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2.3 Gemeinsame methodologische Merkmale
ОглавлениеAktuale vs. potentielle Beobachtungssätze
Aus dem obersten Erkenntnisziel (Z) zusammen mit den fünf erkenntnistheoretischen Annahmen (E1–5) folgen sehr plausibel vier methodologische Merkmale (M1–4), die allen im weiten Sinn empirischen Wissenschaften gemeinsam sind. Zunächst eine begriffliche Vorklärung. Unter einem Beobachtungssatz verstehen wir einen Satz, der einen beobachtbaren Sachverhalt ausdrückt. Wir unterscheiden zwischen aktualen und potentiellen Beobachtungssätzen. Aktual nennen wir einen Beobachtungssatz, wenn der von ihm ausgedrückte Sachverhalt tatsächlich beobachtet wurde. Bloß potentiell ist dagegen ein Beobachtungssatz, wenn der von ihm ausgedrückte Sachverhalt noch nicht beobachtet wurde, aber beobachtet werden könnte, z.B. zu einem späteren Zeitpunkt oder an einem anderen Ort. Bloß potentielle Beobachtungssätze drücken empirische Voraussagen aus wie z.B. „morgen wird eine Sonnenfinsternis eintreten“. Damit können wir die vier gemeinsamen methodologischen Merkmale wie folgt formulieren (ähnlich bei Weingartner 1978, §§ 3.1 –3.7):
M1: Wissenschaft sucht nach möglichst allgemeinen und gehaltvollen hypothetischen Sätzen, die in einer wissenschaftlichen Sprache abgefasst sind. Dabei handelt es sich in allen Disziplinen um Gesetze und Theorien, und in einigen Disziplinen (z.B. den historischen Wissenschaften) auch um hypothetische Singulärsätze.
M2: Wissenschaft sucht nach möglichst vielen (und möglichst relevanten) aktualen Beobachtungssätzen, welche die Resultate von Beobachtungen, Experimenten oder Messungen wiedergeben.
M3: Wissenschaft versucht, mithilfe der allgemeinen und hypothetischen Sätze die zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannten aktualen Beobachtungssätze zu erklären, sowie neue und noch unbekannte potentielle Beobachtungssätze vorauszusagen.
M4: Wissenschaft versucht, ihre allgemeinen und hypothetischen Sätze empirisch zu überprüfen, und zwar indem die vorausgesagten (potentiellen) Beobachtungssätze mit den gegenwärtig bekannten aktualen Beobachtungssätzen verglichen werden. Stimmen die letzteren mit den ersten überein, so war die Voraussage erfolgreich (sie wird dann zu einer erfolgreichen Erklärung) und das Gesetz bzw. die Theorie ist bestätigt bzw. bewährt. Stehen die letzteren mit den ersteren in logischem Widerspruch, so war die Voraussage gescheitert und das Gesetz bzw. die Theorie ist falsifiziert oder im Fall einer bloß statistischen Voraussage zumindest geschwächt.
Erklärung und Voraussage
Von einer Erklärung spricht man nur dann, wenn der erklärte Sachverhalt bereits eingetreten und bekannt ist, während bei einer Voraussage der vorausgesagte Sachverhalt neu und noch unbekannt ist. Logisch gesehen haben sowohl Erklärungen wie Voraussagen die Form deduktiver oder probabilistischer (d. h. wahrscheinlichkeitsmäßiger) Argumente (s. Kap. 6).
Die vier methodologischen Merkmale hängen mit den erkenntnistheoretischen Annahmen der Wissenschaften sehr eng zusammen. Merkmal M1 ergibt sich aus dem Erkenntnisziel Z, denn Gesetze und Theorien sind Musterbeispiele allgemeiner gehaltvoller Sätze. M2 ergibt sich aus Annahme E4 (verschärft durch Annahmen E2 und E3): um etwas über die vermutliche Wahrheit ihrer Hypothesen herauszufinden, muss die Wissenschaft empirische Daten sammeln. Um ihre allgemeinen Hypothesen anhand dieser Daten zu überprüfen, müssen die logischen oder probabilistischen Konsequenzen der Hypothesen in Form von Voraussagen bzw. potentiellen Erklärungen ermittelt werden und diese Konsequenzen mit den Daten verglichen werden – in die Methodenbausteine M3 und M4 fließen daher Annahmen E4 und E5 ein.
