Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 3
Samstag, 23. Juli 1
ОглавлениеNatürlich hat sie daran gezweifelt, die Frau Kriminalhauptkommissarin. Obwohl sie sich als abgebrühter erwies, als ich anfangs für möglich gehalten hätte. Gelegentlich hat sie sich sogar darüber lustig gemacht. Wenn ich ihr – aus gutem Grund behutsam – mit Einsichten kam, die ihren auf scharfes Denken und beweisbare Tatsachen getrimmten Kriminalistenverstand überstiegen. Nebenbei kratzten sie an dem, was wir alle gern glauben wollen: Die Polizei schützt den Bürger.
Und dann das: Der Bürger schützt die Polizei – vor sich selbst. Das lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Bis Frau Kommissarin es erlebte. An ihren Zweifeln hat sie dennoch festgehalten. Dabei begann alles zwar ärgerlich, aber letztlich harmlos; für mich zumindest.
Es gibt solche Tage, wenn auch nicht oft im Leben. Aber es gibt sie. Tage, an denen etwas geschieht, ein Ereignis, das dich unerwartet und scheinbar zufällig trifft. Auch wenn du so gut wie nichts dazu beigetragen hast, du musst dich damit auseinandersetzen. Danach ist nichts mehr in deinem Leben, wie es vorher war. Auch wenn es eine Weile dauert, bis du das begreifst.
Ferienzeit. Wochenende. Mein Frankfurt-Tag. Den Samstag Vormittag verbringe ich gewöhnlich dort. Wenigstens einmal in der Woche zieht es mich in die Innenstadt, raus aus der Beschaulichkeit des Vordertaunus. Zum Stöbern und flüchtigen Lesen im Buchladen, Abteilung englischsprachige Krimis; gefolgt von einem Ausflug in die Gerüche und das Gedrängel in der Kleinmarkthalle und dem Sichten der DVD-Sonderangebote in einem Elektronik-Tempel. Zwischendurch ein Espresso in der Fußgänger-Zone. Ein kurzweiliger Zeitvertreib in freundlicher Umgebung mit vielfältigen Anregungen zum Schauen, Staunen und sich Wohlfühlen.
Seit Tagen zeigt sich das Wetter von der angenehmen Seite. Reichlich viele Menschen, sommerlich bunt bekleidet, sind in der Stadt unterwegs. Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant eines Großkaufhauses, danach ein Tee. Kurz nach halb eins Gedanken an den Heimweg. Die Sonne strahlt beinahe etwas zu warm. Auf dem weiten Platz um die Hauptwache herum stehen zwei luftige Zelte, davor bunte Plakate einer Initiative gegen Tierversuche; junge Frauen strecken den vorbeischlendernden Leuten Handzettel entgegen. Dazu plärrt nervige Lautsprechermusik. Ein Stück weiter in Richtung Rathenau-Platz hockt ein junger Mann mit schulterlanger Rasta-Mähne auf einem Schemel und trommelt auf seiner Bongo.
Als die Verkehrsampel vor der Goethe-Straße auf Grün springt, streift mich ein kleiner blonder Junge mit seinem roten Lauffahrrad am rechten Unterschenkel. Erst schaut er kurz aus erschrockenen Augen zu mir hoch, um mich im nächsten Augenblick vergnügt anzulächeln.
Verblüffend, wie leicht ein Kind dich für sich einnehmen kann.
„Pass doch auf, Martin!“ mahnt seine blonde Mutter schräg neben mir mit verlegenem Stolz in der Stimme.
„Entschuldigen Sie bitte.“
Ein flüchtiges Lächeln in meine Richtung, schon folgt ihr Blick wieder dem Jungen, der schwankend vor uns herrollt.
„Nichts passiert,“ gebe ich wie eingeübt zurück, während wir die Straße überqueren. Die gängige Art der folgenlosen Kurzzeitbeachtung, die fremde Menschen auf einer Großstadtstraße für einander übrig haben.
