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2.6 Wissenschaftliches Schließen und Argumentieren
ОглавлениеIn den Methodenbausteinen M3 und M4 finden wissenschaftliche Prozesse des Argumentierens und Schließens statt. Dabei hat man es mit sehr unterschiedlichen Schlussprozessen zu tun, die in diesem Kapitel näher erläutert werden.
Deduktives vs. induktives Schließen
2.6.1 Deduktion und Induktion. Wenn wir gemäß M3 von einer strikt-allgemeinen Gesetzeshypothese zusammen mit Beobachtungssätzen auf weitere Beobachtungssätze schließen, so handelt es sich um einen logisch-deduktiven Schluss. Schließen wir dagegen gemäß M4 aus der Tatsache, dass viele aktuale Beobachtungssätze bisher eine Gesetzeshypothese bestätigt haben, auf die vermutliche Wahrheit der Hypothese, so handelt es sich um einen induktiven Schluss, genauer gesagt, um einen induktiven Generalisierungsschluss. Beispiele:
(2.6–1) | |
Deduktiver Schluss (Logik i.e.S.): | Induktiver Generalisierungsschluss: |
Alle Fische sind Kiemenatmer.Dieses Tier ist ein Fisch. | Alle bisher beobachteten Fische(Nr. 1, 2, …, n) waren Kiemenatmer. |
Also ist dieses Tier ein Kiemenatmer. | Also sind (wahrscheinlich) alle Fische Kiemenatmer. |
Sicher: Wahrheitsübertragung in allen möglichen Welten. | Unsicher: Wahrheitsübertragung nur in genügend uniformen‘ möglichen |
Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass nur deduktive Schlüsse die Wahrheit mit Sicherheit, also in allen möglichen ‚Welten‘, von den Prämissen auf die Konklusion übertragen: wenn die Prämissen (die Sätze oberhalb des Trennungsstriches) wahr sind, dann ist auch die Konklusion (der Satz unterhalb des Trennstriches) mit Sicherheit wahr. Deduktive Schlüsse bilden den Gegenstand der Logik im engeren Sinne. (Manche Autoren stellen der deduktiven Logik eine induktive Logik gegenüber, z.B. Carnap 1950b, § 43ff.; diese Terminologie ist jedoch umstritten.)
Induktive Generalisierungsschlüsse sind hingegen grundsätzlich unsicher – der Doppelstrich in (2.6–1) zeigt diese Unsicherheit an. Denn die Prämissen eines induktiven Generalisierungsschlusses sprechen nur über die bisher beobachteten Anwendungsfälle, während die Konklusion eine unbeschränkte Generalisierung auf alle und insbesondere alle zukünftigen Anwendungsfälle vornimmt. Man sagt daher auch, induktive Schlüsse sind gehaltserweiternd. Nur in solchen Umständen bzw. Welten, die hinreichend regelhaft sind, deren Zukunft der Vergangenheit hinreichend ähnlich ist, kann man verlässlich aus der Wahrheit der Prämissen auf die Wahrheit einer induktiven Konklusion schließen. Nichts kann logisch garantieren, dass der zukünftige Weltverlauf dem bisherigen Weltverlauf gleichen wird. Schon morgen könnten mittlerweile ausgestorbene kiemenlose Fische entdeckt werden, oder durch eine Mutation kiemenlose Fische entstehen.
