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4.2Liebe, Tod und Wirtschaft
ОглавлениеIn vielen Weltgegenden ist bis heute die Familie der Ort, an dem sich vitales Leben in der Lebensweitergabe an künftige Generationen entfaltet. In den »Kindern und Kindeskindern« setzt sich das Leben gegen den Tod durch. So kann die Sexualität die Feier des sich entfaltenden Lebens sein. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die die Schwellen und Abbruchkanten des Lebens puffert, kann in diesen Vitalismus integriert werden. Auch eine ökologische Ethik oder eine Beschwörung der Integrität des Lebens kann in diesen Rahmen eingepasst werden.
Ein großes Feld des Vitalismus ist die Wirtschaft. Die Idee und die Praxis eines entfesselten Kapitalismus hat eine schlichte Einsicht zur Grundlage: Regeln sind Fesseln. Ebenso Praktiken der Rücksichtnahme und der Solidarität. Nur eine ungehemmte Entfaltung der Kräfte und eine offene Durchsetzung der Interessen führen zur Entwicklung einer leistungsfähigen Wirtschaft und so zum Wohl der Menschen. Der Starke darf sich durchsetzen. Der Schwache darf zugrunde gehen. Genau dies wird vom Vitalismus als Lebensgesetz beschworen.
Vitalisten feiern radikale Diesseitigkeit und sind auf ihre Weise »der Erde treu«. Nicht zu vergessen: Vitalisten sind auch noch im Sterben Helden, die selbstbestimmt und frei sein wollen, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Sie wollen ihr Leben in den Händen halten – auch noch im Tod als Handlung. Echte Männer fahren keinen Rollator, echte Frauen verlieren nicht die Kontrolle über ihren sozialen Nahbereich.
Selbstverständlich kann der Vitalismus auch in verfeinerten und »verpuppten« Formen auftreten. Die effektive Macht und Kraft der Selbstdurchsetzung kann sich hinter einer Selbststilisierung als einfaches oder gar multiples Opfer verbergen. Die Macht der Durchsetzung kann sich in einen vermeintlich fürsorgenden Paternalismus oder Maternalismus kleiden. Der Vitalismus kann sich unschuldig hinter Selbstverständlichkeiten und dem Common Sense verstecken: »Das ist doch so! Das machen wir immer so!« Der Vitalismus kann sich des Rechts bedienen, denn Rechte sind nichts anderes als legitime Interessen.
Als religiös-mythische Formation findet sich der Vitalismus mustergültig in den Gestalten der nordischen Religion. Über Filme, Kartenspiele, Festivals und andere Kommunikationsformen »sickert« die nordische Religion der Stärke, Ehre, der Fruchtbarkeit und des Stolzes, die der holländische Theologe Heiko Miskotte in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem Buch »Edda und Thora« so eindrücklich beschrieben hat, zunehmend in die Popularkultur der Gegenwart ein. Auch der Vitalismus kann sagen: Das Leben siegt! Aber welches? Und wie? Wann? Und wessen Leben?