Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 4
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Оглавление„Nett, diese hilfsbereiten Mitmenschen,“ bemerkt eine weibliche Stimme neben mir. Zugleich berührt eine Hand meinen rechten Unterarm. „Wenn Sie es mir wiedergeben, können Sie meins benutzen.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Während die untersetzte Frau mit südländischen Aussehen kopfschüttelnd dem jungen Paar nachschaut, zieht sie mit der linken Hand ein Mobiltelefon aus der Brusttasche ihres dunkelgrünen Overall. Die Frau war damit beschäftigt, den goldenen Rahmen einer Außenvitrine zu putzen und hat anscheinend die Abfuhr mitbekommen, die mir gerade zuteil wurde. Erst bin ich überrascht, dann dankbar erleichtert, als ich das ältere rundliche Gerät in die Hand nehme.
„Oh, vielen Dank. Das ist nett. Zu dumm, aber es ist wirklich wichtig. Wie wähle ich bei dem Ding? Ich brauche 110, den Notruf der Polizei.“
„Ganz leicht. Geben Sie her, lassen Sie mich mal ...“
Kaum hat sie eine der winzigen Tasten gedrückt, hält sie mir das Gerät ans Ohr. Erst fällt es mir schwer, das schwache regelmäßige Rufsignal vom Hintergrundlärm der Straße zu unterscheiden. Einen Augenblick später ein Klicken, dann eine gut verständliche weibliche Stimme:
„Hier ist die Nummer 110, der Notruf der Polizei. Bitte sagen Sie mir Ihren Namen und den Grund Ihres Anrufs.“
„Ja, guten Tag, mein Name ist Berkamp. Ich bin hier in der Goethe-Straße und da drüben steht mein Auto, ein blauer BMW X-3....“
„Was ist daran ungewöhnlich? Vielleicht haben Sie selbst den Wagen dort geparkt.“
„Nein, mein Wagen kann da gar nicht sein. Ist er aber. Weil ich ...“
„Hören Sie, dies ist die Notrufnummer der Polizei. Falls Sie sich einen Scherz erlauben ... Haben Sie etwa Alkohol zu sich genommen?“
„Nein, ja, ... Ich trinke keinen Alkohol. Also, mein Wagen steht da ohne mein Zutun. Das ist kein Scherz. Hören Sie: Mein Auto steht hier, obwohl ich es vor drei Stunden woanders geparkt habe. Hinten in der Staufenstraße. Ich bin seit dem nicht damit gefahren; verstehen Sie? Und meinen Autoschlüssel habe ich hier bei mir. In dem Wagen sitzt jetzt ein fremder Mann mit einer dunklen Baseball-Mütze.“
„Bitte nennen Sie mir das Kennzeichen ihres Wagens.“
„MTK- XY 999. Ein dunkelblauer BMW X-3.“
Etwas Klappern oder Rascheln im Telefonhintergrund. Stille. Dann wieder die weibliche Stimme:
„Hören Sie bitte? Ihr Name ist Berkamp, richtig? Herr Berkamp, wir schicken einen Streifenwagen vorbei. Bitte warten Sie dort auf die Kollegen. Die sind gleich da. Zwei bis drei Minuten.“
Noch ehe ich antworten kann, klingt ein schrill fiependes Alarmsignal durch die Straße. Etliche Menschen sind stehen geblieben und schauen in die Richtung, wo mein BMW parkt. Wieder schießt mir ein heißes Gefühl durch den Bauch.
„Hey, da tut sich was, da drüben,“ sagt die Overallfrau, die mir ihr Telefon ans Ohr hält.
„Hallo, Polizei. Hören Sie. Irgendwo ist gerade ein Alarm losgegangen. Mein Auto jedenfalls hat keine Alarmanlage.“
„Ja, ich weiß, wir sind unterwegs. Wir haben ...“
Damit bricht die Stimme im Telefon ab und die Verbindung endet.
„Sie, wirklich vielen Dank. Das war ...“, will ich zu der Frau im Overall sagen. Die ist bereits einige Schritte in die Richtung gegangen, aus der das Alarmsignal tönt. Während ich ihr mit einem halblauten „nochmals vielen Dank“ folge, verlassen zwei groß gewachsene Frauengestalten mit langen blonden Haaren in flatternden hellen Hosen und weiten Sommerhüten auf dem Kopf das Schmuckgeschäft hinter meinem BMW. Sie schwingen ihre dunklen Knautschleder-Handtaschen über die Schultern und gehen zu dem X-3. Der dunkel gekleidete Mann am Steuer beugt sich etwas vor, der Motor startet, die beiden Frauen steigen ein. Kaum sind die Seitentüren geschlossen, rollt der Wagen nach links in die Fahrbahn. Fährt nur wenige Meter in meine Richtung und verschwindet vorn rechts in die schmale Alte Rothofstraße. Alles geschieht zügig, wirkt aber nicht fluchtartig.
