Читать книгу Im Weltabenteuer Gottes leben - Günter Thomas - Страница 9

2.SIND DIE RICHTIGEN OPTISCHEN INSTRUMENTE IM WERKZEUGKOFFER DER THEOLOGIE UND DER KIRCHE?

Оглавление

Jede Berufsgruppe, die sich mit der Krise bzw. den Krisen der Kirche befasst, sieht ihre ganz eigene Krise. Mit Organisation betraute Menschen sehen Organisationskrisen. Finanzfachleute sehen Finanzkrisen. Theologen sehen theologische Krisen. Das ist so richtig wie falsch. Es zeigt, dass die Diagnose der Krise – um ein Bild zu gebrauchen – von dem optischen Beobachtungsinstrument abhängt. Jeder hat seine Brille. Die verschiedenen Beobachter sehen nicht richtig oder falsch, sondern eben anders. Trotzdem können die optischen Instrumentarien auch wirklich ungeeignet oder gar völlig unzureichend sein.

Meine Frage ist daher: Warum erscheinen die meisten Systematischen Theologen (in der Disziplin, die die Kirche in Fragen des Glaubens in der Gegenwart orientieren sollte) gegenwärtig so tiefenentspannt und sehen keine theologische Krise? (Die intensiven Debatten um das Schriftprinzip und die Säkularisierung sind vorbei.) Der Grund ist darin zu finden, dass sie mit dem falschen Werkzeugkasten und darum mit den falschen optischen Instrumenten beobachten. Dies gilt es mutig zu korrigieren. Wo steckt also das Problem? Meine These: Der Blick der Theologie auf ihre Umgebungen ist zu eng. Er muss sich erweitern.

Um das Problem zu erfassen, muss man in der Tat fast 2.000 Jahre zurückblicken. Der Kirchenvater des lateinischen Christentums im Westen, Augustinus, berichtet in seinem Werk »Der Gottesstaat« von dem römischen Gelehrten Marcus T. Varro (116 v. Chr. – 27 v. Chr.). Varro unterscheidet drei Typen der Theologie und entsprechend drei Formen der religiösen Praxis im vorchristlichen römischen Reich. Es gibt eine politische Theologie oder theologia civilis, in der es darum geht, »welche Götter von Staats wegen der jeweilige Bürger verehren und welche heiligen Handlungen und Opfer er machen soll«. Daneben gibt es eine mythische Theologie oder eine theologia fabularis, die sich bei den Dichtern und in den Aufführungen des Theaters findet. Der dritte Typ der Theologie und der religiösen Praxis ist die philosophische Theologie oder die theologia naturalis.

Die politische Theologie bleibt bewusst relativ unbestimmt und kann eben dadurch das integrierende Dach für den einen Staat und die Vielfalt der mythischen Religionen sein. Die politische Religion ist hart in der Durchsetzung und vage im Inhalt. Weil sie hart durchgesetzt wird und inhaltlich vage bleibt, kann es unterhalb von ihr einen weiten Religionspluralismus im Reich geben. Weil die ersten Christen diese politische Theologie ablehnten, galten sie als Atheisten und setzten sich der Verfolgung aus.

Die mythische Theologie lebt in Erzählungen und kennt eine Vielzahl miteinander streitender und kämpfender Götter. Es ist die heiße Religion der Popularkultur, voller Konflikte und Gewalt, voller Dramatik, reich an Emotionen und eher frei von staatsbürgerlicher ethischer Orientierung. Es ist die Religion eines ganzen Götterpantheons oder – wollte man einen Blick nach Asien werfen – die Religion einer Göttin mit drei Köpfen oder zweiundzwanzig Armen. Sie lebt im Tanz, im Lied, im Ritual und in der Feier des Außeralltäglichen. Ekstase, nicht besonnene Pflichterfüllung oder kühles Erkennen, ist ihr Lebenselixier. Nicht umsonst wollte sie der griechische Philosoph Platon in seinem Entwurf eines Idealstaates schlicht komplett kontrollieren und im Zweifelsfall verbieten – eben um sie durch moralisch lupenreine und vernünftige Erzählungen zu ersetzen.

