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2.7.2 Zur Theorie(un)abhängigkeit von Beobachtungen

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Theorieabhängigkeit und Rechtfertigungs zirkel

Ein zentraler Stützpfeiler gegenwärtiger erkenntnisrelativistischer Strömungen (s. Kap. 1.2.2.3) ist die These, dass es theoriefreie Erfahrung schlechterdings nicht gibt – jede Beobachtung setze schon in irgendeiner‘ Form Theorie voraus. Gegenwärtig wird diese Theorieabhängigkeitsthese von der Mehrheit von Wissenschaftstheoretikern gewissermaßen ‚halbherzig‘ akzeptiert (s. z.B. Chalmers 1994, 20–31). Eine vollständige Theorieabhängigkeit von Beobachtung müsste aus empirischer Wissenschaft aber ein zirkuläres Unternehmen machen, dem jede Aussicht auf Objektivität fehlt (ebenso Nagel 1979, 79). Denn angenommen, zwei Vertreter der rivalisierenden Theorien T1 und T2 beobachten dasselbe Raumzeitgebiet g. Ihre Theorien implizieren für g jeweils die sich widersprechenden Prognosen P1 und P2. Wäre vollständige Theorieabhängigkeit gegeben, dann wären die Beobachtungen der Theorievertreter nur durch ihre theoretischen Vorerwartungen bestimmt. Der Vertreter von T1 würde also P1 beobachten, wo der Vertreter von T2 P2 beobachtet. Somit wäre jede Prognose eine selbsterfüllende Prognose. Eine unabhängige Überprüfung von Theorien wäre unmöglich; vielmehr entstünde ein totaler Rechtfertigungszirkel: die Anhänger der Theorie T glauben an ihre Theorie, weil sie deren Prognosen beobachtet haben, und dies deshalb, weil sie an die Theorie glauben. Totale Rechtfertigungszirkel sind epistemisch wertlos. Partielle Zirkel, in denen unabhängige Daten eingespeist werden, können dagegen durchaus epistemischen Wert besitzen.

Im folgenden seien einige zentralen Argumente für verschiedene Arten von Theorieabhängigkeit sowie die zugehörigen Gegenargumente in Form von ‚Antworten‘ knapp skizziert. Es soll sich zeigen, wie sich eine bestimmte Art von Theorieunabhängigkeit von Beobachtungen im engen Sinne von Wahrnehmungen gegen diese Argumente verteidigen lässt.

1.) Erfahrung ist theoriegeleitet: Eine Selektion der Erfahrung hinsichtlich relevanter Aspekte und Merkmale ist in jeder Forschung unerlässlich, schon aus Komplexitätsgründen. Diese Selektion ist theoriegeleitet: welche Theorie ich vertrete, bestimmt, nach welchen Beobachtungen ich suche (s. z.B. Chalmers 1994, 37f.; van Fraassen 1980, 56ff.; Albert 1980, 52f.). Antwort: Dies ist richtig. Doch die Tatsache, dass Beobachtungen theorieabhängig selektiert werden, impliziert nicht, dass die Beobachtungen selbst theorieabhängig sind, und dass eine intersubjektive Überprüfung der beobachtungsselektierenden Theorien unmöglich wäre. Auch Vertreter der jeweils anderen Theorie T2 können die von Vertretern der Theorie T1 gemachten Beobachtung selbst anstellen, und würden dann deren Richtigkeit anerkennen.

Wahrnehmungstäuschungen

2.) Wahrnehmung ist ein (unbewusster) Konstruktions- und Interpretationsprozess: Die visuellen Gehirnzentren erzeugen durch raffinierte neuronale Konstruktionsmechanismen aus den zweidimensionalen Netzhauteindrücken des Lichtesein dreidimensionales bewusst erlebtes Sehbild. In gewissen meist künstlich erzeugten Situationen führen diese unbewussten visuellen Konstruktionsprozesse zu visuellen Ambiguitäten oder Täuschungen, wie dies durch kognitionspsychologische Befunde eindrucksvoll belegt wird. Bekannt sind z.B. Kippbilder, wie das Jastrowsche Bild des Entenhasen, ein Bild, das je nachdem als Ente oder Hase gesehen wird, und welches von Wittgenstein (1945, Teil II.x, 520), Hanson (1958, 12) und Kuhn (1967, 152ff.) als Beleg der ‚Theorieabhängigkeit‘ der Wahrnehmung verwendet wird. Über eine Fülle weiterer solcher optischer ‚Illusionen‘ informiert Rock (1984).