Humes Induktionsproblem
Dies war (in groben Zügen) das Hauptargument von David Hume, der als erster Philosoph gezeigt hat, dass eine Begründung des induktiven Schließens mit den Mitteln der deduktiven Logik unmöglich ist. Hume hat aber, noch weitergehend, die rationale Begründbarkeit von Induktion insgesamt bezweifelt (s. Hume 1748, 4. Abschn./2. Teil, 6. Abschn.). Induktion lässt sich, zweitens, auch nicht durch Beobachtung rechtfertigen, denn in induktiven Schlüssen schließt man ja auf das, was man noch nicht beobachtet hat. Und drittens lässt sich induktives Schließen auch nicht durch Induktion rechtfertigen, denn dies würde geradewegs in einen Zirkelschluss führen: wenn man induktives Schließen für verlässlich hält, weil es sich bisher bewährt hat, so setzt man dabei voraus, was sich bisher bewährt hat, wird sich – per Induktionsschluss – auch in Zukunft bewähren. In einem solchen Zirkelschluss setzt man genau das voraus, was man zeigen will, und zeigt dadurch gar nichts. Alle drei traditionellen wissenschaftlichen Begründungsmethoden – Logik, Erfahrung und Induktion – scheinen also für die Induktion zu versagen. Hume hat auch als erster gezeigt, dass eine wahrscheinlichkeitstheoretische Umformulierung des Induktionsproblems nicht weiterhilft. Wenn man argumentiert, dass induktive Schlüsse nicht immer, aber zumindest meistens bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit von wahren Prämissen zu wahren Konklusionen führen, so setzt man ein probabilistisches Induktionsprinzip voraus, demzufolge sich die bisher beobachteten Ereignishäufigkeiten auf die Zukunft bzw. auf die nichtbeobachteten Fälle übertragen lassen, was nur dann der Fall ist, wenn unsere Wirklichkeit hinreichend uniform ist. Das waren die Gründe, die Hume zu der zutiefst skeptischen These führten, induktives Schließen sei keiner rationalen Begründung fähig, sondern beruhe lediglich auf psychologischer Gewohnheit.
Eine befriedigende Lösung des Humeschen Induktionsproblems zu finden wäre von größter Wichtigkeit. Und dennoch blieb dieses Problem bis heute weitgehend ungelöst. Eine Reihe von Lösungsversuchen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, wurden in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zwar diskutiert, doch sie fanden keine allgemeine Akzeptanz (s. Stegmüller 1971; Swinburne 1974; Rescher 1987; Howson 2000; Ladyman 2002, Kap. 1). Der überwiegenden Meinung gegenwärtiger Philosophen, das Induktionsproblem sei theoretisch unlösbar, schließe ich mich allerdings nicht an. Eine aussichtsreiche Rechtfertigung der Induktion, die von den bisher genannten Argumenten nicht getroffen wird, liegt m.E. in der auf Reichenbach zurückgehenden entscheidungstheoretischen Rechtfertigungsidee von Induktion als bester Erkenntnisalternative (Reichenbach 1949, §91). Dieser Idee zufolge sind Induktionen das Beste, was wir tun können, wenn wir unser Erkenntnisziel, wahre Allaussagen und speziell Voraussagen über die Zukunft zu gewinnen, überhaupt erreichen wollen. Wir können zwar nicht beweisen, dass wir damit immer oder auch nur häufig Erfolg haben; aber wenn wir überhaupt verlässliche Aussagen über die Zukunft gewinnen wollen, so ist Induktion der einzige oder zumindest der beste Weg dazu. Auch gegen Reichenbachs Idee gibt es schwerwiegende Einwände (s. Skyrms 1989, 82–84); es gibt aber auch begründete Hoffnungen, die mit diesem Ansatz verbundenen Probleme spieltheoretisch lösen zu können (s. Schurz 2008b).
Abb. 2.6–1: Das induktivdeduktive Schema
Das induktivdeduktive Schema
Bisher haben wir Induktion und Deduktion im Sinne des sogenannten induktiv-deduktiven Schemas erläutert. Diesem Schema zufolge, welches sich bereits bei Aristoteles findet, ist Induktion eine Methode, um vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen, und Deduktion eine Methode, um von Allgemeinen zurück auf das Besondere zu schließen (s. Abb. 2.6–1). Obwohl dieses Schema einige wichtige methodische Merkmale der Wissenschaften einfängt, so ist es doch in mehreren Hinsichten übervereinfacht bzw. inkorrekt. Die binäre Einteilung von Schlussarten, auf der es beruht, ist nämlich zu eng – es gibt weitaus mehr Schlussarten, die wir hier kurz auflisten. Was das Allgemeine betrifft, so müssen wir dabei zwischen strikten Allsätzen und statistischen Generalisierungen unterscheiden.