*
Als mein Wagen abgebogen ist, löst sich meine Erstarrung. Ich laufe zu der Einbiegung. Dort kommt mir eine junge Frau mit einem Kinderwagen entgegen. Von dem X-3 ist nichts mehr zu sehen. „Entschuldigung, haben Sie gesehen, wohin der Wagen eben gefahren ist?“
„Wagen? Auto? Ich kein Auto gesehen. Mein Kind geschaut. Verstehn?“
Das blecherne Tatütata des Polizei-Wagens ist eine Weile früher zu hören und scheint den ganzen Rathenau-Platz zu füllen. Es verstummt und ein silberner Opel Zafira mit einem dicken blauen Polizei-Streifen an der Seite biegt in die Goethe-Straße ein. Er wird langsamer, fährt nach wenigen Metern nur noch im Schritttempo. Als ich zu dem Fahrzeug gehen will, höre ich ein zweites, dumpferes Martinshorn, von der anderen Seite aus Richtung Alte Oper. Mit blinkenden Scheinwerfern und aufleuchtenden Warnblinklichtern rollt ein grauer VW-Passat schnell näher und stoppt mit quietschenden Reifen kurz vor der Schmuckboutique „Croma“. Ich halte inne: Kommen die wegen meines Anrufs? Oder wegen des Alarmsignals? Wird sich zeigen. Ich halte mich an den silber-blauen Zafira. Der steht mir am nächsten. Seine Warnblinklichter sowie blaue und orangerote Leuchten in dem Signalbalken auf dem Dach zucken jetzt ebenfalls grell.
Inzwischen sind zahlreiche Menschen stehen geblieben und bilden lockere Zuschauerreihen auf beiden Straßenseiten. Fast alle sehen in Richtung es grauen VW-Passat, der halb schräg auf der Fahrbahn vor dem Juwelierladen parkt. Auf dem Beifahrersitz des Zafira sitzt eine junge Polizistin, die vor sich hin spricht. Von einem Hörknopf in ihrem rechten Ohr führt eine dunkelgraue Kabelspirale zum Kragen ihres hellblauen Diensthemdes und verschwindet dahinter. Noch während sie kurz zu ihrem Kollegen auf dem Fahrersitz schaut, öffnet sie die Tür und steigt aus.
Ovales Gesicht und hellblaue Augen, blonde Haare in einem kurzen Pferdeschwanz und ein deutliches Grübchen im Kinn. Obwohl viele Leute es ein wenig störend finden – schon als junger Mann haben mich menschliche Gesichter fasziniert. Sie sind für mich eine Einladung, sie genau zu betrachten. Stirn und Wangen der Polizistin wirken frisch, wie blankgeputzt. Der dunkelblaue Hosenanzug und die etwas kantige Schutzweste erscheinen mir ein wenig unpassend zu ihrem jungen, hübschen Gesicht und dem offenen Blick. Sie streckt sich kurz, überschaut mit einem schnellen Blick die Straße und die nähere Zuschauerreihe.
Selbstverständlich stehen auch links und rechts vor dem Polizeiwagen, der mitten in der Fahrbahn gehalten hat, Menschen umher. Dem Fahrzeug und seinen beiden Insassen schenken sie kaum Beachtung, gaffen stattdessen hinüber zu dem grauen VW-Passat vor dem Uhrengeschäft.
„Herrschaften, bitte bleiben Sie auf den Bürgersteig; treten Sie zurück von unserem Dienstwagen,“ höre ich den Polizisten auf der Fahrerseite, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen ist. Doch die Leute bleiben einfach stehen. Ich drängele mich an zwei jungen Männern vorbei, um zu der Polizistin zu gelangen.
Sie hat mich bemerkt und fragt: „Wollen Sie was? Das geht jetzt schlecht. Bitte bleiben Sie zurück.“
„Ich muss mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Berkamp. Ich habe die Rufnummer 110 angerufen. ... Wegen meinem Wagen ...“ erkläre ich über die Schulter einer Frau hinweg.
