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VORWORT
ОглавлениеDieses Buch ist eine Einladung zu Entdeckungen. Ich hoffe, dass es ermutigende, tröstende und stärkende Entdeckungen und zugleich selbstkritische und ein Umdenken provozierende Entdeckungen sind.
Dieses Buch ist eine Einladung für einen hoffnungsvollen Realismus. Es ist ein Plädoyer für einen empirischen und einen theologischen Realismus in Sachen Kirche. Der hier vorgeschlagene Realismus ist hoffnungsvoll, weil er theologisch auf Gottes Lebendigkeit setzt. Entdeckt die Kirche ihren Ort im Weltabenteuer Gottes, so kann sie beides überwinden, die Selbstillusionierung und die Erschöpfungsdepression. Im Weltabenteuer Gottes kann sie mit der notwendigen Verwegenheit und möglichen Gelassenheit Glaube, Liebe und Hoffnung kommunizieren. Wer dies interessant findet, der sollte weiterlesen.
Wir leben in hysterischen Zeiten, in denen – um diese plakative Zuschreibung aus dem Wortschatz der Psychopathologie zu erweitern – die Kirchen zunehmend manisch-depressiv werden. Nicht wenige Verlautbarungen von Synoden lesen sich wie eine Mischung aus depressiver Anklage gegen die Welt und manischem Machbarkeitsbewusstsein. Manche Forderungskataloge einer Öffentlichen Theologie offenbaren mehr eine Theologie der Verzweiflung als eine Theologie der Hoffnung. Sind sie Klagen mit falscher Adresse? Verdeckt unter dem Lack des Zweckoptimismus (»Wir schaffen das mit der Gerechtigkeit und dem Frieden«) und dem Furnier des Empörungsgestus findet sich die spirituelle Verzweiflung über den Zustand der Welt. Backen aufpusten reicht hier nicht. Pfarrerinnen und Pfarrer sind als »menschliche Leuchttürme« nach Jahrzehnten organisatorischer Kirchenreformen zunehmend ausgezehrt und erschöpft. Jede schlaue neue Rettungsidee bedeutet Mehrarbeit und reduziert die Zeit auf dem Friedhof auch nicht. Und obendrauf kam noch die Demütigung in der Coronakrise: Offene Baumärkte sind wichtiger als offene Kirchen. Dabei fällt auf: Die evangelischen Kirchen, die mit großer Routine irgendwelcher Politik ein Totalversagen vorwerfen, sind äußerst dünnhäutig, wenn sie selbst kritisiert werden.
Moralischer Alarmismus prägt die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Empörung scheint der Standardmodus öffentlicher Kommunikation geworden zu sein. Ja, die Empörung hat reale Ungerechtigkeiten im Auge. Die westlich-liberalen Gesellschaften stehen mitten in einem kulturellen Bürgerkrieg zwischen Kosmopoliten und Regionalisten. Mittendrin stehen die Kirchen, gefangen in der vermeintlichen Alternative von moralischer Selbstradikalisierung und einem mal eher bangend-nervösen und mal eher routinierten Weiterwursteln. Jahrzehnte von Reformen der Organisationsstrukturen haben weder zu einschlägigen Erfolgen (»Wachsen gegen den Trend!«) noch zu einer inneren Entspannung geführt. Oder sollen sich die evangelischen Kirchen gesundschrumpfen? Immer kleiner, immer reiner und immer feiner? Einem gewissen Krisenbewusstsein kann sich kaum jemand entziehen. Nur: welche Krise? Und: wie viele? Auch die einsetzende Verarbeitung der Coronakrise lässt noch nicht erkennen, welche Impulse die Kirchen dauerhaft beleben und welche Fragen sie noch lange verfolgen werden.
Welche Rolle kommt den Kirchen in den Spannungen des nächsten Jahrzehnts zu? Mein Vorschlag: die Nerven bewahren und Entdeckungen machen. Solche, die das Selbstbewusstsein der Kirchen und ihrer Mitglieder stärken, und solche, die Korrekturen auslösen. Nicht nur manches, nein, vieles in der Kirche läuft richtig gut. Vieles gelingt und wird in seinem Gewicht und seiner Bedeutung nicht angemessen wahrgenommen. Dennoch gibt es Wege in die Sackgasse. Es gibt Ideen und Haltungen, die zu mehr Problemen als zu Lösungen führen, ja, die oftmals das Ausgangsproblem erst hervorrufen, das sie zu bekämpfen meinen. Da es mir aber in der Tat um beide Spielarten der Entdeckung geht, hoffe ich, dass dieser Band nicht auf dem Stapel endet, über dem ein Post-it-Zettel hängt, auf dem steht: »Akademische Nörgler und katastrophenverliebte Retter«.
Und, nicht zu vergessen, es gibt Fragen, die auf eine Antwort warten. Hinter der Krise der Mitgliedschaft verbirgt sich nicht nur eine kommende Finanzkrise. Es tritt eine schon lange schwelende, im Kern theologische Krise zutage: »Warum sollte man in einem entwickelten Sozialstaat mit einer Fülle sich für die Humanisierung der Welt einsetzender NGOs eigentlich noch in der Kirche sein?« Solange die Kirchen darauf keine Antwort haben, nützt alles Rühren im organisatorischen Brei recht wenig.
