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3.2Wer erfasst die Zeit und ihre elementaren Kräfte?

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Die Vorstellung, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken gefasst« (Georg Friedrich Hegel), mag für die Vergangenheit zutreffend gewesen sein. In der multimedialen Erzählmaschinerie der gegenwärtigen Mediengesellschaften ist diese Vorstellung mit mehr als einem Fragezeichen zu versehen. Sie gilt nur in engen Grenzen. In der schwebenden Leichtigkeit des »als ob«, des »dort« und »kurzzeitig« Realen tauchen Menschen in Erzählwelten ein. Diese Welten sind dichtbevölkert von Wesen, bei denen die religiösen Aufklärer laut reklamieren: »Kann man nicht mehr glauben!« Aber was heißt hier glauben? Auch im niederschwelligen Realitätsmodus des »Als ob« des Fiktiven stellen Menschen dar und eignen sich Menschen an, was sie für »wirklich wirklich« halten.

Die medialen Erzählungen geben Mächten und Kräften einen Ausdruck. Wir beschreiben, formen, zähmen und entfesseln in Erzählungen die Mächte und Kräfte, denen wir erlauben, durch uns zu leben. Darum lebt in den Geschichten der Gewalt und ihrer Überwindung, in den Geschichten von Schuld und Rache, von der Suche nach Glück und der Erfahrung von Tragik die mythische Religion. Fern der im Gespräch entfalteten und in Schrift gefassten Vernunft lebt hier in der Kommunikation von Emotionen und im Medium bewegter Bilder die Religion der Dichter. Es ist diese Religion, für die der Philosoph Platon und viele christliche Theologen bis in die Gegenwart hinein nur Verachtung übrighatten. Der vielstimmige Chor der mythischen Religion ist äußerst polyphon. Moderne Gesellschaften sind in gesteigertem Maße Schlachtfelder im Kampf der Erzählungen. Wahrheit entscheidet sich meist daran, ob etwas Resonanz findet.

Siege im Kampf der Erzählungen sind nicht blutig, sondern resultieren im Schweigen derer, die nicht mehr erzählen können, weil sie nicht mehr gehört werden. Die moderne Gesellschaft vergisst und entledigt sich bestimmter Geschichten, indem sie aus dem Erzählhaushalt der Gesellschaft verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden. Auf einem Markt begrenzter Aufmerksamkeit und Zeit ersetzt Verdrängung Zensur. Was nicht kommuniziert wird, ist nicht mehr real. Säkularisierung ist auch der Problemtitel für die Niederlage der Kirchen im Kampf der Erzählungen.

Mit diesen Skizzen zu den multimedialen Erzählungen mythischer Religion soll nicht irgendeine Populärreligion auf den Sockel gehoben werden. Es ist wenig gewonnen, wenn sich Theologen der mythischen Erzählmaschine an den Hals werfen. Es soll auch nicht die so abenteuerliche wie triviale These vertreten werden, es gehe halt überall um »Sinn«. Es geht auch nicht um die denkerische Banalität, hier werde überall irgendeine »Transzendenz« erfahrbar. Auch der laute Ruf nach einer narrativen Theologie würde zu kurz greifen. Sicher ist nur: Dort finden sich mehr die aktuellen Herausforderungen für die Theologie als in den neuesten Publikationen von Jürgen Habermas, Alain Badiou oder Judith Butler. Eine ausschließlich dem Typus philosophischer Theologie folgende christliche Theologie findet in ihrer Zeit nur philosophische Herausforderungen. Sie ist weitestgehend blind für die Kräfte und Mächte, die in der Erzählmaschinerie dargestellt und sich angeeignet werden. Die aufgeklärte Theologie tappt damit in die Falle der Selbstüberschätzung der Philosophie und wird am Ende auch deren weitgehende Verachtung für das verrückte, unvernünftige, unmoralische und irgendwie irre Geschehen der mythischen Erzählmaschine teilen. Aber genau dort wird verhandelt: Wem ist zu vertrauen? Was sind die elementarsten Bilder für das Leben? Kampf? Solidarität? Liebe oder die Kombination aus Gruppe und Kampf? Wer setzt sich durch? Die Opfer oder die Täter, oder die Täter, die sich zum Opfer erklären? Siegt das Gute oder das Böse? Gibt es Gerechtigkeit? Und wenn ja, für wen, wo und wann? Gibt es Gutes, das nicht auch böse ist? Was ist in diesem Leben »wirklich wirklich«? Kann man dem Leben trauen? Wird es am Ende gut ausgehen oder lebt es sich unter dem Schatten der Tragik entspannter?

Im Weltabenteuer Gottes leben

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