Die philosophische Theologie ist dagegen kühl, nicht heiß. Sie ist präzise, weder vage noch chaotisch. Sie sucht erste, letzte und vereinheitlichende Prinzipien, setzt auf Ordnung, auf Kohärenz und vernünftige Durchdringung. Sie baut auf den Dialog, die Vernunft und das gute Argument. Gefühle scheut sie wie der Teufel das Weihwasser. Der Gräzist Walter Burkert nennt sie darum »Philosophische Religion«.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches wollte die christliche Kirche alle drei Religionsgestalten aufnehmen und ineinander integrieren – mit zwiespältigen Folgen. Bis in die Gegenwart hinein folgenreich ist allerdings eine Entscheidung, die von der gesamten frühen Kirche übernommen, aber schon von dem großen jüdischen Philosophen und Theologen Philo im damaligen kulturellen Hotspot Alexandrien (dem heutigen Alexandria) gefällt wurde. Philos Frage war: Woran soll die jüdische Theologie in der Begegnung mit Griechenland und Rom anschließen? In welcher Form der Theologie soll sich jüdischer Glaube in der griechischen und römischen Welt ausdrücken? Soll die jüdische – und dann wenig später auch die christliche – Theologie mit dem Werkzeugkasten der heißen, gefühlsbetonten und chaotischen mythischen Religion oder mit dem Werkzeugkasten der kühlen, gedanklich klaren und Kohärenz suchenden philosophischen Religion arbeiten?

Wie die Schweizer so treffend formulieren können, »gleiste« Philo von Alexandrien die jüdische Theologie auf die Schienen der philosophischen Theologie auf. Auf diesen Schienen rollt der Zug der westlichen Theologie bis heute. Auf diesen Schienen fahren die aufgeklärt liberalen Kirchen des Protestantismus.

Im Kern war die Entscheidung Philos theologisch begründet. Er sah nur in der philosophischen Religion mit dem Gedanken der Unwandelbarkeit Gottes die Möglichkeit, die Treue Gottes zu entfalten. Seine Entscheidung ist auch christlicherseits nachvollziehbar, ist aber dennoch in mustergültiger Weise eine problemschaffende Lösung. Eine Lösung mit extrem hohen Folgekosten.

Die Gottesfrage wurde im Abendland zum philosophisch-intellektuellen Abenteuer. Die akademische Ausbildung von Theologen folgt bis heute weithin dieser Entscheidung Philos. Die Philosophie ist wichtiger als die Literaturwissenschaft oder die Medienwissenschaft. In den Bibelwissenschaften wird dies natürlich anders gesehen – aber zu wenig für die Analyse der gegenwärtigen Umwelten der Kirche fruchtbar gemacht. Warum ist diese vor rund 2.000 Jahren in Kairo getroffene Entscheidung für die heutigen Debatten um die Krisen der protestantischen Kirchen des Westens wichtig? Ist die Verbindung nicht doch »weit hergeholt«?

Ich möchte die These vertreten, dass diese Weichenstellung bei aller relativen Berechtigung eine enorm problemschaffende Lösung war und ist. Der Anschluss an die »philonische Entscheidung« begünstigte das Entstehen von zwei Problemen, die beide im Zentrum der Krise der westlichen Kirchen stehen:

1. Die Theologie hat nicht die richtigen optischen Instrumentarien, um die Umgebung der Kirche angemessen zu beobachten. Eine am Typus der philosophischen Theologie ausgerichtete Theologie (und Kirche) übersieht die mächtigen Praktiken und Kräfte der mythischen Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Theologie ist in der Gefahr, systematisch zu übersehen, was Menschen bewegt und welche Kräfte durch sie leben.

2. Im Rahmen des Typus der philosophischen Theologie geriet in der christlichen Theologie und in den Kirchen die dramatische Lebendigkeit Gottes aus dem Blick. Gerät allerdings Gottes dramatische Lebendigkeit aus dem Blick, so gewinnt im Verbund mit einer inhaltlichen Entleerung eine Moralisierung des Protestantismus enorme Schubkraft. Ein letzter Grund und ein erstes Prinzip haben aber wenig, ja wohl gar nichts mit dem Gott Abrahams, mit dem Geist Gottes oder dem erwarteten Messias zu tun. Philosophen singen nicht.

Als Resultat sind die Kirchen weder in der Lage, die Krisen in und mit ihrer Umgebung angemessen zu erfassen, noch in der Lage, die eigene theologische Krise wahrzunehmen.

Im Weltabenteuer Gottes leben

Подняться наверх