Deduktive und induktive Schlussarten
1. Deduktive Schlusstypen:
1.1 Vom Allgemeinen auf das Besondere – z.B.: Alle F sind G, dies ist ein F, daher: dies ist ein G.
1.2 Vom Allgemeinen auf das Allgemeine – z.B. Alle F sind G, Alle G sind H, daher: Alle F sind H.
1.3 Vom Besonderen auf das Besondere – z.B. dies ist F oder G, dies ist nicht F, daher: dies ist G.
Dagegen gibt es keine deduktiven Schlüsse vom Besonderen auf das (essentiell) Allgemeine.
2. Induktive Schlusstypen (s. auch Carnap 1950b, 207f.):
2.1 Vom Besonderen auf das Allgemeine:
2.1.1 Der strikt-induktive Generalisierungsschluss: Alle bisher beobachteten Fs waren Gs, also sind (wahrscheinlich) alle Fs Gs.
2.1.2 Der statistisch-induktive Generalisierungsschluss: r% aller bisher beobachteten Fs waren Gs, also sind (wahrscheinlich) zirka r% aller Fs Gs.
2.2 Vom Besonderen auf das Besondere – der induktive Voraussageschluss: Alle bisher beobachteten Fs waren Gs, also ist wahrscheinlich auch das nächste Fein G.
2.3 Vom Allgemeinen auf das Besondere – der induktiv-statistische Spezialisierungsschluss: r% aller Fs sind Gs, dies ist ein F, also wird dies mit r% Glaubenswahrscheinlichkeit ein G sein.
Drei Arten der Induktion
2.6.2 Popper und die Bedeutung induktiven Schließens in den Wissenschaften. Der Begründer des kritischen Rationalismus, Karl Popper, hat die These vertreten, dass das Induktionsproblem einerseits unlösbar sei, dass aber andererseits die Methode der Erfahrungswissenschaft gänzlich ohne induktive Schlüsse auskommt (1935/76, Kap. I). Im folgenden wollen wir aufgrund einer Unterscheidung von drei Arten von Induktion aufzeigen, dass Poppers Argumente wichtige Einsichten zutage fördern, dass aber seine radikale Behauptung, Erfahrungswissenschaft käme ohne Induktion aus, unhaltbar ist (s. auch Schurz 1998b, 2002a).
Poppers erste Induktionskritik
(1.) Die methodische Induktion. Diese Auffassung von Induktion knüpft direkt an das in Kap. 2.6.1 erläuterte induktiv-deduktive Schema an. Ihr zufolge ist Induktion eine Methode, um von einzelnen Beobachtungen durch deren induktive Generalisierung auf allgemeine Gesetze und Theorien zu schließen. Popper kritisiert an der methodischen Induktion die darin involvierte Ansicht, dass Induktion die zentrale Methode der Gewinnung von Gesetzeshypothesen und Theorien sei. Der Glaube, dass eine solche Entdeckungsmethode in der Wissenschaft überhaupt benötigt werde, beruht, so Popper, auf einer Verwechslung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang (1935/76, Kap. I.1–I.2). Wie wissenschaftliche Hypothesen gewonnen werden, ob durch Induktion, Intuition oder durch trial & error, ist für den Begründungszusammenhang von Wissenschaft gänzlich belanglos. Methodische Induktion sei somit für den Begründungszusammenhang von Wissenschaft entbehrlich.
Bringen wir uns dagegen Kap. 2.1 in Erinnerung: es muss nicht sein, aber es kann sein, dass bestimmte Methoden der Hypothesengewinnung zugleich ein gewisses Maß an Begründung mitliefern. Dies trifft z.B. auf den in Kap. 2.6.1 erläuterten strikt-induktiven und statistisch-induktiven Generalisierungsschluss zu: dieser Schluss ist eine Methode, eine empirische Gesetzeshypothese zu entdecken, welche diese zugleich induktiv begründet, d.h. vorläufig bestätigt. Raffiniertere induktive Entdeckungsalgorithmen finden sich in Langley et al. (1987) (s. Kap. 4.2.2). Hypothesengenerierungsverfahren, welche zugleich eine Begründung mitliefern, sind kognitiv natürlich wesentlich effizienter als blinde trial & error-Verfahren.
