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2.4 Wissenschaftliche Disziplinen und
ihre Klassifikation

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In diesem Kapitel wollen wir untersuchen, inwieweit unsere erkenntnistheoretischen Annahmen E1–5 und die methodologischen Merkmale M1–4 auf die existierenden Wissenschaftsdisziplinen zutreffen. Zu diesem Zweck gehen wir von folgender gegenstandsbezogenen Einteilung von wissenschaftlichen Disziplinen aus, der wir keine ‚entgültige‘, sondern nur heuristische Bedeutung zumessen. Manche Disziplinen sind Mischdisziplinen und unter „auch:“ angeführt. Nicht alle Disziplinen können angeführt werden – weitere Spezialdisziplinen wären nachzutragen:

Einteilung von Wissenschaftsdisziplinen

(2.4–1) Wissenschaftliche Disziplinen, klassifiziert nach ihrem Gegenstandsgebiet:

Wissenschaften …

1) von der Natur: Physik, Chemie, Biologie, Geologie, Medizin (Astronomie, Kosmologie, Geographie, Paläontologie, auch: biologische Evolutionsgeschichte)

2) von der Technik: Maschinenbau, Elektrotechnik, …, auch: Computerwissenschaft

3) vom Menschen: Psychologie (auch: Pädagogik, Medizin, Kognitionswissenschaft)

4) von der Gesellschaft: Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft (auch: Anthropologie, Ethnologie, Geographie)

5) von der Geschichte (der Menschheit): Geschichtswissenschaft (auch: Anthropologie, Ethnologie, Philosophie als Geistesgeschichte)

6) von den kulturellen (geistigen, sozialen) Schaffensprodukten des Menschen: Rechtswissenschaften, Sprachwissenschaften, Literaturwissenschaft, Kunst- und Musikwissenschaft, Medienwissenschaften (auch: Pädagogik, Religionswissenschaft)

7) von formalen Strukturen (Formalwissenschaften): Mathematik (Logik, Statistik, theoretische Informatik, Systemtheorie …), formale Methodologie und Wissenschaftstheorie

8) von den allgemeinen Grundlagen der geistigen Welterfassung: Philosophie (Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und theoretische Philosophie; Ethik, Ästhetik und praktische Philosophie)

9) von Gott: Theologie (auch: Religionswissenschaft)

Probleme der Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen

Unsere Klassifikation hat den Vorteil, von den werthaften Färbungen, mit denen Schlagwortkategorien wie Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften oder Realwissenschaften (usw.) behaftet sind, unabhängig zu sein. Versucht man, diese Schlagwortkategorien auf unsere gegenstandsorientierte Klassifikation aufzustülpen, so zeigt sich, dass über die Zuordnungen nicht immer Konsens besteht, und dass die verschiedenen Zuordnungsmöglichkeiten teilweise mehr wissenschaftspolitisch als wissenschaftstheoretisch motiviert sind. Beispielsweise bildet die Disziplinengruppe 1 den Kern der Naturwissenschaften. Aber auch die Mathematik rechnet sich zu den Naturwissenschaften, obwohl sie wissenschaftstheoretisch zum Typ der Formalwissenschaften gehört. In jüngerer Zeit rechnet sich auch die Psychologie überwiegend den Naturwissenschaften zu, obwohl sie ebenso den Human- und Sozialwissenschaften zugerechnet werden könnte. Die Disziplinengruppen 5 und 6 bilden den Kernbestand der Geisteswissenschaften. Die Philosophie (8) steht dagegen den Naturwissenschaften ebenso nahe wie den Geisteswissenschaften. Von der Intention fungiert der Begriff der Human- und Sozialwissenschaften als ein im Vergleich zum Begriff der Geisteswissenschaften modernisierter Abgrenzungsbegriff zu den Naturwissenschaften. Ob die sogenannten Human- und Sozialwissenschaften nur die Disziplinengruppen 3 und 4, oder auch 5 und 6 mitumfassen, ist terminologisch nicht festgelegt. Im Begriff der Realwissenschaften (bzw. Substanzwissenschaften) werden alle Disziplinen zusammengefasst, die einen realen Gegenstandsbereich haben; also alle Disziplingruppen außer den Formalwissenschaften. Die Theologie kann nur dann zu den Realwissenschaften gerechnet werden, wenn man die Realität Gottes annimmt; da diese Realität wissenschaftlich unbegründbar ist, ist diese Zurechnung fragwürdig.

