Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 7
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ОглавлениеMit dem Abstand wachsen unschöne Einsichten. Von der vorbeieilenden Landschaft bekomme ich kaum mehr als flüchtige Bilder mit. Statt mich entspannt zurückzulehnen, hocke ich mit dumpfem Magendruck in der S-Bahn und fühle mich schuldig. Obwohl ich nichts Unrechtes getan habe. Wäre ich doch bloß heute zuhause geblieben! Warum habe ich ausgerechnet gestern Abend vergessen, meine Intuition um einen Ausblick auf den heutigen Tag zu bitten? Vielleicht hätte ich mich dann irgendwie anders verhalten. Und wenn ich den Wagen nur in einer anderen Straße geparkt hätte.
Jetzt stehe ich dumm da. Und verdächtig für die ermittelnden Polizeibeamten, tönt es in mir. Wie sich denen die Sachlage darstellt, werden, nein müssen sie die Möglichkeit meiner Beteiligung an dem „Croma“-Überfall in Betracht ziehen. Na klar; als Mitwisser, der das Fluchtfahrzeug bereitstellt und sich anschließend dreist als Unschuldslamm anbietet. Damit die übrigen Täter Zeit haben, sich und die Beute in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich lassen die Beamten längst meinen Namen durch ihre zahlreichen Computerdateien laufen, um Ungereimtheiten in meinem Leben und Hinweise auf kriminelle Neigungen oder frühere Missetaten zu finden. Blödsinn, Robert, du denkst falsch; und die finden nichts, was dich verdächtig macht.
Im Geist sehe ich meinen BMW bereits auf einer Autobahn durch Thüringen in Richtung Polen oder Ukraine fahren. Obwohl: Gerissene Räuber tauschen das Fluchtfahrzeug möglichst schnell aus gegen einen unauffälligen Wagen. Jedenfalls ist verblüffend, wie tief ein Auto, das dir unerwartet abhanden kommt, in dein Leben einschneidet. Es erzwingt – durch seine pure Abwesenheit – völlig ungewohnte Entscheidungen bei den alltäglichsten Kleinigkeiten.
Nehme ich ein Taxi oder gehe ich zu Fuß nach Hause? Zum Glück regnet es nicht. Schön, du brauchst dich nicht zu ärgern, keinen Regenschirm dabei zu haben. Dafür stellen sich ungewohnte Fragen, rütteln Zweifel an früheren Entscheidungen. Gibst du ihnen nach, stellen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit alles auf den Kopf. Deine ganze bisherige Lebensweise, alles, was dir nur Stunden vorher selbstverständlich schien. Musst du jetzt öfter hier lang latschen? Willst du ausgerechnet hier länger wohnen? Unbedingt weiter wie bisher leben? Du könntest etwas anderes machen? Aber was? Und wo?
Nur, weil du – alle hundert Jahre einmal – auf dem Bahnsteig des S-Bahnhaltepunkts Weißkirchen stehst, sich hinter dir die pneumatischen Türen schließen und der Zug leise singend davonfährt. Die einfacheren Fragen hilft der Körper beantworten. Umgeben von Feldern, liegt die S-Bahn-Station an der Grenze zu Steinbach. Gleich hinter einer kleinen Anhöhe entstand links der Landstraße ein neues Gewerbegebiet mit Autoreparaturbetrieben und zwei Supermärkten. In einem davon ein Joghurt und eine Banane aus der Lebensmittelabteilung, ein großes Glas Tee, gereicht von der freundlichen Dame hinter dem Bäckertresen im Eingangsbereich, dazu zwei Nussecken – der Magen jedenfalls hat nichts zu melden auf dem Nachhauseweg.
*
Mein Kopf dagegen wird immer munterer, je länger sich die öde Bahn-Straße durch den Ort hinzieht. Wie eine Handvoll Uhrwerke, die in unterschiedlicher Schlagzahl und Lautstärke wissen wollen, was die Stunde geschlagen hat. Als junge Familie, vor knapp zwanzig Jahren, haben wir uns gern für Steinbach als Wohnort entschieden. Fast alles, was wir zum täglichen Leben brauchten, war bequem zu Fuß oder mit Roller und Fahrrad erreichbar; Sparkasse, Poststelle, ein Lebensmittelladen mitten im Ort. Ab der zweiten Klasse durfte Claudia meist allein zur Schule gehen. Landwirtschaftsbetriebe hielten noch echte Hühner, Kühe und Pferde. Die nahen Felder boten immer etwas zu bestaunen oder zu entdecken; und wenn es nur die Ostereier waren, die Gisela kurz zuvor unauffällig ausgelegt hatte, damit Klein-Claudia sie finden konnte.