Wahrnehmung unabhängig von erworbenem Wissen

Antwort: Die kognitionspsychologischen Befunde zum Konstruktionscharakter des Sehprozesses widerlegen nur den sogenannten direkten Realismus (Dancy 1985, 144), demzufolge wir die Dinge so sehen, wie sie an sich sind. In allen kognitionspsychologischen Befunden zeigt sich aber ein Weiteres: unsere visuellen Wahrnehmungsprozesse und ihr Resultat sind in geradezu hartnäckiger Weise unabhängig von unserem erworbenen Hintergrundwissen (s. hierzu Fodor 1984, 34ff.; Pylyshyn 1999; Rock 1984, 228f.). Wahrnehmungstäuschungen stellen sich für jedermann in derselben Weise ein, auch dann, wenn die betreffende Person darüber aufgeklärt wurde, dass es sich um eine Wahrnehmungstäuschung handelt. Unsere Wahrnehmungsprozesse beruhen auf angeborenen Mechanismen, die sich in einer millionenjährigen Evolutionsgeschichte herausgebildet und bewährt haben. Die Wahrnehmungspsychologie vermag insbesondere zu erklären, warum dieselben Mechanismen, die unter normalen Umgebungsbedingungen die Realität visuell korrekt abbilden, unter gewissen nicht-normalen Bedingungen optische Illusionen erzeugen können. Man könnte unter der ‚Theorieabhängigkeit‘ der Wahrnehmung höchstens die Tatsache verstehen, dass Wahrnehmung von ‚angeborenen Theorien‘ abhängt, die in der Sehrinde unseres Gehirns fest verdrahtet sind – aber so wollen wir den Begriff nicht verstehen. Mit Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung meinen wir immer nur: Abhängigkeit der Wahrnehmung von erworbenem Hintergrundwissen. Visuelle Wahrnehmung in diesem Sinn ist – zumindest in hohem Maße bzw. bis auf wenige Ausnahmen – theorieunabhängig: Personen mit unterschiedlichstem Hintergrundwissen machen angesichts desselben (deutlich ausgeprägten) visuellen Reizes dieselben Wahrnehmungen.

Hanson (1958, 5–8) und Kuhn haben die erläuterten wahrnehmungspsychologischen Befunde zumindest stellenweise so interpretiert, als ob unser Sehbild von erworbenen Hintergrundtheorien abhängt. So sagt Kuhn, es fand eine Verschiebung des Sehbildes statt, als man den Uranus vor 1781 als Fixstern ohne Bewegung sah, jedoch ab 1781 als einen sich bewegenden Planeten (1967, 151). In solchen Fällen handelt es sich nach Kuhn um einen paradigmatischen Gestaltwechsel, vergleichbar mit einem Kippbild (1967, 164). Aufgrund obiger Ausführungen ist diese Interpretation zurückzuweisen. In Fällen wie diesen hat sich nicht die Sehwahrnehmung der Wissenschaftler geändert. Schon gar nicht handelte es sich um ein Kippbild im wahrnehmungspsychologischen Sinn. Was sich geändert hat, war lediglich die theoretische Interpretation ihrer Wahrnehmung.

Beobachtungsdaten im ‚weiten Sinn‘

3.) Wissenschaftliche ‚Beobachtungsdaten‘ (in einem weiteren Sinn) sind theorieabhängig: In der Wissenschaft ist ein weiterer Beobachtungsbegriff üblich, demzufolge man auch Galaxien, Bakterien oder Elektronen mit entsprechenden Messinstrumenten beobachten kann. Eine Reihe von Autoren, darunter auch Kuhn in vielen Passagen, beziehen ihre Theorieabhängigkeitsthese auf diesen Beobachtungsbegriff im weiteren Sinn (Putnam 1962, 244; Kuipers 2000, § 13.3; Giere 1999, 80; Adam 2002, 12f.; u.a.m.). Antwort: Solche Beobachtungsdaten im weiteren Sinn sind theorieabhängige Interpretationen von Wahrnehmungen. Bei den hierbei vorausgesetzten Theorien handelt es sich in erster Linie um Theorien über die Funktionsweise von Messinstrumenten, die zum als unproblematisch betrachteten Vorwissen des Wissenschaftlers gerechnet werden. Der pragmatisch erweiterte Beobachtungsbegriff im weiteren Sinne ist für das effiziente Vorwärtskommen der Wissenschaft zweifellos sehr bedeutend – denn man kann nicht immer alles gleichzeitig überprüfen. Unter Beobachtung im engen Sinn verstehen wir im folgenden aber immer nur (visuelle) Wahrnehmung, und wir behaupten die Theorieunabhängigkeit nur für diesen engen Begriff. Wenn der Chemiker von der Beobachtung von Säure aufgrund des Lackmuspapiertests spricht, dann war das, was er im engen Sinn beobachtete, der rote Farbton des Lackmuspapiers; der Schluss auf die chemische Säure war das Resultat einer theoretischen Interpretation. Selbst im Falle sprachlicher Daten der Humanwissenschaften liegt die primäre Wahrnehmung auf der Ebene sprachlicher Laut- und Textgestalten. Deren konventionell-semantische Interpretation erfolgt innerhalb der eigenen Muttersprache spontan und unbewusst – dass es sich dabei aber um einen Interpretationsprozess und nicht um ‚Wahrnehmung‘ handelt, wird jedem klar, der dabei ist, eine fremde Sprache zu lernen.