In zwei wichtigen Punkten ist Poppers Kritik an der methodischen Induktion jedoch im Recht. (1.) Hypothesen müssen nicht durch methodische Induktion gewonnen werden – alle Hypothesengewinnungsmethoden sind erlaubt und verdienen kritische Überprüfung. (2.) Zwar gibt es induktive Generierungsmethoden für empirische Gesetzeshypothesen. Für die Konstruktion von wissenschaftlichen Theorien gibt es solche induktiven Generierungsmethoden im allgemeinen nicht mehr. Schon sehr einfache Theorien – wie z.B. das Galileische Fallgesetz, welches die Idealisierung des reibungsfreien Falls unterstellt – sind nicht mehr allein durch induktive Verallgemeinerungsprozeduren aus der Beobachtung gewinnbar, denn sie enthalten Begriffe, die über das Beobachtbare hinausgehen – sogenannte theoretische Begriffe, wie z.B. „reibungslose Bewegung“, „Masse“ oder „Kraft“. Poppers Kritik an der Gewinnbarkeit wissenschaftlicher Theorien durch methodische Induktion (s. 1983, 118) ist daher weitgehend berechtigt.
Carnaps induktive Wahrscheinlichkeit
(2.) Die logische Induktion. Die logische Induktionsauffassung, die auf Carnap (1950b) zurückgeht, versteht Induktion nicht als eine Methode der Entdeckung, sondern der Begründung von wissenschaftlichen Hypothesen, nämlich als Methode der Feststellung des Bestätigungsgrades von Theorien aufgrund gegebener Beobachtungsdaten. Dies soll durch Errichtung eines Systems der induktiven Wahrscheinlichkeit geschehen, worin die induktive Wahrscheinlichkeit einer Theorie T bei gegebenen Beobachtungsdaten B auf rationale Weise bestimmt werden kann (zu Weiterführungen dieses Ansatzes s. z.B. Carnap/Jeffrey 1971; Hintikka/Suppes 1966, Hg.). Statt dem induktiven Bestätigungsgrad kann man auch alternativ den Grad der Wahrheitsnähe einer Theorie T bei gegebenen Beobachtungsdaten B als zentrales Bewertungsmaß ansehen (dazu Kap. 5.6.2).
Poppers zweite Induktionskritik
Poppers Kritik an der logischen Induktionsauffassung besagt nun folgendes: wir können zwar feststellen, dass relativ zu gegebenen Beobachtungen eine Theorie T1 besser bestätigt bzw. bewährt ist als eine andere Theorie T2, oder dass T1 wahrheitsnäher ist als T2, doch wir können keinen Absolutbetrag für die Wahrscheinlichkeit bzw. Wahrheitsnähe von T1 bzw. T2 angeben, denn schon morgen kann eine neue Theorie T3 entwickelt werden, die sowohl T1 wie T2 weit in den Schatten stellt (z.B. Popper 1983, 19f., 23). Poppers Argument stellt eine wesentliche Einsicht in die Grenzen der logischen Induktionsauffassung dar. Denn um die induktive Wahrscheinlichkeit oder die Wahrheitsnähe einer Theorie T bei gegebenen Beobachtungsdaten B als numerischen Wert zu bestimmen, muss man unter anderem über eine vollständige Liste aller betrachteten Alternativtheorien {T1, …, Tn} verfügen. Eine nicht-willkürliche Aufstellung einer solchen Liste ist aber zumindest im Fall von Theorien unmöglich. Zu einer gegebenen Theorie T gibt es immer unnennbar viele mögliche Alternativtheorien, da diese beliebige neue theoretische Begriffe enthalten können. Es gibt keinen begrenzten sprachlichen Möglichkeitsraum, der alle möglichen Alternativtheorien enthält (s. auch Howson 2000, 46).
