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3.1Letzte Gründe für den Geschichtenerzähler?
ОглавлениеWas Menschen in den verschiedenen Bereichen ihres Lebens für wirklich, für möglich und für unmöglich halten, dies ist im Wesentlichen durch Erzählungen geprägt. Sogenannte letzte Gründe gründen sich nicht auf einleuchtende Gewissheiten. Sie wurzeln vielmehr in Erzählungen. Wer immer weiter nach Begründungen fragt, findet weder ein Fundament der Gewissheit noch letzte Gründe. Wer so fragt, endet irgendwann in einer Geschichte als Story.
Die am Typus der philosophischen Theologie orientierten akademischen Lehrer, Pfarrer und Kirchenleitungen übersehen zwei Aspekte, die die mythische Theologie zutiefst prägen: die Dramatik der Erzählung und die Kommunikation von Gefühlen. Brechen diese beiden Elemente in der religiösen Praxis auf, so rufen sie nachhaltige Irritationen hervor. Fehlen sie in der Theologie, so geschieht zweierlei – das Weltabenteuer Gottes wird in seiner Dramatik und Dynamik nicht angemessen erfasst und die kühle emotionale Bewegungslosigkeit des Glaubens lässt nach Alternativen suchen. Säkularisierung heißt auch: Dramatischere und gefühlsgesättigtere Alternativen bewegen die Menschen mehr.
In einer Mediengesellschaft zu leben, heißt für die Kirchen zunächst, in einer Erzählmaschinerie zu überleben. Das Denken und Erleben von Milliarden von Menschen wird wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte durch audiovisuell erzählte Geschichten geprägt – von den Abendnachrichten bis zu Fantasyfilmen, von Krimis bis Talkshows. Der Mensch war schon immer ein homo narrans, ein Geschichtenerzähler. Geschichten inspirieren und formen die Aspirationen von Menschen. Weil dem so ist, war das Erzählen von Geschichten schon immer eine Praxis der Machtausübung: der Macht der Deutung und Bestimmung von Wirklichkeit. Allerdings gab es noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine so vielstimmige wie multimediale, so tief beeindruckende wie machtvoll verohnmächtigende Erzählmaschinerie wie die Unterhaltungsindustrie und die Presse. Es wird nicht eine Geschichte, sondern es werden vielfältige Geschichten erzählt und dramatisch aufgeführt.
Wie jedermann beobachten kann, hat auch die Entwicklung des Internets die Erzählmaschinerien des Kinos und des Fernsehens nicht abgelöst, sondern machtvoll erweitert und umgebaut. Auch die fernsehabstinenten Jugendlichen genießen die Erzählmaschine Netflix. Und deren Algorithmen sind so entwickelt, dass die Konsumierenden unbewusst weiter in die Erzählmaschinen hineingesogen werden. Damit wird nicht nur eine hohe Kundenbindung erzielt, sondern auch eine weitere Vertiefung der Wünsche, welche Erzählungen man gerne hört bzw. sieht. Die Sehnsüchte der Zeit, aktuelle und daueraktuelle, werden so in die Erzählungen der Maschine aufgenommen.