Bedeutung für das planende Handeln
Erfolgreiche Voraussagen und Erklärungen sind nicht nur für das wissenschaftliche Oberziel der Findung wahrer gehaltvoller Sätze wesentlich. Voraussagen wie Erklärungen sind zugleich für das planende Handeln des Menschen überlebenswichtig. Voraussagen ermöglichen es dem Menschen, seine Zukunft dadurch zu planen, dass er sich selbst dem vorausgesagten Ereignisverlauf anpasst. Erklärungen haben mit Ursachenfindung zu tun (s. Kap. 6.2); sie liefern dem Menschen Ursachenwissen und versetzen ihn dadurch in die Lage, in die Welt kausal einzugreifen, um so den Ereignisverlauf seinen eigenen Wünschen anzupassen. Die wissenschaftlichen Unterziele der Voraussage und der kausalen Kontrolle wurden von der Menschheit seit dem Steinzeitalter verfolgt. Wer voraussagen kann, dass in einem bestimmten Gebiet nahrhafte Pflanzen wachsen, kann gezielt dorthin wandern und damit der eigenen Stammesgruppe eine hohe Fortpflanzungsrate bescheren. Wer aber die Ursachen des Wachstums nahrhafter Pflanzen kennt, wer sie anzupflanzen und zu bewässern weiß, der braucht nicht länger Sammler bleiben, sondern kann Ackerbauer werden.
Drei Ebenen der wissenschaftlichen Methode
In fortgeschrittenen Wissenschaften spielt sich das wissenschaftliche Erklärungs- und Voraussageverfahren und das damit zusammenhängende Überprüfungsverfahren nicht auf zwei, sondern auf drei Ebenen ab: aktuale Beobachtungssätze auf der untersten Ebene, empirische Gesetzeshypothesen auf der mittleren Ebene und wissenschaftliche Theorien auf der obersten Ebene. Zwischen der ersten und zweiten, und zwischen der zweiten und dritten Ebene, finden jeweils die Verfahrensmethoden M3 und M4 statt, wie in Abb. 2.3–1 dargestellt. Die dreistufige Arbeitsteilung ist aus vielerlei Gründen vorteilhaft; in allen fortgeschrittenen Wissenschaftsdisziplinen hat sich die Arbeitsteilung zwischen den experimentellen Praktikern (Ebene 1 und 2) und den Theoretikern (Ebene 2 und 3) entwickelt.
Abb. 2.3–1: Die drei Ebenen derwissenschaftlichen Methode
Konkretes Beispiel
Das Beispiel in Abb. 2.3–2 soll die drei Ebenen in ihrem Zusammenwirken verdeutlichen. In diesem weitgehend selbsterklärenden Beispiel stellt man sich, betreffend die unterste und mittlere Ebene, am besten das 16. Jahrhundert vor, als Rauchen aus Übersee gerade eingeführt und seine Wirkung weitgehend unbekannt war. Raucher-Neulinge berichten über Schwindelgefühl; dies wird durch die empirische Gesetzeshypothese G korrekt erklärt bzw. vorausgesagt, wodurch G bestätigt wird. Gewohnheitsraucher, bei denen kein Schwindelgefühl mehr auftritt, schwächen dann jedoch G. Dies führt dazu, die Hypothese G gemäß G∗ zu modifizieren (im Sinne von Lakatos 1974). Auf der obersten Ebene – dazu stelle man sich besser das 20. Jahrhundert vor, als sich die Biochemie entwickelte – geht es nun darum, das empirische Gesetz G theoretisch zu erklären, was durch die beiden theoretischen Gesetze T1 und T2 zusammen mit weiterem Hintergrundwissen gelingt. Das vorausgesetzte theoretische Hintergrundwissen besagt, dass Sauerstoff im Blutkreislauf durch Andockung an die roten Blutkörperchen transportiert wird; dass Kohlenmonoxid durch seine chemische Ähnlichkeit mit Sauerstoff die Andockstellen besetzen und für Sauerstoffaufnahme blockieren kann; dass weiters bei Sauerstoffmangel im Blut das Großhirn mit Schwindelgefühl als Vorzeichen einer Ohnmacht reagiert, wobei sich der kritische Reaktionsschwellenwert durch Gewohnheitsbildung (G∗) nach oben verschiebt. Aus diesem theoretischen Erklärungswissen folgen nun – und das ist typisch für Theorien – qualitativ neue empirische Gesetzesprognosen: z.B. müssten ähnliche Symptome überall, wo der Kohlenmonoxidgehalt der Atmosphäre hoch ist, auftreten (z.B. bei Smog), was zutrifft und damit die Theorie bestätigt. Andere Gesetzesphänomene, wie z.B. dass auch bei Hyperventilation Schwindelgefühl auftritt, scheinen sich der Theorie zu widersetzen, und zwingen dazu, diese zu modifizieren: in diesem Fall wird zu viel Sauerstoff eingeatmet und zu viel Kohlendioxid ausgeatmet, was über eine Erhöhung der freien Calciumionenkonzentration u.a. zu einer Verengung der Gehirnblutgefäße führt, was die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn reduziert und zu Schwindelgefühl führt. Obwohl als Einführung gedacht, vermag dieses Beispiel einige Komplexitäten wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse zu verdeutlichen.
Abb. 2.3–2: Beispiel für die drei Ebenen der wissenschaftlichen Methode