Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 17

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Vor Jahren, nach der Scheidung von Gisela, hatte ich mehr als genug Zeit, über mich nachzudenken. In der Folge fand ich wieder den Mut, meine Neigung zu „höheren“ sinnlichen Wahrnehmungen ernst zu nehmen, sie sogar als wertvoll und hilfreich zu beachten.

Dazu gehört eine Eigenheit, die Funktechniker als Übersprungsignal bezeichnen. Wenn man überraschend auf einer Leitung mithört, was auf der nebenan gesprochen wird. Wie es in meinem Kopf geschieht, juckt mich nicht; mit dem Ergebnis lebe ich bestens. Ich fühle Töne und menschliche Stimmen mit den Energiezentren meines Körpers – auch „Chakras“ genannt – als eine Art Kribbeln oder sanft kitzelnder Druck. Die meisten Menschen empfinden Sehen und Hören sauber getrennt in Auge und Ohr. Bei mir geraten die Wahrnehmungen durcheinander.

Sobald ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, erscheinen Klänge in unterschiedlichen Farben; ein seltsames Mittelding zwischen Sehen und Fühlen. Angenehme Töne gleichen kreisenden farbigen Strudeln, die sich in das entsprechende Energiezentrum hineinzudrehen scheinen; unangenehme Töne prallen ab, werden zurückgestoßen und hinterlassen eine unbehagliche Empfindung in der Körpergegend.

Wenn ich Nancy Sinatra singen hören, bin ich selig. Ihre Stimme fühle ich beglückend dunkelblau tief im Stirnzentrum. Stings „Fields of Gold“ öffnet einen silbern und violett funkelnden Lichtspringbrunnen über der Mitte meines Kopfes; dann wachsen meiner Seele Flügel und mir werden die Augen feucht. Im gewöhnlichen Alltag schenke ich diesen Eindrücken kaum Beachtung. Erstrecht nicht, wenn ich, wie seit heute Vormittag, aufgeregt bin und meine Gedanken voll mit anderen Dingen beschäftigt sind.

Gelegentlich lenkt mich ab, was ich dabei wahrnehme. Wenn ungewollt innere Bilder dazukommen, die im ersten Eindruck nicht zu dem passen, was ich empfinde. Ich überbewerte diese Sinnesanstöße nicht, beachte sie aber. Meist helfen sie mir, das Wesen von Mitmenschen besser einzuschätzen. Früher bei Kollegen und Bekannten hat mir das gelegentlich Kopfschütteln eingebracht. Wenn mich – dank der heimlichen Sinneshinweise – geübte Schönredner, etwa Vorgesetzte in der Firma, bejubelte Fernsehgrößen oder Politiker unbeeindruckt ließen oder ich sie als unaufrichtige Rosstäuscher bezeichnet habe. Wenn ich die Frau Bundeskanzler reden höre ...; lassen wir das. Inzwischen ziehe ich es vor, meine Vorurteile dieser Art für mich zu behalten; obwohl ich sie im Laufe der Zeit häufiger bestätigt als widerlegt finde.

Jetzt ist es wieder die einnehmende Handbewegung, mit der Frau Sandner ihre Haare seitlich über das linke Ohr wischt. Die den kleinen Kristallknopf an ihrem Ohrläppchen zum Glitzern bringt, und mich dazu, bewusst auf ihre Stimme zu achten.

Nach einigen Schritten auf dem Gang hält sie kurz inne:

„Übrigens. Das dürfte Sie interessieren und das kann ich Ihnen wohl verraten. Wenn Sie versprechen, es nicht an die große Glocke zu hängen. Ich habe heute Morgen mit einer Kollegin in Bad Vilbel telefoniert. Wegen dem Datum im Mai. Die hatten dort tatsächlich ein bemerkenswertes Vorkommnis.“

In einem Autohaus Schwarzberger. Frau Sandner erinnert an Schusters kleine Überraschung, den Werkstattzettel der Firma in meinem BMW. In der Nacht zum 24. Mai wurde in den Betrieb eingebrochen. Die Kollegen vor Ort ermitteln weiter; denn etwas war seltsam. Sie gehen davon aus, dass jemand aus der Firma mitgeholfen haben muss. Es gab keine typischen Einbruchspuren.