Der Sonderstatus der Formalwissenschaften

Zunächst wollen wir den besonderen Status von Disziplinengruppe 7, also von Mathematik und Formalwissenschaften erläutern. In ihrer Gesamtheit machen Annahmen E1–5 und Merkmale M1–4 nur für die empirischen Realwissenschaften Sinn. Mathematik und Formalwissenschaften besitzen keinen konkreten, empirisch zugänglichen Gegenstandsbereich, sondern beschäftigen sich mit formalen und abstrakten Strukturen. Die Mathematik besitzt also keine empirische Basis, und deshalb treffen auf sie die Annahme E4 und die methodologischen Merkmale M2 und M4, welche eine empirischen Basis voraussetzen, nicht zu. Das heißt nicht, dass die Mathematik eine spekulative Disziplin wäre, die ohne eine empirische Basis Aussagen über die Realität macht: die reine Mathematik macht gar keine Aussagen über die (empirisch zugängliche) Realität. Sie entwickelt lediglich formale Strukturmodelle, charakterisiert sie durch abstrakte und möglichst allgemeine Axiome und Definitionen, und leitet daraus logische Konsequenzen ab.

Es wäre beispielsweise sinnlos zu sagen, das Axiomensystem der reellen Zahlen oder das der euklidischen Geometrie sei an sich ‚wahr‘ oder ‚falsch‘. Solche Behauptungen lassen sich nur machen, wenn mathematische Begriffe empirisch interpretiert werden, wenn z.B. den reellen Zahlen reale Orte oder Zeitpunkte, und den mathematischen Vektoren reale Längen zugeordnet werden. Dann ist aber die Geometrie nicht länger eine mathematische Theorie, sondern sie wird zu einer physikalischen Theorie. Einstein hat dies einmal so formuliert (vgl. Carnap 1973, 77): „Insofern sich die Lehrsätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher; und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ Man kann also sagen: gerade weil sie die Frage der empirischen Interpretation ihrer Modelle ausklammert, ist die Mathematik die strengste aller Wissenschaften. Freilich will die Mathematik sich in erster Linie mit solchen Strukturmodellen beschäftigen, von denen man weiß oder glaubt, dass sie sich auf gewisse Bereiche der Realität anwenden lassen. In dieser Hinsicht können mathematische Disziplinen mehr oder weniger fruchtbar sein für die Realwissenschaften, doch sie sind niemals im realwissenschaftlichen Sinn wahr oder falsch.

Die Annahmen E2, E3, E5 und das Methodenmerkmal M1 treffen auch auf die Mathematik uneingeschränkt zu (die Fallibilitätsannahme E2 insofern, als auch mathematische Beweise nicht irrtumssicher sind). Annahme E1 des minimalen Realismus trifft nur indirekt zu, insofern mathematische Strukturen den Zweck haben, in Realwissenschaften angewandt zu werden. Der Methodenbaustein M3 insofern trifft zu, als Mathematiker an der Herleitung verschiedenster Theoreme interessiert sind, welche wichtige Eigenschaften ihrer Modelle ausdrücken.