Kontinuitätsargument

4.) Das Kontinuitätsargument: Maxwell (1962, 7), Carnap (1976, 253–254) und Hempel (1974, 112–119) wiesen darauf hin, es gäbe einen kontinuierlichen Übergang von Beobachtbarkeit mit dem freien Auge über Zwischenstufen wie Beobachtbarkeit mittels einer Brille oder Lupe, bis hin zu Beobachtbarkeit mit dem Teleskop, dem Lichtmikroskop, dem Radarschirm oder dem Elektronenmikroskop. Eine Reihe von Autoren schlossen daraus, jede Grenzziehung zwischen perzeptueller Beobachtung im engen Sinn und theorieabhängiger Beobachtung im weiten Sinn sei willkürlich. Antwort: Erstens impliziert die Tatsache, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen zwei Merkmalen wie z.B. Schwarz und Weiß gibt, noch keineswegs, dass es keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß gibt (van Fraassen 1980, 214). Und zweitens gibt es in diesem Übergang markante Schnitte. Während Beobachtung im engen Sinn nämlich kein erworbenes Hintergrundwissen bedarf, steigt das erforderliche Hintergrundwissen zur Bedienung der oben genannten Messinstrumente sukzessive an (man stelle sich hierzu jeweils vor, was ein Eingeborener mit diesen Instrumenten ohne Instruktion anstellen würde).

Sprach- und Kulturabhängigkeit

5.) Beobachtung ist sprach- und kulturabhängig: Die These von der Sprachabhängigkeit von Erfahrung wurde voralledem durch den Philosophen Wilhelm von Humboldt und durch die kulturethnologischen Forschungen von Sapir und Whorf populär gemacht (s. Kutschera 1975, Kap. 4.1). Beispielsweise verfügen viele Eingeborenenstämme über andere und weniger differenzierte Farbbegriffe als Angehörige der westlichen Zivilisation, woraus die Kulturethnologen schlossen, dass diese Eingeborenen die Farben ihrer Umwelt tatsächlich anders wahrnehmen als wir. Umgekehrt besitzen die Eskimos Berichten zufolge viel mehr Begriffe für Schneesorten als wir, usw. (s. Whorf 1963, 15; Kutschera 1975, 300ff.). Whorf leitete daraus sein linguistisches Relativitätsprinzip ab, demzufolge wir nur das wahrnehmen können, was in unserer Sprache durch Begriffe vorgezeichnet wird.

Antwort: Man muss zugestehen, dass unterschiedliche Kulturen bis zu einem gewissen Grade unterschiedliche Begriffssysteme entwickeln, in denen sie die Wahrnehmungen ihrer unterschiedlichen Umwelten beschreiben. Daraus folgt aber nicht, dass ihre Sinneserfahrungen selbst sprachabhängig sind. Dies ließe sich nur dann folgern, wenn Angehörige dieser Kulturen auch nicht in der Lage wären, die jeweiligen Beobachtungsbegriffe anderer Kulturen durch ostensives Training zu erlernen. Diese Lernfähigkeit ist jedoch durchgängig vorhanden. In diesem Sinne können auch die Zuni-Indianerden Begriff „orange“, über den sie nicht verfügen, nach kurzem Training erlernen; die Tiv und die Dani konnten auf diese Weise unzählige Farben erlernen, für die sie in ihrer Muttersprache über keine Begriffe verfügen (Garnham/Oakhill 1994, 49–51; Berlin/Kay 1999, 24). Ebenso könnte ein Europäer die Schneebegriffe der Eskimos ostensiv erwerben. Wesentlich an einem ostensiven Lernexperiment ist, dass es nonverbal funktioniert. Denn ansonsten könnte der Sprachrelativist argumentieren, der Zuni-Indianer hätte die Farbe „orange“ erst durch den Erwerb der westlichen Farbsprache zu sehen gelernt. Quine (1960, Kap. II.7–II.8) hat ostensive Lernexperimente als Methode der Übersetzung zwischen radikal fremden Kulturen vorgeschlagen.