„Noch mal, ich sage Ihnen das unter uns, verstanden?“

Wir gehen weiter.

Kein Zweifel: Ihre Stimme löst offenes Druckkribbeln in meiner unteren Brustgegend aus. Annehmbar grün, wenn auch etwas matt; darunter ein orangerotes Gefühl wie ein leichter Luftdruck. Ich schaue an ihrem Gesicht vorbei, erwartungsvoll, sie weiter sprechen zu hören. Spüre einen handtellergroßen kreisenden grüner Wirbel. Mit diesem zum Herz weisenden Energiezentrum verbinden sich Ausgewogenheit, Wahrheit und Verantwortung. Etwas tiefer ... die hellrote Empfindung, kein kreisender Wirbel, eher ein behutsam prickelnder Druck. Hey! Ich schätze, die Dame hat mehr für mich übrig als äußerlich erkennbar.

„Hallo, Herr Berkamp! Wie gesagt, vertraulich.“

„Entschuldigung, ich war in Gedanken. Na klar, einverstanden. Also, der Werksatteinbruch. Und was war damit? War der Schaden groß?“

Frau Sandner schüttelt den Kopf: „Das ist auch interessant. Schaden – schwer zu sagen. Das kommt drauf an.“

„Worauf?“

Wie mit einem tonlosen Aufhusten ergänzt sie:

„Hm tja. Die Einbrecher haben gezielt einen Elektronischen Diagnose-Computer weggeschafft. Scheinbar kam es ihnen nur auf das Ding an.“

Ein Kasten in der Größe einer kleinen Kommode mit Rädern; ein Herzstück jeder modernen Autowerkstatt. Man schließt ein dickes Kabel an, und schon analysiert der Computer das ganze Auto; alles, was elektronisch ist, Zündung, Antiblockiersystem, Lichter, Tacho. Einfach alles, was heutzutage in Autos mit Hilfe von zahllosen Computerchips überwacht und gesteuert wird.

„Dazu muss man aber an den Stecker kommen, also in das Auto, in den Motorraum vermutlich?!“

„Richtig.“

Sie bewegt ihre Personalkarte am Rahmen der Sicherheitstür entlang.

„Da wird die Sache für uns spannend. Die Kollegin aus Bad Vilbel erwähnte ein zweites Gerät, einen Scanner. Der ist tragbar, gleicht einem großen Taschenrechner.“

Solche Scanner sind im freien Handel zwar verboten. Aber im Internet fragt kein Teufel danach. Jedenfalls kann man die Scanner mit dem Diagnose-Computer programmieren; wie, weiß Frau Sandner ebenso wenig wie ich. Klar ist nur, man geht mit dem Ding spazieren, sucht sich den BMW X-5 oder X-3, der einem gefällt, und hält es an den Türgriff. Der Scanner erkennt das elektronische Signal, das den Wagen aufschließt und das Zündschloss betätigt.

„Einsteigen und losfahren – Wunder der Computertechnik und Fluch für die Kollegen ...“

Angeregt durch ihren Kurzvortrag unterbreche ich sie:

„Ach! Deshalb konnten die mein Auto so einfach benutzen! Weil sie diesen Scanner hatten?!“

Während wir den Fahrstuhl abwärts verlassen, ergänzt sie:

„Davon gehen wir aus. Passt alles zusammen. Nur dieser Werkstattzettel in Ihrem Wagen passt nicht ins Bild. Ergibt für mich keinen Sinn.“

Ihre Mitteilung lässt sie etwas langsamer gehen.

„Außer ....,“ fährt sie mehr zu sich selbst fort, „außer da will uns jemand in die Irre führen und legt eine falsche Spur. Das soll ja schon vorgekommen sein.“

„Der Zettel belastet mich. Genauer gesagt, jemand will, dass ich verdächtig erscheine. Macht das mehr Sinn?“

Sie zuckt leicht mit den Schultern, schürzt die Unterlippe und schüttelt den Kopf ein wenig:

„Aber wer? Wieso, wozu?“

In der hellen Eingangshalle mit dem Wegweiserkunstwerk sieht sie mich einen Augenblick lang unschlüssig an:

„Moment, wohin will ich eigentlich?“

„Ihr Zahnarzt wartet, Frau Sandner.“

„Ja, richtig, ich muss in die Tiefgarage. Nein, ich bringe Sie kurz nach vorn. Noch etwas Erfreuliches für Ihren Heimweg. Das behalten Sie ebenfalls für sich, klar?! Kollege Schuster hatte doch, da wo Sie geparkt hatten, in der Staufenstraße, eine Zigarettenkippe eingesammelt. Die DNA-Untersuchung ist veranlasst. Manchmal haben wir Glück. Wenn der Zufall uns gewogen ist und sich eine heiße Spur findet. Was nicht ist, kann ja noch werden. Wir kommen jedenfalls voran.“

Diesmal bleibe ich nach wenigen Schritten stehen. Hier in der freundliches Halle fällt es mir leichter.

„Danke, Frau Sandner; für Ihr Vertrauen und die Offenheit. Und, ... ich würde gern noch etwas außer der Reihe sagen, wenn ich darf.“

Sie bleibt stehen, schiebt den Gurt ihrer Tasche auf der Schulter zurecht. Sieht mich vorsichtig erwartungsvoll an. Ihre Augen haben wirklich – eine freundliche Neugier.

„Das wäre?“

„Ich meine, äh, ich hoffe, Sie verstehen das so, wie ich es meine. Gestern, in dem Gespräch ... mir ist aufgefallen, auch heute, ich finde ... Ihre Art ... ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit ... und für Sie.“

Sie schaut mich ruhig an, lässt meine Worte auf sich wirken, und errötet ein wenig. Wie nach einem Entschluss antwortet sie mit leichtem Nicken:

„Vielen Dank. Das ist nett. Ich mache eben meine Arbeit.“

„Trotzdem. Danke, nicht dass, sondern wie Sie sie machen.“

„Angekommen, Herr Berkamp.“

Ungewollt entfährt mir: „Und passen Sie auf sich auf!“

Sie zieht die Augenbrauen zusammen, will etwas antworten; dreht sich aber unvermittelt der Tür zum Innenhof zu.

Wir schweigen auf dem Weg zum vorderen Ausgang. In der Halle fragt sie knapp:

„Wo steht Ihr Wagen?“

„Drüben in der Hansa-Allee. Nur ein paar Schritte zu Fuß.“

Sie gibt mir die Hand. Ich halte sie einen Tick länger.

„Na dann, alles Gute, Herr Berkamp. Und keine Sorge. Für Sie ist der Fall weitgehend abgeschlossen. Bis zur Verhandlung. Wenn wir die Täter erst mal haben.“

Sie dreht sich um und geht zurück zum Hauptgebäude.

Ich schaue ihr verlegen nach, fühle mich ein wenig zu schnell stehen gelassen. Bin zugleich froh, dass ich sie getroffen und mit ihr allein gesprochen habe.

*

Stadtauswärts auf der Autobahn spielt Bob Seger’s „Against The Wind“ ungerufen in meinem Kopf. Wie passend. Gedanklich noch ganz mit der Hauptkommissarin beschäftigt, bin ich ohne meine übliche Musikbegleitung losgefahren.

Beim Fahren achte ich hauptsächlich auf die Straße und höre fast nie Radio. Statt dessen lasse ich im Hintergrund eine der CDs mit Musikstücken laufen, die ich mir selbst zusammengestellt habe; mehr oder weniger bekannte Softrock-Balladen wie „Faithfully“ von Journey, Kelly Clarksons „Break Away“ oder Fleetwood Macs „Go Your Own Way“; Stücke mit einer gefälligen Melodie und einem Fünkchen Nachdenklichkeit im Text, die sich in klaren Farben wohltuend für meine Energiezentren anfühlen.

Diese Hauptkommissarin Sandner mit ihrem neugierigen Blick und den braungrün schimmernden Augen. Bemerkenswert offen hat die Dame mit mir gesprochen, der ich an sich ein Außenstehender bin. Vielleicht will sie auch nur zeigen, wie unermüdlich und entschlossen sie bei der Sache ist. Wir kommen voran. So etwas sagt sie nicht leichtfertig daher; warum sollte sie?

Ach, ist das gut! Das nennt sich Stoßseufzer. Einstweilen ist der Fall für mich abgeschlossen.

Nur wenige Tage später werde ich eines anderen belehrt.

Und die Frau Hauptkommissarin ebenfalls.

Das Ende der Knechtschaft

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