Philosophie der Mathematik

Es sei nicht unerwähnt, dass es in der Philosophie der Mathematik über die Natur mathematischer Gegenstände gegensätzliche Auffassungen gibt (s. z.B. Hart 1996, Hg.; Shapiro 2000). Gemäß der am meisten verbreiteten Auffassung sind mathematische Objekte konstruierte, konzeptuelle und abstrakte Objekte. Realobjekte wie z.B. fünf rote Rosen können mathematische Objekte wie z.B. die Zahl 5 exemplifizieren, aber sie können niemals mit ihnen identisch sein. Diese Auffassung des konzeptuellen Strukturalismus wurde von der Mathematikergruppe Bourbaki (1961) und Philosophen der Mathematik wie Field (1980) detailliert ausgearbeitet. Der gegensätzliche Standpunkt in der Philosophie der Mathematik ist der mathematische Realismus, der annimmt, dass es mathematische Objekte per se gibt. Diese Position vertraten z.B. Frege (1918, 43) und Gödel (1947, 271f.). Dabei handelt es sich aber ebenfalls um abstrakte und platonische, d.h. nicht in der raumzeitlichen Wirklichkeit lokalisierte Objekte, die nicht empirisch, sondern durch mathematische Intuition zugänglich sind.

Zusammengefasst sind Mathematik und die weiteren Formalwissenschaften eine Spezialisierung aus dem Gesamtsystem der Wissenschaft, welche sich mit formalen Modellen, Algorithmen und Methoden beschäftigt, und diese Spezialisierung hat sich in der Geschichte der Wissenschaft als ausgesprochen nützlich erwiesen. Wir charakterisieren die Formalwissenschaften daher als Voraussetzungs- und Hilfswissenschaften, die den realwissenschaftlichen Disziplinen formale Grundlagen und strukturelle Modelle mit bekannten Eigenschaften zur Verfügung stellen.

Überprüfung des gemeinsamen Wissenschaftsmodells

Stellen wir uns nach dieser Vorabklärung die Frage: In welchem Grade treffen die Annahmen E1–5 und Methodenbausteine M1–4 auf die aufgeführten Disziplingruppen mit Ausnahme der Formalwissenschaften zu? Offensichtlich passen E1–5 und M1–4 auf alle Disziplinen der Gruppen 1–3 (Naturwissenschaften, technische Disziplinen, Psychologie). Es gibt auch nichts, was gegen die Anwendung auf die sozialwissenschaftlichen und historischen Disziplinen der Gruppen 4 und 5 spricht. Minimaler Realismus, Fallibilismus, Objektivität und Intersubjektivität (E1–3) und logische Klarheit (E5) sind in allen diesen Disziplinen akzeptierte Standards; dasselbe gibt für die Suche nach allgemeinen Hypothesen, nach Erklärungen bzw. Voraussagen (M1, M3). In allen diesen Disziplinen liegen empirische Daten vor, z.B. in Form von Resultaten psychologischer Experimente, Interviewdaten, ökonomischen und demographischen Daten, und in den Geschichtswissenschaften in Form von historischem Text- und Quellenmaterial, usw. Damit sind auch Annahme E4 und Bausteine M2 und M4 erfüllt. Freilich ist es in Bereichen der Sozialwissenschaft und Geschichte aufgrund der Komplexität des Gegenstandes wesentlich schwieriger, allgemeine Gesetzeshypothesen und Theorien zu finden – doch das Zutreffen der methodischen Bausteine verlangt ja nur, dass in den betreffenden Wissenschaften nach den darin genannten Zielen sinnvoll gesucht werden kann, was nicht schon heißt, dass dieses Ziel überall gleich gut erreicht wird.