Die Goethe-Straße ist die teuerste Boutiquen-Meile in Frankfurt. Hier reihen sich die Läden weltbekannter Edelmarken aneinander, die meisten mit eher kleinen Schaufenstern, viele erkennbar mit Panzerglas. Die durchweg teuren Ausstellungsstücke in den fast immer geschmackvoll gestalteten Auslagen hinterlassen bei mir stets ein zwiespältiges Gefühl. Auch wenn sie hübsch anzusehen sind – muss eine Krawatte wirklich 260 Euro kosten? Oder ein schlichter Hosengürtel 195 Euro? Wer zahlt 23.000 Euro für eine Armbanduhr, nur weil sie mit einem berühmten Schweizer Markennamen daherkommt oder in sächsischer Uhrmachertradition hergestellt wurde? Trotzdem, irgend etwas macht diese teuren Nebensächlichkeiten verlockend. Vielleicht das ihnen eigene Versprechen, sich damit von der Masse der Normalverdiener abzuheben. Zumindest in den Augen derer, die einen Blick für die Marken und ihre Preise haben.
Zum Straßenbild der Zeil gehören seit Jahren ganz selbstverständlich Menschen mit orientalischer Bekleidung oder dunkler Hautfarbe. Obwohl nur einige hundert Meter entfernt, liegen Welten zwischen ihr und der Goethe-Straße. Getrennt durch die Auswahl und Preise der gebotenen Waren ebenso wie durch eine unausgesprochene Vereinbarung. Shoppen in der Goethe-Straße gilt als ein Erlebnis, für das man sich fein macht. Hier kauft man keine Waren sondern erwirbt Statussymbole. Männer treten als Herren auf, tragen Polohemd unter dunkelblauem Blazer sowie klassische Lederschuhe, die edle Goldrandsonnenbrille über der Stirn oder halb verdeckt in der Brusttasche. Die durchweg schlanken Damen ziehen Rock und Bluse den längst hoffähigen Jeans vor.
Du ahnst, von zahlungskräftigen Leuten umgeben zu sein. Einen Hinweis darauf bietet die immer wieder bemerkenswerte Ansammlung teurer und teuerster Autos, die sich samstags auf den schmalen Parkstreifen der Goethe-Straße drängen. Beinahe kann es als Ausnahme gelten, wenn dort kein Bentley oder Ferrari und nicht mindestens eine gute Handvoll Porsche sowie BMW X-5 und Range-Rover mit getönten Scheiben rumstehen. Selbst die meist quergeparkten Smart wirken hier etwas edler als anderswo. Irgendwie passt alles zusammen. Sommer, Sonne und das Luxusflair der Goethe-Straße.
*
Beinahe hätte ich es übersehen. Es dauert einen Augenblick, bis mir bewusst wird, was ich sehe. Und dann noch einmal einen Wimpernschlag, bis ich es begreife. Das kann doch nicht sein?! Schräg vor mir auf der anderen Straßenseite am Ende des Parkstreifens steht – mein BMW X-3. Unmöglich?! Wie kommt der hier hin? Ich muss mich buchstäblich zwingen, erneut und genauer hinzuschauen, obwohl ich es intuitiv bereits weiß: Da drüben steht mein Wagen. Den ich heute Morgen in der Staufenstraße ein Stück hinter der Alten Oper geparkt habe. Ein prüfender Griff an meine Hosentasche bestätigt, meinen Autoschlüssel habe ich bei mir. Ich schaue noch einmal genau hin: Dunkelblau, keine Dach-Reling, seitlich unten die zusätzliche Türschwelle und klar lesbar vorn mein Nummernschild. Eine Fülle verwirrender Gedanken und Gefühle rast mir durch den Kopf. Doch was ich sehe, bleibt dasselbe: Kein Zweifel, mein Auto, dort drüben.
Darin am Steuer sitzt ein Mann, anscheinend kräftig gebaut. Erkennbar sind ein Stück kurzgeschnittener schwarzer Vollbart, ein dunkler hochgeschlossener Pullover sowie eine schwarze Baseball-Mütze, deren gebogenes Schild das Gesicht des Mannes weitgehend verdeckt. Alles schimmert etwas verzerrt durch die Spiegelung in der Windschutzscheibe und seitwärts im Schlagschatten. Erst jetzt spüre ich mein deutliches Herzklopfen und bemerke, dass ich stehen geblieben bin. Der Schreck läuft mir heiß durch den Bauch. Was geht hier vor? Eine harmlose Erklärung finde ich nicht. Nur die Ahnung: Meine gewohnte Fahrt nach Hause kann ich vergessen.