Ostensives Lernen

Beobachtungsbegriffe als ostensiv erlernbare Begriffe: Ein ostensives Lernexperiment besteht aus einer Trainingsphase und einer Testphase. In der Trainingsphase wird der auf Beobachtbarkeit zu überprüfende Begriff durch ein der Versuchsperson (Vp) unbekanntes Kunstwort „X“ vorgestellt, sodass die Vp vor dem Lernexperiment mit dem Kunstwort aufgrund ihres Hintergrundwissens keine Bedeutung verbindet. Der durch das Kunstwort bezeichnete Begriff wird der Vp anhand einer Menge von positiven und negativen Beispielen illustriert, und es wird jeweils die Information „X ja“ bzw. „X nein“ gegeben. Der zu leistende ostensive Lernprozess der Vp besteht darin, anhand der vorgelegten Beispiele die Bedeutung von „X“, also das „X“ entsprechende wahrnehmbare Eigenschaftsbündel, herauszuabstrahieren. Ob dies der Vp gelungen ist, wird in der anschließenden Testphase ermittelt, in welcher der Vp eine Reihe neuer positiver und negativer Beispiele vorgeführt werden, und gefragt wird „ist dies ein X?“. Wenn nun ein Begriff von beliebigen Menschen unabhängig von ihrer Sprache und ihrem Hintergrundwissen problemlos ostensiv erlernbar ist, dann ist dies ein nahezu zwingender Grund, diesen Begriff als theorieunabhängig anzusehen. Würde ein Zuni-Indianer das Farbmerkmal „orange“ gar nicht wahrnehmen, weil er den Begriff dazu nicht besitzt, so würde er auch nicht den Unterschied zwischen den orangen, roten und gelben Bildern in der Trainingsphase wahrnehmen, und es wäre unerklärlich, wie er dann die Testphase erfolgreich bestehen könnte. Tatsächlich aber scheinen Wahrnehmungsbegriffe die Eigenschaft zu besitzen, von beliebigen Menschen unabhängig von ihrem Hintergrundwissen rein ostensiv erlernbar zu sein. Für theoretische Begriffe trifft diese ostensive Erlernbarkeit nicht zu – es wäre chancenlos, einem Eingeborenen z.B. den physikalischen Kraftbegriff rein ostensiv, ohne jahrelange Ausbildung in fremder Sprache und Naturwissenschaft, beibringen zu wollen.

Unverlässlichkeit der Introspektion

Herkömmlich wird ein Beobachtungsbegriff als ein Begriff charakterisiert, dessen Zutreffen auf einen beobachtbaren Gegenstand durch bloße Wahrnehmung festgestellt werden kann (z.B. Carnap 1936/37, 454f.). Um diese Charakterisierung zu überprüfen, müssen wir uns auf die Introspektion von Personen verlassen – es ist aber bekannt, dass viele Menschen in ihren vermeintlichen Beobachtungen Wahrnehmung und theoretische Interpretation unterschiedslos vermengen. Obige Überlegungen liefern uns jedoch eine Möglichkeit, Beobachtungsbegriffe im engen Sinne in einer empirisch transparenten Weise wie folgt zu explizieren.

(Def 2.7–1): Ein Begriff ist ein Beobachtungsbegriff (im engen Sinn) g.d.w. er von allen Menschen unter Normalbedingungen der Beobachtung unabhängig von ihrem Hintergrundwissen und ihrer Sprach- und Kulturzugehörigkeit in einem ostensiven Lernexperiment erlernbar ist.

Normalbedingungen der Beobachtung

Die Normalbedingungen der Beobachtung umfassen dabei (i) die für die Wahrnehmung erforderlichen physikalischen Normalbedingungen (geeignete Lichtverhältnisse, usw.), (ii) biologische Normalbedingungen (die Person hat keinen empirisch feststellbaren Defekt der Sinnesorgane oder des Nervensystems), und (iii) psychologische Normalbedingung (die Person ist im psychisch normalen Wachzustand, und ihre ja/nein-Äußerungen sind wahrhaftig). Sprachliche Normalbedingungen (die Person versteht die zur Formulierung benutzen Worte richtig) werden nicht benötigt, da im ostensiven Lernexperiment ja die Sprache umgangen wird.

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