Hermeneutischer Zirkel

Dieselben Überlegungen gelten für weite Bereiche der Disziplinen aus Gruppe 6. Auch hier gibt es empirische Daten – sprachliche Texte, Kunstoder Musikwerke aus verschiedenen Kulturen oder Stilepochen (usw.) bilden beispielsweise das Datenmaterial der Sprach- und Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaften. Vertreter der hermeneutischen Richtung wenden an dieser Stelle ein, dass die ‚Daten‘ der Sozial- und Geisteswissenschaften, wie z.B. sprachliche Äußerungen oder Texte, immer schon interpretativer Natur seien, weshalb geisteswissenschaftliches Verstehen einem unauflöslichen hermeneutischen Zirkel ausgesetzt sei (vgl. Gadamer 1975, 250ff.). Doch eine Reihe von Wissenschaftstheoretikern haben herausgearbeitet, dass die Überprüfung von Interpretationshypothesen über das, was ein Autor in einem Text sagen wollte, ähnlich ‚holistisch‘ funktioniert wie die Überprüfung naturwissenschaftlicher Theorien (vgl. Stegmüller 1979a, Follesdal 2003). Die in Kap. 1.2.5.6 erwähnte methodendualistische Schule wendet wiederum ein, dass es in den Geisteswissenschaften keine allgemeine Gesetzeshypothesen gäbe, sodass sich die Tätigkeit dieser Disziplinen auf den Methodenbaustein M2, also auf die Zusammenstellung singulärer historischer Fakten gemäß der ‚idiographischen Methode‘ beschränken müsse. In der Tat gibt es in sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen so gut wie keine strikten (ausnahmslosen) Gesetze. Es gibt aber statistische und insbesondere normische Gesetzeshypothesen („wenn A, dann normalerweise B“), die für Erklärungen und Hypothesenüberprüfungen in diesen Disziplingruppen unerlässlich sind (näheres Kap. 3.5, 4.2.3, 6.4). Alle Methodenbausteine der empirischer Wissenschaften können daher auf die Geisteswissenschaften übertragen werden, auch wenn nicht alle Angehörige dieser Disziplinengruppe davon Gebrauch machen.

Wert- und Normsätze in der Jurisprudenz

Dennoch gibt es ein vorwiegend in den Geisteswissenschaften anzutreffendes Phänomen, das in einem entscheidenen Gegensatz zur wissenschaftlichen Methode gemäß E1–5 und M1–4 zu stehen scheint: nämlich das Phänomen von Wert- und Normsätzen. Wir erläutern dieses Problem zunächst anhand einer Teildisziplin der Rechtswissenschaften, nämlich der Jurisprudenz oder Rechtsdogmatik, d.h. der Wissenschaft der Rechtsprechung. Diese Disziplin untersucht konkrete Handlungen und Tatbestände daraufhin, wie sie sich in das gegebene Rechtssystem einordnen lassen, und speziell, ob sie unter eine strafbare Handlungsweise fallen. Der auf Kelsen (1960) zurückgehende Rechtspositivismus hatte die Auffassung vertreten, dass die Jurisprudenz ein wertfreies systematisch-deduzierendes Verfahren sei, das sich lediglich auf das positive, d.h. vom Gesetzgeber festgesetzte, Recht stützt. Doch Kelsens These ist rechtsphilosophisch umstritten. War z.B. die Entwendung von Privateigentum im Einkaufladen Mundraub oder Diebstahl? (ein Beispiel in Savigny et al. 1976, 101f.). Oder: handelte es sich bei der Unterbringung eines Verbrechers im eigenen Heim bereits um eine Mittäterschaft? (ein Beispiel von Kuhlen 2000, 37). In solchen und anderen Fällen folgt aus den Rechtsbestimmungen des Gesetzbuchs und der empirischen Tatschilderung noch nicht, worunter die gegebene Tat fällt; und der Gesetzesausleger bzw. Richter hat hier die Aufgabe, die inhaltlich unterbestimmten Gesetzesbestimmungen auszulegen. In Savigny et al. (1976, 106, 144ff.) wird gezeigt, dass sich diese Auslegungen häufig auf Wertannahmen stützen, die nicht im Gesetzestext stehen, sondern dem intuitiven Rechtsbewusstsein‘ entnommen sind. Nun kann der Rechtswissenschaftler sicher zeigen, dass unter Voraussetzung gewisser Wertannahmen (oder ‚Billigkeitsannahmen‘) eine gewisse Gesetzesauslegung adäquat ist. Doch wie soll er wissenschaftlich begründen, dass ein bestimmter Notstand ausreicht, um von ‚Mundraub‘ anstatt von ‚Diebstahl‘ zu sprechen? Oder dass ein Unterwäschewerbeplakat noch den ‚guten Sitten‘ entspricht oder schon gegen die ‚Würde der Frau‘ verstößt? (Hilgendorf 2000, 15, 24). Die Frage, die sich also stellt, nicht nur in Teilgebieten der Rechtswissenschaft, sondern auch in anderen Disziplinen mit human- oder sozialwissenschaftlichem Bezug, ist diese: lassen sich fundamentale Wertannahmen wissenschaftlich begründen?

