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ISTATT EINER EINLEITUNG: DIE THESEN DES BANDES IN KURZFORM

Die Kirchen sind kein Stück Treibholz auf dem Meer der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie sind ihren Umgebungen und deren Kräften, seien es demographische Entwicklungen oder Säkularisierungsschübe, nicht nur schicksalhaft ausgeliefert. Sie erzeugen sie mit. Sie werden zu Opfern ihrer eigenen Fehlentwicklungen und profitieren zugleich von ihren klugen Entscheidungen und förderlichen Umgebungen. Die Kirchen können sich ihre Umgebungen aber auch nicht aussuchen. Sie können sich niemals wie Mister Spock in der Serie »Raumschiff Enterprise« aus ihren gesellschaftlichen, kulturellen und natürlichen Umgebungen »herausbeamen«. Sie können sich mit ihren Umgebungen selbstbewusst und kritisch auseinandersetzen. Sie müssen sich ihnen nicht fatalistisch ausliefern. Sie können sich mit ihrem eigenen Denken und Handeln bewusst und selbstkritisch verhalten. Sie können genau darin Verantwortung übernehmen. Darum geht es in diesem Band.

1.THEOLOGIE – NICHT NUR REFORM DER ORGANISATION

Auf die vielfältigen Herausforderungen haben die Kirchen in den letzten Jahrzehnten vornehmlich mit Reformen der Organisation reagiert. Eine der grundlegenden Thesen dieses Bandes ist: Für die Bewältigung der gegenwärtigen und noch kommenden Krisen bedarf es auch theologischer Neuorientierungen. Organisationsreformen, so notwendig sie sind, sind nicht ausreichend. Organisation und theologisches Selbstverständnis sind vielmehr eng miteinander verknüpft. In jede kirchliche Organisationsgestalt ist eine Theologie eingeschrieben. Jede theologische Orientierung sucht organisatorische Entsprechungen. Mit Reformen der Organisation lassen sich aber keine Probleme der sachlichen Ausrichtung in der Rede von Gott lösen. Meine Überzeugung ist, dass die tiefe Erschöpfung in der Kirche eine Erschöpfung ist, die durch die Reformen eher verstärkt denn gemindert wurde. Darum gilt es, Fragen nach theologischer Orientierung zu stellen. Die Probleme der Kirche sind nicht nur Organisationsprobleme. Es sind auch Probleme der theologischen Orientierung, ja zum Teil der theologischen Fehlorientierung. Organisationen wie theologische Orientierungen können zu Ruinen verfallen, die in neuen stürmischen Zeiten nur noch unzureichend Schutz gewähren.

Angesichts des massiven Einbruchs der Kirchensteuereinnahmen infolge der Coronakrise und der steigenden Zahl der Kirchenaustritte empfiehlt der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, aktuell, »einen selbstkritischen Blick auf gewachsene Formate und Strukturen« zu werfen. Man reibt sich die Augen. Und die Sache? Gibt es auch einen selbstkritischen Blick auf die Botschaft, auf die vertretenen Inhalte?

Um das sehr begrenzte Modell der Wirtschaft nur für einen Moment zu bemühen: Die Kirche wirkt oftmals wie eine Firma, die angesichts von Absatzproblemen und Problemen der Kundenbindung eben Bilanzprobleme hat. Als Reaktion darauf reagiert sie mit Optimierungen der Verpackungen, einer Neustrukturierung der Vertriebswege, einer besseren Schulung der Außendienstmitarbeiter und schließlich mit einer Erhöhung des Werbeetats. Wenn – was selten vorkommt – die entscheidende Frage nach dem Produkt aufkommt, dann ist vor der eigenen Antwort die Frage zu hören: »Wie können wir uns der Konkurrenz anpassen?« Um in diesem sehr begrenzten Modell zu bleiben: Diese Herangehensweise ist falsch oder zumindest grob unzureichend. Sie ist letztlich verantwortungslos. Diese Haltung ruiniert die Firma. Sie dokumentiert ein Managementproblem.

Dieser Band möchte ermutigen, über das Produkt der Kirche nachzudenken. Und: dabei geduldiger und entschlossener nach den Eigenheiten des eigenen Produktes fragen. Darum der Untertitel »Impulse zur Verantwortung für die Kirche«.

2.KRÄFTE UND MÄCHTE DER GEGENWART WAHRNEHMEN

Jede Reform und jede Notwendigkeit einer Veränderung unterstellt sich ein Bündel an Problemen oder Herausforderungen. Aus den Herausforderungen einer wohl fortschreitenden Säkularisierung, eines schwer bremsbaren Mitgliederschwundes und einer kommenden Finanzkrise kann sich keine Kirche und keine Gemeinde herausträumen. Sie müssen die Gegenwart angemessen wahrnehmen.