Erneut liegt die Sachlage im Falle empirischer Hypothesensysteme anders. Hier ist es möglich, eine endliche Liste aller möglichen Alternativhypothesen in einem begrenzten Beobachtungsvokabular aufzustellen. Betrachten wir z.B. die Menge aller Intervallhypothesen der Form Hn = „zwischen n und n+1 % aller Menschen sind braunäugig“, mit 0 ≤ n ≤ 99, und nehmen wir eine Gleichverteilung der Ausgangswahrscheinlichkeiten an, so lässt sich die induktive Wahrscheinlichkeit von Hn, gegeben eine Stichprobe von m Menschen, darunter k (≤ m) braunäugigen, aufgrund der Kolmogorovschen Wahrscheinlichkeitsaxiome und dem principal principle berechnen (s. Kap. 4.5.2). Zusammengefasst stellt Poppers Kritik der logischen Induktion für empirische Gesetzeshypothesen eine Übertreibung dar; sie trifft jedoch auf den Fall wissenschaftlicher Theorien unumwunden zu.
Aufgrund Poppers Kritik an der logischen Induktion können wir konkurrierende Theorien in Hinblick auf ihren Bewährungs- bzw. Schwächungsgrad bei gegebener Datenlage lediglich komparativ (d.h. vergleichend) bewerten. Haben wir einen solchen empirischen Erfolgsvergleich der derzeit vorhandenen Alternativtheorien durchgeführt, so stützen wir unsere zukünftigen Prognosen und Handlungen auf jene Theorie(n), die bisher am erfolgreichsten waren, m. a. W. auf die, welche sich bisher am besten bewährt haben. Dies wird selbstverständlich auch von Popper so gesehen (1983, 65; 1974, 34). Daraus folgt, dass auch im Kern von Poppers ‚deduktivistischem‘ Bewährungsprogramm ein fundamentaler Induktionsschritt enthalten ist – eine dritte Art von Induktion, die ich mit Musgrave (2002) als die epistemische Induktion bezeichne:
Unverzichtbarkeit der epistemischen Induktion
(3.) Die epistemische Induktion besagt folgendes: Wenn eine Theorie T1 bisher (explanativ und prognostisch) erfolgreicher war als T2, so ist es relativ zum gegebenen Beobachtungsstand wahrscheinlich, dass T1 auch in Zukunft erfolgreicher sein wird als T2. Die bisher ermittelten Erfolgspräferenzen zwischen gegebenen Theorien werden also induktiv in die Zukunft projiziert. Das Induktionsprinzip heißt „epistemisch“, weil dabei nicht Objekthypothesen, sondern epistemische Metahypothesen über den Bewährungsgrad unserer Hypothesen induktiv projiziert werden (vgl. Kuipers‘ rule of success, 2000, Kap. 6.1.3). Das epistemische Induktionsprinzip ist in der Tat für alle empirischen Wissenschaftsdisziplinen unverzichtbar. Würde dieses Prinzip nicht angenommen werden, so wäre die Poppersche Methode der Bewährungsproben ohne jegliche Pointe. Bisheriger Erfolg wäre dann einfach irrelevant für unser zukünftiges Handeln. Obwohl beispielsweise die Auffassung, dass schwere Körper auf der Erde zu Boden fallen und nicht frei schweben, sich bisher besser bewährt hat als die gegenteilige Auffassung, so wäre dies kein Grund, diese Auffassung auch zur Grundlage unseres zukünftigen Handelns zu machen, da logisch gesehen schon ab morgen alle Körper frei zu schweben beginnen könnten. Leider hat Popper zeitlebens, in überbetonter Abgrenzung zum logischen Empirismus, jegliche Art der Induktion verurteilt. Doch seine diesbezüglichen Argumente in (1983, z.B. 66f.) scheinen mir eher auf sprachliche Wortwendungen als auf sachliche Gründe hinauszulaufen (s. Schurz 1998b). Auch kritische Rationalisten wie Watkins (1984, 340f.) und Musgrave (2002) haben das epistemische Induktionsprinzip anerkannt.