Wertfreiheit

In medias res: die von uns vorgeschlagene Antwort lautet: nein. Das heißt nicht, dass Wert- und Normsachverhalte in den Wissenschaften gar nicht auftreten. Einerseits lassen sich die de-fakto Werteinstellungen von Personen empirisch erheben, und andererseits lassen sich spezielle Wertsätze aus vorausgesetzten fundamentaleren Wertsätzen (und weiteren Prämissen) logisch deduzieren. Doch eine fundamentale wissenschaftliche Wertbegründung ist unmöglich. Unsere Auffassung befindet sich im Einklang mit dem Standardverständnis von (empirischer) Wissenschaft und beansprucht keine Originalität; doch unsere Begründung dieser Antwort sollte eine gewisse Originalität aufweisen. Denn die Wertfreiheitsforderung ist von Positivismuskritikern einer so scharfen Kritik unterzogen worden, dass sie heutzutage nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern einer sorgsamen Ausarbeitung bedarf, der wir uns in Kap. 2.5 zuwenden.

Oben haben wir wissenschaftliche Disziplinen nach ihrem Gegenstandsbereich untergliedert. Zum Abschluss dieses Kapitels erläutern wir zwei weitere Klassifikationsmöglichkeiten. Eine methodologisch bedeutsame Klassifikation der Realwissenschaften ist die folgende, nach der Eindringlichkeit‘ ihres empirischen Charakters:

1) Empirische Wissenschaften (im Sinn des minimalen Empirismus): Darunter sind alle Disziplinen zu verstehen, die sich auf empirische Daten irgendwelcher Art beziehen, ob diese Daten in freier Feldbeobachtung, durch Studium von Quellenmaterial oder im Laborexperiment gewonnen wurden. Zu dieser umfangreichsten Gruppe zählen also alle durch die Annahmen E1–5 und Methodenbausteine M1–4 beschriebenen Disziplinen, inklusive der Geisteswissenschaften (im hier verstandenen Sinn). Nur Disziplinen, deren Theorien auf reiner Spekulation beruhen, liegen außerhalb dieses Bereichs – wie z.B. Mystik, Esoterik, spekulative Geistes-,Wissenschaft‘, oder dogmatisch-bekenntnishafte Anteile der Theologie. Gemäß unseren erkenntnistheoretischen Annahmen ist es zweifelhaft, ob es sich dabei über haupt um Realwissenschaften handelt.

Kontrollierte Experimente

2) Experimentelle Wissenschaften: Diese Untergruppe empirischer Disziplinen zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Daten in Form von kontrollierten Experimenten gewinnt. Die Bedeutung des kontrollierten Experiments gegenüber freier Feldbeobachtung liegt darin, dass in einem Experiment gezielt gewisse Konstellationen von Bedingungen hergestellt werden, welche Aufschluss über die kausale Relevanz bzw. Irrelevanz von Faktoren geben können (s. Kap. 4.2–4.3), während man in freier Feldbeobachtung eventuell ‚ewig‘ daraufwarten muss, dass der ‚Zufall‘ genau die erwünschte Konstellation von Bedingungen beschert. Aus diesem Grund können experimentelle Wissenschaften wesentlich schneller und effektiver in einen empirischen Gegenstandsbereich eindringen als Wissenschaften, die auf bloße Beobachtung bzw. auf passive Rezeption des historischen Datenmaterials angewiesen sind. Das experimentelle Kriterium trennt die Disziplinen der Gruppen 1–3 zumindest tendenziell von jenen der Gruppen 4–6. Denn es ist sowohl aus technischen wie aus ethischen Gründen kaum möglich, mit Gesellschaftsgruppen, Institutionen oder Gesetzesentwürfen Experimente zu machen. Ethische Bedenklichkeitsfragen treten freilich schon bei biologischen oder psychologischen Experimenten auf.