Denk! Denk nach! Ich schaue mich kurz um. Kaum Autoverkehr auf der Fahrbahn und das übliche Bummeln der Menschen auf den Gehwegen. Nichts Auffälliges erkennbar. Ich gehe einfach hin und fordere den Mann auf, mein Auto zu verlassen! Doch ein kribbeliges Gefühl im Nacken lässt mich innehalten: Vorsicht; was, wenn das mehr als ein unschöner Zufall ist?! Irgendetwas an dem Mann wirkt unangenehm, bedrohlich. Vielleicht gerade, weil er nur dunkel und still dasitzt. Mir kommt eine Grundregel aus einem Sicherheitstraining in den Sinn, an dem ich vor einigen Jahren im kalifornischen Santa Cruz teilgenommen habe: Der Angreifer hat fast immer einen Plan; das Opfer dagegen ist meist ahnungslos. Verrückt, was man in solchen Augenblicken denkt. Was ist, wenn der Angreifer eine Waffe hat?
Der Gedanke löst meine Erstarrung ein wenig. Meinem Drang folgend, etwas zu tun, schaue ich mich erneut um: Ich bin klar sichtbar und völlig ungeschützt, wenn ich über die Straße zu dem Wagen gehe. Der Kerl macht einfach die Tür auf und tritt dir in den Bauch. Und das nächste herankommende Auto erfasst dich. Keine gute Idee. Kann ich mich ihm unbemerkt nähern? Er weiß ja nicht, dass mir das Auto gehört, in dem er sitzt. Und dann? Ich halte mich zwar körperlich gut in Form. Aber jeder halbwegs geübte Schlägertyp dürfte mich als Lachnummer abtun.
Während ich noch überlege, die Straße zu überqueren, als ob mich dort ein Schaufenster interessierte, läuft es mir wieder heiß durch den Bauch: Auf meiner Straßenseite ein Stück vor mir, gegenüber und dann einige hundert Meter weiter hinter meinem BMW befinden sich drei Edelläden für teure Uhren, Schmuck und Juwelen. Schlagartig begreife ich, was vorgeht: Genau, der Mann in meinem Auto sitzt da, als ob er auf jemanden wartet. Oder auf etwas. Wozu man ein gestohlenes Auto benutzt.
Denken nutzt zwar selten, hilft aber manchmal. Dort drüben steht mein Auto mit einem fremden Mann darin. Egal wie die zwei da hinkommen und was dort vorgeht, in jedem Fall ist es Autodiebstahl. Folglich Sache der Polizei; klar doch, ich brauche die Polizei. Möglichst schnell.
*
Stecken Sie Ihren Kopf freiwillig in einen Mikrowellenherd? Auch wenn Millionen von Menschen etwas tun, was dem nahe kommt – ich lebe bewusst und gern ohne Mobiltelefon. Und fühle mich durchaus als vollwertiger Mensch. Jetzt allerdings wäre ein Handy von unschätzbarem Wert. Nach einer öffentlichen Telefonsäule brauche ich gar nicht zu suchen; die sind hier längst ausgestorben. Mist, wie erreiche ich möglichst schnell die Polizei?! Ohne wirklich hinzuschauen sehe ich eine Frau ein Handy in ihre Handtasche stecken und in einen Smart steigen. Richtig!
Ich sehe mich kurz um. Neben mir dreht sich ein sportlich wirkender Mann um die dreißig von einem Schaufenster weg.
„Entschuldigen Sie bitte, dies ist ein Notfall. Haben Sie ein Handy? Dürfte ich für eine Sekunde Ihr Mobiltelefon benutzen, ich muss die Polizei anrufen. Es ist wirklich dringend.“
Der Mann, freundliches Gesicht, blonder Haarschopf schräg über der Stirn, stutzt, nickt knapp und macht eine Handbewegung in Richtung der Innentasche seines Sommerjacketts. In dem Augenblick legt eine superschlanke, jüngere Frau mit einem glitzernden Kristall auf dem rechten Nasenflügel ihre Hand auf seinen Unterarm. Dass die beiden zusammensind, hatte ich nicht erkannt. Kaum hat sie sich zu mir gedreht, erklärt sie näselnd:
„Junger Mann, kaufen Sie sich gefälligst selbst ein Handy. Dann gewöhnen Sie sich gleich an die Preise.“
Sie gibt ihrem Begleiter einen leichten Schubs. Der Mann zuckt überrascht zurück, lächelt verlegen und murmelt verhalten:
„Vielleicht besser so.“
Damit wendet er sich ab, während sie im Weggehen lauter als nötig tönt:
„Wie kommen wir denn dazu! Unglaublich, was es für Leute gibt.“
Danke, ihr mich auch mal!, durchzuckt es mich.
Mann, ich brauche Hilfe! Will doch nur die Polizei verständigen ... dringend. Und mein Auto wiederhaben.