Komparative Theorienbewertung
Epistemische Induktion, so halten wir fest, ist immer nur komparativ. Eine wichtige Konsequenz davon ist folgende: gemäß der epistemischen Induktion ist der Bewährungsgrad einer Theorie grundsätzlich doppelt relativ, und zwar
– relativ zum gegebenen Stand des Beobachtungswissens, sowie
– relativ zum derzeitigen Stand der Alternativtheorien.
2.6.3 Abduktion und Schluss auf die beste Erklärung. Mit induktiven Generalisierungsschlüssen lässt sich zwar von Einzelbeobachtungen auf empirische Gesetzeshypothesen schließen, nicht aber von empirischen Gesetzeshypothesen auf wissenschaftliche Theorien. Denn mit induktiven Schlüssen ist es nicht möglich, neue theoretische Begriffe in die Konklusion einzuführen, welche in den Prämissen nicht enthalten sind. Es gibt jedoch eine weitere – allerdings kontroverse – Schlussart, mit der dies möglich ist, und zwar die Abduktion bzw. der Schluss auf die beste Erklärung. Grob geschlossen schließt man hier von einer beobachteten Wirkung auf eine vermutete Ursache, z.B. von einer sich dahinschlängelnden Spur im Sand auf eine Sandviper, die hier vorbeikroch.
An dieser Stelle muss vor einem terminologischen Missverständnis gewarnt werden. Einige Autoren fassen den Begriff der Induktion in einem weiten Sinn auf – sie identifizieren induktive Schlüsse mit jeglicher Art gehaltserweiternder bzw. nicht-deduktiver Schlüsse, rechnen also auch die abduktiven Schlüsse zu den induktiven hinzu (z.B. Earman 1992; Bird 1998, 13). Ich verstehe hier Induktion immer im oben angeführten Humeschen Sinne, und sehe Abduktion als eine zweite nicht-deduktive bzw. gehaltserweiternde Schlussart an.
Abduktion nach Peirce
Die Schlussart der Abduktion geht auf C. S. Peirce zurück. In (1878) explizierte Peirce den abduktiven Schluss formal als Retrodiktionsschluss von „Alle Fs sind Gs“ und „dies ist ein G“ auf „dies ist ein F“. Diese Charakterisierung von Abduktion dominiert zwar die computerwissenschaftliche Literatur zur Abduktion (s. Flach/Kakas 2000); sie ist aber viel zu eng, um das zu erfassen, was Peirce als Wissenschaftstheoretiker mit Abduktion bezweckte. Für Peirce ist es wesentlich, dass durch abduktives Schließen in den Wissenschaften neue theoretische Modelle eingeführt werden können (1903, § 170). z.B. schloss Newton aus der Bewegung der Planeten um die Sonne abduktiv auf die Existenz einer Gravitationskraft. Auch der erkenntnistheoretische Schluss von innersubjektiven Wahrnehmungserlebnissen auf Realbeobachtungen ist ein abduktiver Schluss: die Annahme, dass meine Seherlebnisse durch von mir unabhängig existierende Objekte bewirkt werden, ist die beste Erklärung für die immer wiederkehrenden Regelmäßigkeiten in meinen visuellen Erlebnissen (s. z.B. Moser 1989, 91f.). Wie in Schurz (2008a) gezeigt wird, umfasst Abduktion eine ganze Familie von Schlussarten, die folgendes Schema gemeinsam haben.
(2.6–2)
Allgemeines Schema der Abduktion (s. auch Peirce 1903, § 189; Niiniluoto 1999):
Prämisse 1: Ein erklärungsbedürftiges (singuläres oder generelles) Faktum E.
‚Prämisse‘ 2: Ein Hintergrundwissen W, das für eine gewisse Hypothese(nmenge) H impliziert: H ist eine potentielle Erklärung für E (d.h., ist H wahr, so erklärt H E).
Abduktive Vermutung: H ist wahr.