„Reden Sie von dem blauen BMW X-3? Sind Sie das?“
„Ja, richtig, das bin ich. Es geht um mein Auto.“
Jetzt schließt die Polizistin die Tür ihres Wagen ganz, streckt ihren rechten Arm nach vorn und wedelt mit der Hand.
„Bitte lassen Sie den Herrn durch. Kommen Sie.“
Woher kommen derart schnell so viele Zuschauer?
Die Polizistin gefällt mir. Sie wird sich um mein Auto kümmern.
Und sie verwirrt mich. Seit zig Jahren hatte ich nichts mit der Polizei zu tun. Das jugendliche Aussehen der Beamtin und ihre unaufgeregte, freundliche Art widersprechen angenehm meiner Vorstellung vom Auftreten von Polizisten aus meiner Studentenzeit. Damals eine derartige Uniform-Frau – undenkbar.
„Okay, also Sie sind Herr .... Berkamp, richtig?!“
„Ja, richtig.“
„Der Besitzer des BMW X-3?! Bitte zeigen Sie mir den Wagen.“
Fast muss ich lachen.
„Das geht leider nicht mehr. Er ist weg. Noch während ich den Notruf in der Leitung hatte ...“
Die Polizistin zieht die Augenbrauen zusammen, hebt ihre rechte Hand, wie um mich zu unterbrechen. Von mir weggedreht beginnt sie mit gedämpfter Stimme in das kleine dunkelgraue Mikrophon zu sprechen, das links unterhalb ihres Kinns mit einem Clip an der Kante ihre Hemdkragens befestigt ist. Sie nickt ein paar Mal stumm vor sich hin, bestätigt halblaut: „Ja, verstanden, okay, ist klar, ja, Ende.“
Ihre Dienstmütze hat sie im Wagen liegen gelassen. Recht so, bei dem Sommerwetter und ihren blonden Haaren.
Immer noch dieser freundliche und zugleich feste Blick, als sie sich wieder zu mir dreht und erklärt:
„Also, es gibt eine neue Lage. Das scheint etwas schwieriger zu werden. Dort drüben in der „Croma“-Boutique hat es einen Raubüberfall gegeben. Zeugenhinweise lassen vermuten, dass ein dunkelblauer BMW SUV daran beteiligt war, mutmaßlich als Fluchtfahrzeug. Ich meine ... es handelt sich mutmaßlich um Ihren Wagen. Sie müssen auf jeden Fall hier bleiben und sich zu unserer Verfügung halten. Das kann allerdings dauern. Die Kollegen müssen sich erst einen Überblick über das Geschehen verschaffen. Also, Sie bleiben bitte hier.“
Nach kurzen Zögern: „Oder – kommen Sie, steigen Sie hier ein.“
Damit öffnet sie mir die Beifahrertür. Sie spricht kurz mit ihrem Kollegen, steigt auf der Fahrerseite ein, startet den Motor und lenkt den Zafira behutsam und hupend einige Meter zur Seite. Damit wird zugleich der Weg frei für einen blassblauen VW-Bus mit abgedunkelten Seitenscheiben und zwei Blaulichthalbkugeln auf dem Dach. Der Kleinbus muss vor wenigen Minuten angekommen sein, ohne blinkendes Blaulicht oder plärrendes Tatütata. Die Beamtin winkt kurz den beiden Männern in Zivil, die in dem VW-Bus langsam an uns vorbeifahren, halb in die Alte Rothofstraße einbiegen, parken und aussteigen. Ein paar Fußgänger, denen der Wagen jetzt beim Überqueren der kleinen Straße im Weg steht, ziehen missbilligende Gesichter und machen abfällige Bemerkungen.
„Tut mir leid, ist halt so,“ meint die Polizistin zu mir. „Kommen Sie bitte mit, Herr Berkamp.“
Sie läuft zügig zu dem hellblauen VW-Bus, in dem niemand mehr sitzt, öffnet die Schiebetür auf der Beifahrerseite.
„Bitte warten Sie hier, der Kollege kümmert sich gleich um Sie. Das ist wahrscheinlich der Oberkommissar Schuster.“
Während sie die Tür wieder zuschiebt, lächelt sie noch einmal kurz in meine Richtung und geht zurück zu ihrem Dienstwagen.
*
Den Arbeitsraum des VW-Busses beherrschen drei überraschend gut gepolsterte hellgraue Sitze mit hochaufragenden Rücklehnen, Sicherheitsgurten und Kopfstützen. Ich setze mich auf den einzelnen Sitz neben einem flachen Staukasten mit dem Rücken zum Fahrer.