3.FEHLER IM GEWEBE DER THEOLOGIE

Jede Organisation ist geneigt, die eigenen Probleme den Faktoren und Kräften in ihrer Umgebung zuzuschreiben und die eigenen Erfolge sich selbst. Wenn es gut läuft, ist es alles das eigene Handeln, wenn nicht, erlebt man sich als Opfer überwältigender Kräfte. Kirchen sind von dieser »kreativen Buchführung« in der Beschreibung von Ursachen nicht ausgenommen. Wird die kirchliche Gegenwart ehrlich und selbstkritisch betrachtet, so stellt sich eine unangenehme Frage: Welche theologischen Entscheidungen und Entdeckungen der letzten Jahrzehnte oder gar der letzten zwei Jahrhunderte bedürfen einer Korrektur – weil sie sich eben als irreführend und selbsttäuschend erwiesen haben? Um an dieser Stelle sehr deutlich zu sein: Es geht nicht um die Frage, ob wir die betreffenden theologischen Einsichten lieben und intellektuell überzeugend finden. Nein. Die Frage ist schlicht: Haben sie sich bewährt? Ich unterstelle dabei, dass sie gewirkt haben. Sie sind, so meine These, wie alle theologischen Antworten problemschaffende Lösungen, allerdings solche, bei denen die mit der Lösung mitgeschaffenen Probleme heute überwiegen. Oder aber es sind Fehloptimierungen, bei denen die Lösung so optimiert wird, dass das zugrunde liegende Problem wieder miterzeugt wird oder aber neue überwältigende Probleme geschaffen werden. Auf jeden Fall gilt: theologische Fehlersuche betreiben! Dabei ist offensichtlich: Ob die Fehlersuche überzeugt, hängt davon ab, ob man meine Problemwahrnehmung teilt. Das ist natürlich ein Zirkel. Aber es gilt, ein diffuses Gefühl des Unwohlseins in Sachen theologischer Orientierung anzugehen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, Denkrituale zu beenden, Immunisierungsreaktionen zu unterdrücken – um Theologie als lösungs- und wahrheitssuchende Unternehmung zu begreifen.

4.WEICHENSTELLUNGEN: GOTTES LEBENDIGKEIT UND SEINE ENTDECKERGEMEINSCHAFT

Die theologische These des Bandes ist eine so einfache wie weitreichende – sollte sie sich bewahrheiten. Nicht nur der akademischen Theologie, sondern auch der Kirche in ihren vielfältigen Erscheinungsformen ist die Vorstellung von Gottes Lebendigkeit abhandengekommen. Gottes Lebendigkeit in ihrem besonderen Reichtum, ihrer Differenziertheit, ihrer Zugewandtheit und Freiheit ernst zu nehmen, scheint mir wesentlich zu sein für die Verantwortung der Kirche. Öffnet sich der Blick für Gottes Lebendigkeit, so wird deutlich, dass die Kirche eine Entdeckergemeinschaft des »Weltabenteuers Gottes« (Hans Jonas) ist. Glaube ist darum vor allem Handeln, die wahrnehmende Entdeckung, im Weltabenteuer Gottes zu leben und sich dafür in Anspruch nehmen zu lassen. Glaube ist zugleich die Wahrnehmung von Gottes lebensförderlichen und doch auch dramatischen Verwicklungen in die Entwicklung der Welt. Der Glaube entdeckt, wie Gott die Welt berührt und bewegt und selbst von ihr berührt und bewegt wird.

5.DIE EINHEIT VON GLAUBE, LIEBE UND HOFFNUNG

Der konstruktive Vorschlag, der in diesem Band zu den Krisen der Kirche unterbreitet wird, ist: Die von Apostel Paulus ins Auge gefasste, als vom Geist Gottes gewirkte Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung umreißt eine Gestalt der Kirche und des christlichen Lebens im Weltabenteuer Gottes. Die eng verknüpfte Dreiheit kann, so die These, in der Gegenwart nicht nur irritieren, sondern auch orientieren, trösten und ermutigen. Die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung antwortet stets auf Gottes Vertrauen, Liebe und Hoffnung. Sie weist einen Weg der Kirche, der an der Skylla einer erschöpfenden moralischen Weltverantwortung ebenso vorbeiführt wie an der Charybdis einer spirituell aufgeheizten, aber letztlich bequemen und weltabgewandten Spiritualität. Die kecke These des Bandes lautet darüber hinaus: Wenn die Kirche die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung ernst nimmt, dann kann sie auch den aktuellen kulturellen Herausforderungen getrost begegnen. Um die Entdeckung der Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung geht es.

6.KONSEQUENZEN

Wenn die Kirche Gottes Lebendigkeit und die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung realisiert, dann hat dies Folgen. Dann geht sie anders mit den Fragen um den Säkularisierungsprozess um – entspannter und zugleich unverschämt mutiger. Dann findet sie neue Zugänge zu Mitgliederfragen. Ja, dann macht sie an sich selbst Entdeckungen von halb gehobenen und ungehobenen Schätzen. In der Verantwortung des Glaubens in Öffentlichkeiten außerhalb der Kirche wird sie der Versuchung widerstehen, die Rede von Gottes vielgestaltiger Lebendigkeit im Weltabenteuer zu übersetzen. Sie wird sie stattdessen mit Geduld und Verwegenheit erläutern.

Im Weltabenteuer Gottes leben

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