Harmans SBE
Wie Peirce selbst betont hat, ist der Geltungsstatus einer abduktiv erschlossenen Hypothese ein ganz vorläufiger: die abduzierte Hypothese muss im weiteren Verlauf durch Deduktion und Induktion empirisch getestet werden, um den Charakter einer wahrscheinlichen Hypothese anzunehmen (1903, §171). Zudem gibt es im gegebenem Hintergrundwissen immer mehrere mögliche Hypothesen, H1, … Hn, welche die gegebene Evidenz E potentiell erklären; und die abduktive Vermutung wählt jene Hypothese aus, die am plausibelsten erscheint. In diesem Sinne hat Harman (1965) das Peircesche Abduktionskonzept in den folgenden Schluss auf die beste bzw. best-verfügbare Erklärung (SBE) transformiert:
(2.6–3) (Schluss auf die beste Erklärung – SBE): Schließe abduktiv auf die plausibelste Erklärungshypothese unter allen möglichen bzw. im Hintergrundwissen verfügbaren Erklärungshypothesen für E.
Kuipers’ Korrektur von Harmans SBE
Gemäß dem Verständnis von Harman (1965) und anderen SBE-Vertretern (z.B. Lipton 1991, Bartelborth 1996) wird in einem SBE-Schluss vom empirischen Erfolg einer Theorie auf ihre vermutliche Wahrheit im realistischen Sinn zu geschlossen. Kuipers (2000, Kap. 7.5.3) bringt dagegen denselben Einwand ins Spiel, den Popper gegen die logische Induktion vorbrachte: de fakto können wir immer nur zu komparativen Urteilen gelangen, denen zufolge eine Theorie vermutlich wahrheitsnäher ist als alle uns bekannten Alternativtheorien. Kuipers schlägt daher vor, das Schema der Abduktion bzw. des SBE in folgender Weise zu modifizieren: erstens spricht er, statt vom „Schluss auf die beste Erklärung“, vom „Schluss auf die beste Theorie“, und zweitens wird in Kuipers‘ Vorschlag von der Prämisse, dass eine Theorie die empirisch adäquateste unter allen bekannten Alternativtheorien ist, nicht darauf geschlossen, dass T vermutlich wahr ist, sondern nur darauf, dass T unter allen bekannten Alternativtheorien die wahrheitsnächste Theorie ist. Das Zusammenwirken des epistemischen Induktionsschlusses und des abduktiven Schlusses auf die beste Theorie ist in Abb. 2.6–2 dargestellt.
Abb. 2.6–2: Zusammenwirken von epistemischer Induktion und Abduktion
Realismus und Instrumentalismus
In Abb. 2.6–2 wird auch erkenntlich, wie diese beiden Schlussarten mit den wissenschaftstheoretischen Positionen des Instrumentalismus und des Realismus zusammenhängen. Wissenschaftstheoretische Instrumentalisten wie z.B. van Fraassen akzeptieren den Schluss von (1) auf (2), lehnen aber den abduktiven Schluss von (2) auf (3) ab, denn ihnen zufolge können Theorien nur mehr oder weniger empirisch adäquat, aber nicht im realistischen Sinne wahr oder falsch sein (van Fraassen 1980, 11f.; 1989, 142f.). Wissenschaftstheoretische Realisten glauben dagegen an die vermutliche Wahrheit bzw. Wahrheitsnähe von gut bestätigten Theorien; für sie ist gerade der Schluss von (2) auf (3) wesentlich.
2.6.4 Monotone und nichtmonotone Schlüsse. Mit der Unsicherheit von nicht-deduktiven (induktiven oder abduktiven) Schlüssen verbindet sich ihre Eigenschaft der Nichtmonotonie. Im Gegensatz dazu sind deduktive Schlüssen monoton. Genauer gesagt ist die Monotonie eines Schlusses folgende Eigenschaft:
(Def. 2.6–1) Monotonie: Ein gültiger Schluss von Prämissen P1, …, Pn auf die Konklusion K heißt monoton g. d.w. (genau dann, wenn) er auch nach Hinzufügung beliebiger weiterer Prämissen gültig bleibt.
(Ms. 2.6–1) Alle deduktiven Schlüsse sind monoton, d.h., sie erfüllen die Monotonieregel:
P1,…, Pn/K ist gültig ⇒ für beliebige Q: Q, P1,…, Pn/K ist gültig.