Von hier aus bietet sich seitwärts ein guter Blick auf das Geschehen vor der Schmuckboutique. Mehr wie ein Echo zwischen den Häusern tönt erneut ein Martinshorn. Mit vielfach grell zuckenden blauen Lichtern rollt ein weiß-roter Rettungswagen die Goethe-Straße hinab und hält schräg hinter dem grauen VW-Passat. Zwei Männer in roten Jacken mit weißen Streifen steigen aus, gehen zur Rückseite des Fahrzeugs und öffnen eine der beiden Türen. Einer der Rettungshelfer trägt einen mittelgroßen kastenähnlichen Rucksack, als sie wenig später in dem Uhrengeschäft verschwinden.
Vom Rathenau-Platz her biegt ein älterer weiß-rot gestreifter BMW X-5 mit einem Blaulichtbalken und der Aufschrift „Notarzt“ in die Goethe-Straße ein, bahnt sich im Schritttempo den Weg durch die Zuschauer entlang der Fahrbahn und bremst vor dem grauen VW-Passat. Der Notarzt, ein untersetzter Mann mit grauen Haaren und deutlicher Halbglatze auf dem Hinterkopf, steigt aus, zieht sich geruhsam eine rot-weiße Notarzt-Jacke über, hebt eine dunkelbraune Arzttasche vom Beifahrersitz und schließt die Wagentür. Er schaut in die Runde, schüttelt leicht den Kopf und geht geruhsam zu der „Croma“-Ladentür.
Wenig später wird eine Person auf einer hochbeinigen rollenden Liege aus dem „Croma“-Laden gebracht und in den Rettungswagen geschoben. Die Rettungshelfer steigen ein, der Kastenwagen setzt einige Meter zurück und fährt mit zuckendem Blaulicht, aber ohne Alarmsignal, in Richtung Junghofstraße davon.
Neben der Tür des überfallenen Uhrenladens steht einer der Kriminalbeamten in Zivil mit zwei uniformierten Polizisten; er scheint ihnen Erklärungen oder Anweisungen zu geben; sie nicken wiederholt. Anschließend geht der Kriminalbeamte in der Boutique.
Zwei weitere Polizeifahrzeuge rollen langsam heran. Das scheint eine größere Sache zu sein. Spurensicherung, Befragung der Verkäufer, Suche nach Zeugen; alles, was nach derartigen Überfällen in Krimis eher beiläufig beschrieben oder gezeigt wird.
Wurde tatsächlich mein Wagen für den Überfall benutzt? Wie haben die Typen das geschafft? Ich dachte, moderne Autos mit ihrer aufwändigen Elektronik sind längst nicht mehr so leicht zu knacken wie früher. Scheinbar doch. Oder hatten die eine Art Generalsschlüssel?
Das jähe Ende meines Samstagvormittagsbummels. Nur aus Zufall bin ich heute durch die Goethe-Straße gegangen statt nebenan durch die Kleine Bockenheimer Straße, im Volksmund Fressgasse genannt. Unsinn, Robert, – Zufälle gibt es allein in unserer begrenzten Wahrnehmung. Wer weiß, wozu es gut sein soll. Warte ab, wohin es dich führt.
Wenigstens habe ich ordentlich zum Mittag gegessen. Also üben wir uns in Geduld! Hätte ich mich anders verhalten sollen? Was sonst hätte ich tun können? Den privaten Wachmann vor dem anderen Edeluhrenladen ansprechen, wo ich stand, als ich die Polizei anrief? Wenn ich daran gedacht hätte. Der Wachmann hätte das womöglich als irreführende Ablenkung von seiner Arbeit missverstanden. Egal; hätte, könnte, sollte – vorbei. Jetzt ist es, wie es ist.
Wie lange dauert das wohl, bis einer der Beamten Zeit für mich findet? Natürlich wüsste ich gern, was in dem Laden vor sich geht. Ich könnte aussteigen und hingehen. Aber ich empfinde stets eine Hemmung, das Unglück anderer Menschen zu begaffen. Größere Menschenansammlungen bereiten mir ohnehin Unbehagen. Fest steht; mein BMW ist Teil des Geschehens geworden. Blöd, aber nicht zu ändern. Was habe ich damit tun?
Dass Polizisten die Sachlage grundsätzlich ganz anders betrachten, konnte ich mir beim gedankenverlorenen Blick aus dem Kleinbusfenster nicht vorstellen. Wie sehr anders, erfahre ich wenig später.
Obwohl sich auch das als Irrtum herausstellt.
Als folgenschwerer Irrtum.