Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 8
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ОглавлениеMein Auto ist geklaut worden. Schlimm genug. Mit dem „Croma“-Überfall habe ich nichts zu tun. Ich weiß das.
Kümmert das die Polizei?
Wer weiß, wie die sich die Dinge zurechtrücken. Wenn es gilt, einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen zu können, einem Vorurteil zu folgen oder einen Verdacht zu erhärten. Hatte ich es nicht selbst erlebt? Wer sich auch nur in der Nähe des Geschehens aufgehalten hatte, galt ohne Ansehen der Person als schuldig und wurde verdroschen. Heute bin ich mehr als ein Zuschauer, bin durch meinen Wagen beteiligt. Ob die Beamten auch nach Hinweisen suchen, die mich entlasten? Bei Oberkommissar Schuster hege ich meine Zweifel. Na schön, dann kramt mal; von mir aus auch in meiner Vergangenheit.
Gemäß Familienstammbuch bin ich das, was der Volksmund damals „Besatzungskind“ nannte; Mutter Deutsche, Vater Amerikaner. Gabriele Berkamp, meine Mutter, hatte diesen Douglas Jefferson Connelly, zunächst First Lieutenant, später Captain der US-Armee, zufällig in Giessen kennen gelernt. Bis in die 1970 Jahre hat die US-Army dort umfangreiche Kasernenanlagen, Raketenabwehreinheiten, auch Aufklärungstrupps, unterhalten.
Oma Anna war immer gegen die Heirat gewesen. So etwas tat man nicht; es war einfach nicht in Ordnung, die Befreiung von den Nazis hin oder her. Für sie waren die Amis trotzdem Besatzungstruppen und mitschuldig an der Zonengrenze, die in nur zehn Kilometern Entfernung das thüringische Eichsfeld – von Jahr zu Jahr undurchlässiger – abtrennte, wo Omas eigene Familie begraben lag. Außerdem gingen die Soldaten irgendwann wieder zurück nach Amerika oder in ein anderes Land. Sie hat meinen Vater schon gemocht, jedenfalls redete sie immer sehr wohlwollend über ihm. Aber als vollwertigen Schwiegersohn geliebt? – ich glaube nicht.
Vermutlich war mein Vater nur vordergründig als Armee-Hauptmann tätig. In einer Albtraumnacht, so hat meine Mutter mir später einmal flüsternd erzählt, hätte er ihr eröffnet, hauptsächlich für den Geheimdienst CIA zu arbeiten. Vielleicht hat er auch deshalb nachgegeben, als meine Mutter darauf bestand, dass ich von Anfang an die deutsche Staatsbürgerschaft bekomme. Zwei Jahre nach meiner Geburt wurde Daddy in das Europa-Hauptquartier nach Frankfurt versetzt, in den früheren IG-Farben-Bau an der Hansa-Allee, der heute renoviert ist und einen beachtlichen Teil der Goethe-Universität beherbergt. Meine Mutter zog mit, weil sie dort ebenfalls arbeiten konnte. Auf den ersten Blick für mäßiges Gehalt, aber in Dollar; zu einer Zeit, als man dafür im Umtausch noch 4,10 Deutsche Mark bekam. Das brachte wirkliches Geld in den Haushalt.
Deshalb ging es uns in der Hinsicht immer recht auskömmlich. Natürlich auch Oma Anna. Meine Eltern kamen mehr oder weniger regelmäßig an den Wochenenden nach Witzenhausen. In den bruchstückhaften Erinnerungen an meinen Vater war er stets guter Dinge, hat mich manchmal mit ausgestreckten Armen hoch in die Luft geworfen und immer Englisch mit mir gesprochen. Noch heute bin ich sicher, dass ich ihn von Beginn an mühelos verstanden habe. Damals wurde der Grundstein für meine anhaltende Begeisterung für das amerikanische Englisch gelegt. British English kann ich nicht ausstehen.
Irgendwann Anfang der 1960-er Jahre kamen meine Eltern immer seltener und dann gar nicht mehr nach Witzenhausen. Ein paar Jahre später hat Oma Anna mir unter Tränen den Grund gebeichtet. 1964 war mein Vater nach Bangkok in Thailand versetzt worden. Angeblich nur für sechs Monate. Deshalb sei meine Mutter auch mitgegangen. Zwei Jahre später kam er in Vietnam ums Leben. Er hat dort nicht gekämpft, zumindest nicht mit Waffen. Meine Mutter hat das später mehrfach beteuert. Er fand den Tod gemeinsam mit drei anderen Amerikanern und den zwei Piloten ihres Huey UH-1-Hubschraubers, als der südlich von Da Nang abgeschossen wurde.