Dieses Buch ist das Ergebnis vieler Gespräche mit engagierten Laien, mit Pfarrerinnen und Pfarrern, Menschen in der Kirchenleitung, mit »religiös unmusikalischen« Sympathisanten der Kirche und echten Kritikern. Zugleich bietet das Buch eine vorläufige Bilanz eines langen inneren Gesprächs. Darum behalte ich die Form bei, in der es Fragen, Rückfragen und die Sichtweise der ersten Person gibt. Es ist ein Beitrag zu einem weitergehenden Gespräch. Es möchte – auch mit seinen Spitzen – zu einer neuen theologischen Nachdenklichkeit anregen. Theologie ist ein Produkt, das nie die Werkstatt verlässt.
Dieser Band wendet sich nicht nur an Menschen, die an der Universität Theologie studiert haben, an Profi-Theologen. Die Leser, die ich mir selbst wünsche und erhoffe, sind Menschen, die zunächst in der Kirche Verantwortung für die Kirche übernehmen möchten und dann auch die Verantwortung der Kirche für ihre Umgebungen erkennen möchten. Dies sind aber auch nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer. Es sind auf ihre Weise Kirchengemeinderäte, Ehrenamtliche, Religionslehrer und Diakone, Mitarbeiter der diakonischen Werke und all der »Werke und Einrichtungen« der Kirche. Es sind Christen in kirchlichen Bildungseinrichtungen, die haupt- und ehrenamtlichen Kantorinnen und Kantoren und nicht zuletzt im engeren Sinne kirchenleitend Tätige. Es sind aber auch die Laien, die in ihrem Alltag mit Gummistiefeln durch moralische Morastlandschaften gehen und ebendies als Christen tun wollen und müssen. Radikal und konsequent evangelisch gedacht, richten sich daher die folgenden Vorschläge an alle getauften evangelischen Christen. Wenn sie auch faire Skeptiker und neugierige Zweifler erreichen, dann würde ich mich darüber freuen.
Meine Hoffnung ist, dass der Beobachtungsballon, den dieser Band darstellt, hoch genug fliegt, um erweiterte Sichtweisen und überraschende Blicke auf die Landschaft der Kirche zu ermöglichen. Zugleich soll der Beobachtungsballon aber doch so tief fliegen, dass die Menschen, die am Boden ihrer alltäglichen Arbeit innerhalb und außerhalb der Kirche nachgehen, noch gesehen werden können.
Die Akteure im Feld der wissenschaftlichen Theologie werden sicherlich an sehr vielen Stellen wichtige Unterscheidungen vermissen und etwas mehr Umsicht einfordern. Zu breit ist in ihren Augen hier und da der Pinselstrich, zu holzschnittartig die Argumentation. Manches hätte deutlich ausgewogener formuliert werden können. Sicherlich. Gestaltungsorientiertes Wissen wird sich aber immer in Konkretisierungen hineinwagen müssen. Gestaltungsorientiertes Verstehen wird immer der Versuchung widerstehen müssen, sich selbst freudig im Meer der zehntausend Differenzierungen zu ertränken. Allzu oft lieben wir Theologen die Probleme mehr als die Lösungsvorschläge. Weil wir die Komplexität so sehr mögen und das Risiko der Zuspitzung scheuen. Wo in so schwierigen Debatten um die Verantwortung der Kirche in der Gegenwart die notwendige und ganz pragmatische Vereinfachung endet und wo eine zu weitgehende Vereinfachung beginnt, ist vorab schwer entscheidbar.
Wahrscheinlich zum Entsetzen der akademisch orientierten Leser und zur Freude der Laien und derjenigen Theologen, die keine Zeit und keine Energie für das Kleingedruckte haben, verfügt dieser Band über keine Fußnoten und keine Quellenangaben. Theologische Weichenstellungen und Gespräche sind nicht durch Fußnoten angezeigt, sondern alle im Text gegenwärtig. Anmerkungen und Fußnoten hätten den Umfang verdoppelt. Sie hätten die Zeit für das Verfassen des Bandes vervierfacht. Angesichts der eigenen Endlichkeit hätten sie ihn vielleicht nie das Licht der Welt erblicken lassen. Die Leser mögen entschuldigen, dass ich meinte, aus der Not eine Tugend machen zu können. So entstand ein langes Essay.
Am Ende dieser Einleitung gilt es einen Dank auszusprechen. Ohne Sigrid Brandt, Gottfried Class, Christoph Chalamet, Ralf Frisch, Gabriele Wulz, William Schweiker und Annette Weidhas gäbe es diesen Band nicht. Sie alle wissen, welchen Anteil sie daran haben. Noch vielen anderen ist zu danken für Impulse und Kritik. Danke!
Das von der John Templeton Foundation geförderte interdisziplinäre und internationale Forschungsprojekt »Enhancing Life« bot über Jahre einen fruchtbaren Kontext zur Entwicklung der in diesem Buch vorliegenden Einsichten. Nicht zuletzt von den Gesprächen mit eher ›religiös unmusikalischen‹ (Max Weber) und kritischen, aber an Religion und Humanität interessierten Zeitgenossen habe ich sehr profitiert.
Noch ein Hinweis zur Lektüre. Dieses lange Essay kann ganz ungeordnet gelesen werden. Wer irgendwo mittendrin anfangen möchte, soll dies tun. Egal wo. Meine Hoffnung ist, dass die Sache so interessant ist, dass das Interesse für die anderen Teile von alleine wächst.
Bochum, im Juli 2020
Günter Thomas