Lange Jahre verdiente ich als Organisationsfachmann in einer Beratungsfirma mit Schwerpunkt Fahrzeugbau gutes Geld. Mein Arbeitsplatz in Eschborn lag praktisch in Sichtweite; fünf Minuten mit dem Auto von Parkplatz zu Parkplatz. Im Sommer bin ich oft mit dem Fahrrad gefahren. Die gelegentlichen Einsätze in einer unseren Außenstellen in Hannover, München, Bremen oder Köln und die häufigen Reisen zu unseren Kunden, Auto-Zulieferbetriebe im In- und Ausland, brachten zusätzliches Geld ein. Für teure Hobbys reichte es zwar nicht; aber wir lebten gutversorgt und zufrieden. Auch Giselas Halbtagsbeschäftigung in einer kleinen Werbefirma und ihr geschickter Hand im Umgang mit Geld trugen dazu bei. Nur wenn ein Wirtschaftsabschwung die Autobranche in Mitleidenschaft zog und die Zahl meiner Geschäftsreisen überhand nahm, knirschte es im Familiengebälk.
Von alledem ist wenig geblieben; einmal abgesehen von den Straßennamen, den meisten Häusern oder der Traditionsgastwirtschaft „Zum Schwan“ am Anfang der Eschborner Straße. Aber sonst? Gisela und ich sind seit über zwölf Jahren geschieden, Claudia lebt mit ihrer eigenen Familie in Santa Fe, im amerikanischen Bundesstaat New Mexico. Den einstigen Lebensmittelmarkt ersetzte ein Ramschladen mit Ein-Euro-Waren. Die Poststelle besteht nur noch als Ladennische. Neue Häuserreihen haben die Felder weiter weggeschoben.
Und ich betätige mich seit über drei Jahren als freiberuflicher Coach. Die Wohnung habe ich behalten, weil sie – längst abbezahlt – ein preiswertes Wohnen ermöglicht; weil sie geschützt ist mit der später eingebauten Sicherheitstür.
Vor allem aber, weil sie praktisch ist mit ihren vier Zimmern; ein großes Wohnzimmer, ein geräumiges Schlafzimmer und zwei etwas kleinere Räume; einen davon nutze ich als Arbeitszimmer beim Coachen. Das andere Zimmer bietet Platz für eine Hantelbank, den Box-Sack, eine Dojo-Matte als Meditationsunterlage – mein „Fliegender Teppich“. Mir gefällt meine Wohnung, ich fühle mich darin wohl.
*
Die Hände auf die Marmorfensterbank gestützt stehe ich ewig in der Küche, schaue – ohne zu sehen – auf die Bäume im Licht der Nachmittagssonne vor dem Fenster. Zielgerichtetes Denken oder planvolles Arbeiten wollen zu diesem Tag nicht passen.
Diese junge Polizistin mit dem Pferdeschwanz, die mich in Empfang genommen hat; die war nett, und sah süß aus. Auch die Art, wie die Hauptkommissarin mit mir umgegangen ist – freundlich, geradeaus und sachbezogen – hat mir gefallen. Aber der Herr Schuster?!
Überraschende Erfahrungen mit der Polizei.
Im nächsten Augenblick sehe ich völlig andere Bilder vor mir; etwas angegraut in der Erinnerung, dennoch so gegenwärtig und brutal wie damals. Das muss im Herbst 1972 gewesen sein, in Frankfurt an der Hauptwache. Kurz zuvor war ich aus der Bundeswehr entlassen worden, hatte mich an der Universität für Betriebswirtschaft eingeschrieben und bei einer Bekannten in der Bornheimer Landstraße eine Bude unterm Dach bezogen.
Ich glaube, es war ein Freitag. Jedenfalls hatte US-Präsident Nixon den Bombenkrieg auf Laos und Kambodscha ausgeweitet. Und in der Innenstadt fand eine Großdemonstration von Studenten und Gewerkschaftsjugendgruppen gegen den Vietnam-Krieg statt; ein ziemlicher Rummel. Im nordhessischen Witzenhausen aufgewachsen, nach dem Abitur bei der Bundeswehr in Marburg an der Lahn und in Unna in Westfalen stationiert – ich hatte keine Ahnung, wie es bei einer Großdemonstration zugeht.
Innerlich war ich selbstverständlich auf Seiten der Amerikaner und entschieden für den Vietnam-Krieg. Etwas anderes verbot mein familiärer Hintergrund. Zugleich war ich neugierig. Das Leben in Frankfurt ist zu aufregend, um an solch einem Tag in der Bude zu hocken. Damals ratterten noch Straßenbahnen durch die Zeil von der Hauptwache in Richtung Zoo und Berger Straße. Die Demonstration war laut, Trillerpfeifen, Ho-Chi-Minh-Rufe reichlich, Reihen von wiederholt kurz anhaltenden und dann ein Stück weit losrennenden untergehakten Leuten. Ich konnte kaum fassen, wie unübersehbar viele Menschen mit ihren Transparenten durch die Straßen zogen. Beim Anblick einzelner der jungen Männer kam mir das Wort „langhaarige Affen“ in den Sinn. Unglaublich, wie viele junge und hübsche Frauen da mitmarschierten.