Meine Mutter hat lange gebraucht, bis sie Vaters Tod halbwegs verkraftet hatte. Sie kam zurück zu Oma und mir, nahm wieder ihren Mädchennamen an – trotzdem – und hat später in der Verwaltung an der Universität in Göttingen gearbeitet. 1970 kam sie – während ich noch Soldat war – bei einem Verkehrsunfall ums Leben; ganz undramatisch, einfach nur tragisch und sinnlos unglücklich. Weil ein vollbeladener Kieslastwagen ihr an einer steilen Ausfahrt auf regennasser Straße rutschend die Vorfahr genommen und ihren Renault 4 an einer gegenüberstehenden Betonmauern zerquetscht hat. Ich denke nur wenig an meine Eltern. Die Trauer, die mich dabei packt, mag ich mir nicht mehr zumuten. Trauer um die verlorenen Träume, gemeinsamen Wünsche, Möglichkeiten für alle Beteiligten – eben auch meine – die verloren gegangene gemeinsame Zeit.
Ob diese blonde Pferdeschwanz-Polizistin von heute Mittag das Gleiche tun würde wie damals die Polizisten vor dem Kaufhof? Die wirkten wie aufgehetzt, hasserfüllt, als sie wild um sich schlugen. Die junge Frau könnte meine Tochter sein. Nur dass Claudia nie Polizistin geworden wäre.
Die sterblichen Überreste meines Vaters, wurde uns in offiziellem Amts-Englisch mitgeteilt, seien in seinem Geburtsort Traverse City im nördlichen Michigan beigesetzt worden. Bis zu ihrem Tod bezog meine Mutter von irgendeinem Sozialbüro in Washington, D.C., eine kleine Rente, deren Wert mit dem fallendem Dollarkurs ständig sank. Das war’s.
Kaum jemand kann sich der ergreifenden Stimmung des beeindruckend einfach gestalteten „Vietnam Veterans Memorial“ -Denkmal in Washington, D.C., entziehen. Unter den an die 58.200 Namen der im Vietnam-Krieg getöteten und vermissten Amerikaner, die dort – in hochglanzpolierte schwarze Granitwände eingemeißelt – zu lesen sind, habe ich den meines Vaters nicht gefunden, als ich vor vier Jahren dort war. Nach Traverse City bin ich nicht geflogen.
*
Mann, was mache ich denn jetzt, ohne Auto, hier draußen? Die Baumkronen vor meinem Fenster bewegen sich kaum. Warum hat eigentlich noch niemand eine automatische Selbstreinigung für Fensterscheiben erfunden? Die würde ich sofort einbauen lassen. Statt dessen vergehen stets zu viele Monate, ehe ich es schaffe, mal wieder zu Fensterleder und Spüleimer zu greifen. Was kann ich dafür – jeden Tag gibt es reichlich Dinge zu tun, die unbedingt wichtiger und allemal interessanter sind als Fensterputzen. Statt zu reinigen trägt der Regen immer neue Staubschichten auf. Martha, meine letzte feste Freundin, hat mir allen Ernstes mal einen Spachtel geschenkt – weil Wasser und Putzmittel nichts mehr hätten ausrichten können; ihrer Meinung nach. Seit dem ändern sich die Sichtverhältnisse in meiner Wohnung wenigstens einmal alle Vierteljahre; okay, zugegeben, alle vier Monate. Damit das klar ist – ich halte meine Wohnung in Ordnung. Wirklich. Schon die Besuche meiner Coaching-Kunden zwingen mich dazu.
An Tagen wie heute fühlt sich Single-Leben nicht gut an. Dir wird gnadenlos bewusst, dass du nicht bloß allein sondern auch einsam sein kannst. Die wenigen Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten, leben in alle Winde verstreut. Auch mit Auto vor der Tür weiß ich das. In der Vielvölkernachbarschaft meines Wohnblocks gibt es niemanden, in dessen Nähe ich jetzt gern wäre.
Spontane Treffen mit einer oder einem der paar Bekannten, mit denen ich gelegentlich abends in Frankfurt zum Essen oder nur zum Schwätzen zusammenhocke – vergiss es ohne umständliche Terminverabredung mindestens zwei Wochen im Voraus.
Selbst wenn – heute müsste ich obendrein ein Taxi nehmen. Denn stets bin ich es, der in die Stadt fährt. Vorzuschlagen, dass jemand von ihnen einmal zu mir kommt, habe ich mir vor Jahren abgewöhnt. Das scheint eine Zumutung vergleichbar mit der Reise nach Sibirien zu sein. Dabei ist der Weg nach Steinbach kaum länger als in der Innenstadt die Fahrt von Bockenheim zum Ostbahnhof. Doch wer abends selbstverständlich zwei, drei Gläser Bier oder Wein trinken will, tut sich höchst ungern eine Autofahrt durch die Wildnis an. Und den unausgesprochenen Vorwurf, den ich stillschweigend darstelle, weil ich keinen Alkohol trinke.
