweite Konkretisierung des Naturalismus ist die sogenannte kognitive Wende. Sie war Ausdruck davon, dass sich mittlerweile die Kognitionswissenschaften (Cognitive Sciences) als eigenes interdisziplinäres Fachgebiet herausgebildet hatten, in welchem die Grundlagen des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht nur logisch-philosophisch, sondern auch empirisch-psychologisch im Rahmen der Kognitionspsychologie (z.B. Anderson 2001), und algorithmisch-computermodelliert im Rahmen der Künstlichen Intelligenzforschung untersucht wurden (z.B. Thagard 1999). In der Folge begannen eine Reihe von Philosophen vermehrt, kognitionswissenschaftliche Fragestellungen und Ansätze in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie einzubringen.

1.2.5.5 Radikaler Konstruktivismus. Der ‚radikale‘ Konstruktivismus wurde von Entwicklungspsychologen wie Glasersfeld (1985) und Biologen wie Maturana und Varela (1984) entwickelt. Seine zentrale Argumentation besteht darin, vom Konstruktcharakter unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen von der Wirklichkeit darauf zu schließen, dass es keine erkennbare Wirklichkeit gibt, die an sich gegeben wäre. In Kap. 2.7.1 wird zu zeigen versucht, dass diese Argumentation auf einem Fehlschluss beruht.

Philosophie der Geisteswissenschaften

1.2.5.6 Hermeneutik und Kritische Theorie: Die im 19. Jahrhundert entstandene Philosophie der Geisteswissenschaften geht auf Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Wilhelm Dilthey (1833–1911) und Wilhelm Windelband (1848–1915) zurück. Sie entstand als methodische Abgrenzungsbewegung der Geisteswissenschaften gegenüber den expandierenden Naturwissenschaften. Im Zentrum dieser Philosophie steht der Versuch, die Hermeneutik als Lehre des zwischenmenschlichen Verstehens für den Zweck einer solchen methodischen Abgrenzung heranzuziehen. Der Methodendualismus der Philosophen der Geisteswissenschaften wurde zu folgender These zugespitzt: in den Naturwissenschaften erklären wir, in den Geisteswissenschaften verstehen wir.

Methodendualismus

Während naturwissenschaftliche Erklärungen auf allgemeinen Gesetzeshypothesen beruhen, würde geisteswissenschaftliches Verstehen ohne Rekurs auf Gesetzeshypothesen vor sich gehen, denn Geistig-Seelisches unterliegt keinen strengen Gesetzesmechanismen, und Verstehen hat direkten Zugang zum menschlichen Geist.

Die Hermeneutik hat eine weit vor Schleiermacher zurückreichende Tradition, in der von einer rigiden Abgrenzung zu Logik und Naturwissenschaft nicht die Rede ist (s. Scholz 2001, Teil I.B). Der Methodendualismus des 19. Jahrhunderts hat auch die Methodendebatte im 20. Jahrhundert stark beeinflusst (vgl. Apel 1979 versus Haussmann 1991). Die human- und sozialwissenschaftliche Kontroverse über quantitative versus qualitative Methoden ist teilweise eine Wiederauflage dieses alten Methodenstreites (vgl. Lamnek 1988). Seitens der analytischen Wissenschaftstheorie wurden demgegenüber eine Reihe von Ansätzen entwickelt, in denen die Einheit von Hermeneutik und erfahrungswissenschaftlicher Methode herausgearbeitet wird (Bühler 2003; sowie Kap. 6.4). Die von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas entwickelte kritische Theorie kombiniert die methodendualistische Variante der Hermeneutik mit ihrer Lehre von der unvermeidlichen Interessensgebundenheit aller Erkenntnis (z.B. Habermas 1968, Apel 1979). Diese Lehre befindet sich im Widerspruch zur Forderung der Wertneutralität von Wissenschaft, die in Kap. 2.5 behandelt wird.

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