Doch dann das Ende. Mit zahllosen anderen Menschen stehe ich auf dem Bürgersteig vor dem Kaufhof an der Ecke zur Großen Eschenheimer Straße. Etliche sind Unterstützer, viele Neugierige, weit mehr Unbeteiligte; Menschen, die Einkäufe und Erledigungen machen und durch den Vorbeimarsch aufgehalten werden. Ich fühle mich in meiner Einstellung für den Vietnam-Krieg eher noch bestärkt. Die letzten Demonstranten ist noch nicht ganz vorbeigezogen, da stürmen Horden von Polizisten mit knappen Schutzhelmen und schimmernden Ledermänteln zwischen den dahinkriechenden Straßenbahnzügen hervor und dreschen mit langen Schlagstöcken buchstäblich auf alles, was zwei Beine hat, ein; auf die hinteren Teilnehmer der Demo, auf alle Umstehenden.
Augenblicklich setzt ein ziemliches Geschrei und Gedränge der geprügelten Menschen ein, die fast panisch in alle Richtung davonrennen. Da tauchen weitere Horden Schlagstock schwingender Polizisten auf, die wahllos auf die Fliehenden einschlagen. Von denen hasten viele in den Kaufhof – und die Polizisten folgen ihnen prügelnd. Von Entsetzen wie gelähmt bemerke ich von rechts eine Gruppe Polizisten über die Straße kommen und laufe ebenfalls durch die offene Glastür in das Kaufhaus. Die Polizisten darin drehen sich einfach um und schlagen weiter zu. Bis heute sehe ich noch das wütend schreiende Gesicht eines Polizisten nah vor mir: „Geh doch nach drüben, du Scheißkerl, wo du hingehörst!“
Dann trifft mich sein Schlagstock an der Schulter, ein anderer Schlag auf dem Rücken. Ich falle zu Boden, ein wenig überrascht, weil die Schläge weniger wehtun als befürchtet. Dafür sitzt der Schrecken um so tiefer. Mir gegenüber liegt halb gegen die Tür gelehnt eine alte weißhaarige Frau mit einer blutenden Platzwunde an der Stirn. Daneben sitzt ein älterer Mann in Anzug und Krawatte und weint. Ein paar Kinder schreien, Taschen und Einkaufstüten liegen am Boden verstreut, Leute laufen planlos umher.
Und dann kommen Mitarbeiter des Kaufhofs, drängen die geschundenen Menschen nach draußen und versuchen, die Türen zu schließen. Ich trete einem Kaufhof-Mann von unten gegen das Schienbein und krieche auf die Straße. Noch Jahre später finde ich die Stelle neben einem Haufen Hundescheiße, wo ich saß und hemmungslos geheult habe. Ausgerechnet mir widerfährt das; mit meinem Bürstenhaarschnitt, wie er damals bei vielen amerikanischen Soldaten üblich war?! Wahllos zugeschlagen auf harmlose Menschen, die erkennbar keine Demonstranten waren.
Die Polizei, dein Freund und Helfer.
Wohl wahr. An dem Tag bekomme ich ein völlig neues, bis dahin für mich undenkbares politisches Bewusstsein buchstäblich eingebläut – wirksamer als zehn Semester Politikwissenschaft. In der darauf folgenden Woche verschlinge ich zwei Bücher zum Thema Vietnam. Den Rest gibt mir der Dokumentarfilm „Winter Soldiers“, 1971 produziert von der großartigen Schauspielerin Jane Fonda. Zu der Zeit auch Polit-Kämpferin. Sie organisiert in Detroit eine Zusammenkunft ehemaliger amerikanischer Vietnam-Kriegsteilnehmer.
Die sitzen in einem kahlen Raum an einer Reihe von Tischen und erzählen. Was ihnen lieb ist, woran sie glauben. Mann, wie öde. Über ihr Leben, ihre Zeit vor, während und nach den Einsätzen im fernen, fremden Dschungel. Wie sie sich verändert haben, weiterleben mit ihren körperlichen und seelischen Verletzungen. Einige zeigen Fotos, von ihrem Heimatort, den Eltern, den Freundinnen, Frauen oder Kindern. Von lachenden Vietnamesen-Mädchen, Kampfhubschraubern und aus schlammigen Schützengräben.
Keine kernigen Schauspieler, keine wilden Aufnahmen von den vorderen Frontlinien, keine ruhmreichen Helden. Alltägliche Männer, beinahe namenlos, die nur reden. Nur reden? Nach zehn Minuten hockst du vor dem Fernseher und flennst Rotz und Wasser. Nach zwanzig Minuten fühlst du dich elend wie selten.
Zwei Tage später stecke ich – immerhin entlassen mit dem Dienstgrad eines Leutnant der Reserve – mein Dienstbuch in einen Briefumschlag und lege einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer bei. Noch heute bin ich stolz darauf.