Was macht diese Frau Hauptkommissarin wohl an einem solchen Samstagnachmittag, wenn der dienstliche Einsatz beendet ist? Mit Schuster in die Kneipe ziehen? Schwer vorstellbar. Wahrscheinlich hockt sie im Polizeipräsidium am Computer, tippt ihren Bericht und wartet auf das Ergebnis von Fingerabdrucksvergleichen. Oder sie steht daheim auf der Terrasse und füttert den Familien-Hund.
Für Hunde empfinde ich durchaus Respekt. Aber in meinem Herzen bin ich ein Katzentyp. In Witzenhausen im Haushalt der Großmutter – Opa August war ziemlich früh während des Angriffs auf Polen gefallen (meine Oma sagte dazu immer: „Er ist im Krieg geblieben“) – hatten wir ständig ein oder zwei Katzen. Später, als unsere Claudia noch klein war, bekam sie zwei weiße Mäuse und danach ein Meerschweinchen. Auch wenn ich gern wieder eine Katze hätte; ich bringe es nicht übers Herz, einem solchen Auslauf liebenden Tier das Dasein in einer Hochhauswohnung zuzumuten. Jetzt tauchen bei mir gelegentlich hinter dem Bett oder unter der Wohnzimmercouch ein paar Staubmäuse auf. Soviel zum Thema Haustiere. Wenigstens quietschen die nicht und müssen nicht regelmäßig gefüttert werden.
Wenn einer mir jetzt am Zeug flicken will, dann dieser Oberkommissar Schuster. Dem traue ich das zu; nur so ein Gefühl. Das könnte ihm gefallen; mir Weich-Ei mit meinem Coach-Gelaber zu zeigen, wer hier Leuten wirklich etwas beibringen kann. Aber wie sollte er das anstellen? Was kann er Belastendes finden?
Und wenn er dafür sorgt, dass sich etwas finden lässt?!
Soll alles schon vorgekommen sein.
*
Ich mache mir einen Tee und rufe Tochter Claudia in Santa Fe an, zweimal. Beide Male vergeblich.
So ein Tag, so wunderschön wir heute ...
Letzte Zuflucht vor dem Tal des Trübsinns sind meine Dojo-Matte und die Musikanlage. Zum Entspannen und Meditieren sitze ich im Knien auf den Fersen – die Buddha-Haltung, mit den Beinen wie eine Brezel verdreht, ist mir ein Graus. An diesem Nachmittag müssen es auch wieder die Kopfhörer sein; nicht diese kindischen Ohrsteckerchen sondern richtig gute, deren Polsterung das ganze Ohr umschließt.
Musik erfüllt mich stets mit rätselhafter Verwunderung. Aber bestimmte Naturgeräusche wie Gewitter oder Meeresrauchen sind das unübertroffen Größte. Vor allem, wenn sie zusätzliche Power haben.
Vor etlichen Jahren hat der amerikanischen Toningenieur Robert Monroe eine geniale Erfindung gemacht. Mit ihr lässt sich das Gehirn gezielt beeinflussen. Um Phantasie und Kreativität anzuregen, vor allem um es zu beruhigen, Stress abzubauen und auf angenehme Gedanken zu bringen.
In die sanften Klänge von Musik oder Meer hat Monroe kaum hörbare Basstöne eingebaut, die gleichmäßig pulsieren – aber im linken Ohrhörer etwas langsamer als im rechten; etwa links 100 und für das rechte Ohr 107 mal pro Sekunde. Weil das Gehirn zur Faulheit neigt, fällt es auf den Trick rein: Es merkt zwar den Unterschied, kümmert sich aber weder um 100 noch um 107, sondern wählt die bequeme Differenz von 7. Es schwingt nur sieben Mal pro Sekunde; ziemlich genau im „Theta“- Hirnfrequenzbereich, der tiefe, entspannte Meditation fördert, einfacher und wirksamer als stundenlanges „Omm“.
Für feinsinnig begabte Menschen wie mich ist diese Tontechnik eine Supersache. Aus meiner umfangreichen Sammlung wähle ich eine CD mit Meeresrauschen und „Gamma“-Frequenz – nach den Hirnströmen meditierender tibetanischer Mönche entwickelt; Schwingungen im Bereich von über 70 Hertz pro Sekunde. Hinknien, Kopfhörer aufsetzen, Augen schließen, zwei-, dreimal tief durchatmen. Kaum fünf Minuten später fliegt mein Geist durch die Zimmerdecke.