Unsichere Schlüsse sind nichtmonoton
Unsichere Schlüsse besitzen diese Monotonieeigenschaft nicht. Die logische Untersuchung nichtmonotonen Schließens ist seit den 1980er Jahren ein bedeutendes Gebiet geworden (vgl. Gabbay et al. 1994; Schurz 2001b). Wir schränken den Begriff der Gültigkeit auf deduktive Schlüsse ein (einfacher Schlussstrich „/“) und sprechen im Fall von unsicheren Schlüssen stattdessen von ihrer (nicht-deduktiven) Korrektheit (doppelter Schlussstrich „//“). Die Korrektheit von induktiven oder abduktiven Schlüssen kann verloren gehen, wenn den Prämissen weitere Informationen hinzugefügt werden, welche implizieren, dass die als wahrscheinlich vermutete Konklusion in diesem Fall nicht eintrat. Man nennt solche Informationen auch Ausnahmeinformationen.
(Ms. 2.6–2) Nichtmonotonie macht folgendes möglich: P1, …, Pn//K ist korrekt; jedoch: es gibt Q, so dass: Q, P1, …, Pn//K ist inkorrekt.
Wahrscheinlichkeitstheoretischer Grund der Nichtmonotonie
Ein nichtmonotoner Schluss hat also immer nur vorläufige Geltung und kann durch neue Information zunichte gemacht werden. Es mag eingewendet werden, dass dies auch bei deduktiven Schlüssen möglich ist, nämlich dann, wenn neue Information uns dazu bringt, nicht mehr an die Wahrheit der bisherigen Prämissen zu glauben. Dies ist richtig, doch im Gegensatz dazu kann in nichtmonotonen Schlüssen neue Information den Schluss auch dann zunichte machen, wenn sie die Wahrheit der alten Prämissen gar nicht tangiert. z.B. können wir aus allen bisher beobachteten weißen Schwänen induktiv-generalisierend und vorläufig schließen, dass vermutlich alle Schwäne weiß sind. Aber schon die nächste Beobachtung kann uns einen schwarzen Schwan liefern, und die Hinzufügung dieser Information zu unseren Beobachtungsprämissen macht den Induktionschluss zunichte, denn der neue schwarze Schwan falsifiziert unsere bisherige Konklusion, ohne dass dadurch unsere bisherigen Beobachtungen über weiße Schwäne falsch werden würden. Der wahrscheinlichkeitstheoretische Grund der Nichtmonotonie ist folgender: aus der Tatsache, dass die bedingte Wahrscheinlichkeit von A unter der Annahme (‚Prämisse‘) B hoch ist, folgt nicht immer, dass auch die Wahrscheinlichkeit von A unter der Annahme von B und einer weiteren Annahme C hoch ist.
Die Vorläufigkeit nichtmonotoner Schlüsse drückt sich darin aus, dass sie eine andere epistemische Anwendungsregel besitzen als monotone Schlüsse. Dabei verstehen wir unter dem epistemischen Hintergrundsystem (bzw. Hintergrundwissen) W einer Person bzw. Personengruppe die Menge aller Propositionen, die diese in begründeter Weise als wahr akzeptiert.
(Ms. 2.6–3) Anwendungsregel monotoner Schlüsse: Ist der Schluss „P1, …, Pn/K“ deduktiv gültig, dann sollst du K deinem Wissenssystem W hinzufügen, solange es die Prämissen enthält.
(Ms. 2.6–4) Anwendungsregel nicht-monotoner Schlüsse: Ist der Schluss „P1, …, Pn//K“ nicht-monoton korrekt, dann sollst du K deinem Wissenssystem W hinzufügen, solange es die Prämissen enthält, und diese Prämissen alle Propositionen in W umfassen, die für die Konklusion K von Relevanz sind.
Für induktive Voraussage- und Generalisierungsschlüsse entspricht (Ms. 2.6–4) Reichenbachs Regel der ‚engsten Referenzklasse‘ und Carnaps Forderung des empirischen Gesamtdatums‘ (s. Kap. 3.9, 6.3.2).