Realanalyse und Realsynthese in der Naturwissenschaft

3) Sezierende Wissenschaften: Eine signifikante Untergruppe der experimentellen Wissenschaften sind das, was ich – in Ermangelung eines besseren Wortes – die ‚sezierenden‘ Wissenschaften nenne. Darunter verstehe ich Wissenschaften, die ihre Gegenstände nicht bloß diversen experimentellen Bedingungen aussetzen, um sie theoretisch-begrifflich zu analysieren, sondern die ihre Gegenstände materiell analysieren, d.h. auseinandernehmen bzw. sezieren – eventuell sogar, um sie danach, sofern dies noch möglich, wieder ‚zusammenzubauen‘ bzw. synthetisieren zu können. Ich meine, dass es dieser weit über das Experiment hinausgehende sezierende Charakter ist, der das wesentliches Charakteristikum der klassischen Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie und Medizin ausmacht, im Gegensatz etwa zur experimentellen Verhaltensforschung oder Psychologie. Die Chemie und Biochemie hat es gelernt, die Gegenstände unserer Umgebung in ihre molekularen und schließlich atomaren Bestandteile zu zerlegen (Analytische Chemie) und neu zusammenzusetzen (Synthetische Chemie), und die Atomphysik hat dasselbe auf der subatomaren Ebene getan, wobei es hier um wesentlich gewaltigere Energiemengen geht. Die Analyse und Synthese von Lebewesen, an der die heutigen Naturwissenschaften arbeiten, von Stammzellenforschung, Gentechnik, Neurophysiologie bis zu künstlicher Intelligenz und Robotik, könnte darauf hinauslaufen, in ferner Zukunft einmal den ganzen Menschen künstlich zu verändern und letztlich erzeugen zu können. Wie immer gilt auch hier: wissenschaftliche Erkenntnisse können zu verschiedenen, ‚guten‘ wie ‚bösen‘ Zwecken verwendet werden. Sicher aber werden die damit möglich gewordenen Gefahren immer größer. Daher wird auch die Bedeutung der Wissenschaftsethik, welche unter anderem darin besteht, der technischen Umsetzung von wissenschaftlichen Möglichkeiten Grenzen zu setzen, in Zukunft noch viel größer werden als heute. Die Klassifikation ist in Abb. 2.4–1 zusammengefasst.


Abb. 2.4–1: Klassifikation der Realwissenschaften

Unabhängig davon lassen sich wissenschaftliche Disziplinen gemäß unseren bisherigen Ausführungen auch nach dem Grad der Quantifizierung und Mathematisierung ihrer Methodologien wie folgt einteilen:

Quantitative vs. qualitative Methoden

Graduelle Einteilung wissenschaftlicher Methodologien nach zunehmendem (←) logisch-mathematischen Präzisionsgrad:


Quantitative Methoden liegen auf der linken und qualitative Methoden auf der rechten Seite dieses Spektrums. In beiden Fällen handelt es sich um wissenschaftliche Methoden: die ideologische Polarisierung zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Methodenparadigma (wie z.B. in Lamnek 1988) erscheint aus allgemein-wissenschaftstheoretischer Sicht unnötig und übertrieben.

Einführung in die Wissenschaftstheorie

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